Kampf im Verlies

Sie waren jetzt seit vier Tagen gefangen, und Jette erschien es wie eine Ewigkeit. Das Geräusch der fahrenden Hebebühne hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie würde es unter Tausenden wiedererkennen. Dabei hatten sich die Entführer gar nicht so häufig blicken lassen. Nur ein paar Mal. Aber das hatte völlig gereicht. Zuerst, wenn der Motor angelassen wurde, knatterte er immer etwas. Dann war es für den Bruchteil einer Sekunde still. Im nächsten Augenblick setzte lauter Motorenlärm ein. Wenn der Korb schließlich fuhr, klackte es in regelmäßigen Abständen. So als laufe er über schlecht verarbeitete Schweißnähte. Nach dem neunten Klack erreichte er sein Ziel, entweder den Hochstand oder den Erdboden.

Klack, klack, klack. Es war wieder so weit. Jette stand in einer Ecke der Plattform und schaute angestrengt in Richtung des Geräuschs. Neben ihr lehnte Jonah an der Wand. Sieben, acht, neun. Jette zählte mit. Jetzt tauchte der Korb am Rand des Hochstandes auf. Wie ein heraufschwebender Helikopter. Sie spürte eine leichte Erschütterung in den Holzplanken, und die Hebebühne setzte an. Die Männer sprangen heraus. Sie waren wie immer zu zweit, und wie an den vorherigen Tagen hatten sie schwarze Mützen über ihre Köpfe gezogen. Unterziehmützen, wie man sie für Motorradhelme nutzte, nur dass sie bis zu den Augen gingen. Die Männer brachten Lebensmittel und ein paar andere Sachen vorbei und nahmen kaum Notiz von ihnen. Jette spürte, dass ihre Hände sich verkrampften. Hoffentlich sind sie gleich wieder weg, dachte sie. Jonah rückte näher an sie heran. Er hatte sich verändert. Er versuchte, für sie da zu sein. Von seiner Weinerlichkeit am Anfang der Gefangenschaft war nichts mehr zu spüren. Er schien sich entschieden zu haben, standhaft durch das Abenteuer zu gehen, und es gelang ihm gut. Fast zu gut. Er wirkte bisweilen irgendwie unnahbar, und manchmal kam es Jette vor, als sitze ein Fremder neben ihr. Sie erkannte Jonah kaum wieder.

Bereits in der Nacht nach ihrem Streit war er sehr souverän gewesen. Sie hatte sich wütend allein in eine Ecke des Hochstandes zum Schlafen gelegt. Irgendwann in der Nacht war sie wach geworden. Der Mond und die Sterne hatten das Tropenhaus in ein silbernes Licht getaucht, sodass es ziemlich hell gewesen war. Jonah lag weit entfernt auf seiner Isomatte und schlief. An seinem Hals saß eine Fledermaus. Im ersten Moment dachte sie an eine Täuschung. Aber je genauer sie hinschaute, desto deutlicher zeichnete sich der sehnige, dunkle Körper des Tieres vor seiner hellen Haut ab. Die Fledermaus hing an seinem Hals. Als Jette das dünne Rinnsal Blut gesehen hatte, war sie so entsetzt gewesen, dass sie geschrien hatte. Es war ein gellender, unkontrollierter Schrei gewesen. Wenn Wim Tanner im Anmarsch war, konnte sie sich auf seine Brutalität einstellen und war gewappnet. Aber der Biss der Fledermaus hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Jonah war wach geworden und die Fledermaus davongeflogen. Er war zu ihr herübergekommen und hatte gefragt, was passiert war. Er hatte das Tier gar nicht bemerkt. Als er nach seiner Wunde tastete, war er nicht einmal sonderlich beunruhigt. Die Fledermäuse gehörten Wim Tanner, sagte er, sie seien im Prinzip harmlos. Offenbar lebten sie jetzt auch im Tropenhaus. Jonah hatte sehr ruhig gesprochen, und Jette hatte sich mit jedem Wort, was er sagte, sicherer gefühlt. Er schien sie vor der Fledermaus zu beschützen, obwohl das Tier doch ihn gebissen hatte und nicht sie. Er hatte vermutet, dass die kleine Wunde in ihrer Armbeuge ebenfalls von einer Fledermaus stammen könnte, denn er hatte sich an eine Unterhaltung zwischen Wim Tanner und Dr. Saalfeld erinnert, die Dukie und er belauscht hatten. In dem Gespräch war die Rede davon gewesen, dass Wim Tanner eine Fledermaus »auf sie angesetzt« hatte. Jette konnte dazu nichts sagen. In jener Nacht am See hatte sie tief und fest geschlafen.

Einer der Männer stellte jetzt eine Schüssel mit neuem Waschwasser auf den Tisch. Er machte sich nicht die Mühe, die Fläche freizuräumen. Prompt schwappte etwas von dem Wasser auf die Bücher, die dort lagen. Die Entführer hatten ihnen irgendwelchen aussortierten Quatsch mitgebracht. Sachbücher über Buchhaltung, Architektur und Elektrizität. Keinen einzigen Roman. Und alles ziemlich alte Schinken. Weil es nichts anderes gab, hatte Jette schließlich doch in die Bücher hineingeschaut und Jonah sogar einige Stellen vorgelesen. Der andere Mann stellte jetzt auch noch eine Papiertüte mit Lebensmitteln in die Wasserpfütze. Na super, dachte Jette. Wenigstens nahm er die kleine Stehlampe vom Tisch, die sie für das Verlies bekommen hatten. Sonst wäre die wohl auch noch nass geworden. Mit der Lampe hielt Jette es im Verlies inzwischen einigermaßen aus. Allerdings konnte man sie nie für längere Zeit anmachen, weil es nur eine einzige Steckdose gab und die Luft schon nach wenigen Minuten schlecht wurde, wenn das Gebläse nicht lief.

Jette strich sich den Schweiß von der Stirn. Im Tropenhaus herrschte inzwischen Dschungelklima. Den Pflanzen, die nach und nach angeliefert worden waren, tat die Hitze gut, ihr und Jonah nicht. Anfangs hatten sie noch versucht, sich mit Turnübungen fit zu halten. Aber die schwüle Luft führte bei den geringsten Anstrengungen zu Schweißausbrüchen, und so ließen sie es irgendwann bleiben.

Weiter hinten im Tropenhaus breitete sich bereits ein dichter Wald aus Palmen, Lianen und unbekannten Dschungelpflanzen aus. Der Wald wurde in ganzen Stücken geliefert, mitsamt Erde, und musste nur in den Boden gelassen werden. Es war sicher eine ganze Kolonne Arbeiter unterwegs. Aber Jette und Jonah hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Wenn im Tropenhaus gearbeitet wurde, sperrten die Entführer sie in das Verlies.

Einer der Männer bückte sich jetzt nach der Schüssel mit dem alten Waschwasser, die noch unter dem Tisch stand. Und dann passierte es. Ratsch. Der Mann richtete sich auf und stand plötzlich unmaskiert da. Seine schwarze Mütze war in der Mitte zerrissen. Vielleicht war sie an einem Nagel hängen geblieben. Jette erkannte ihn sofort. Es war der Mann, der sich als Mitarbeiter des Roten Kreuzes ausgegeben hatte und sie bis ins Stadion verfolgt hatte – Wim Tanner, wie Jonah ihn genannt hatte. Durch die platt gedrückten Haare wirkte sein Gesicht noch etwas kantiger, als sie es in Erinnerung hatte. Er warf die Mütze wutentbrannt auf den Boden. »Jo«, flüsterte Jette, »Wim Tanner hat seine Maske verloren.«

»Du weißt also auch, wie ich heiße?«, blaffte Wim Tanner sie an. Sie hatte leise gesprochen, aber offenbar nicht leise genug. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt. Drohend kam er auf sie zu. »Hältst dich wohl für besonders schlau?«, fauchte er und baute sich vor ihr auf. Jonah rutschte näher an sie heran. »Dein Pech«, sagte Wim Tanner und packte sie am Kinn. Sie spürte seine kaum beherrschte Aggressivität. Er quetschte ihr den Kiefer. Sie gab keinen Laut von sich. Jonah musste es trotzdem gemerkt haben – an ihrem Atem, der Versteifung ihres Körpers. Er suchte mit seinen Händen nach dem Ort der Handlung und stieß auf Wim Tanners Hand. Er drückte sie bestimmt zur Seite, und Wim Tanner ließ es einfach geschehen, so abgelenkt war er von dem neuen Problem, das er jetzt hatte. Wie ein wild gewordenes Tier begann er auf dem kleinen Hochstand auf und ab zu laufen. In der schwülen Hitze wurde sein T-Shirt sofort schweißnass. Hin und wieder unterbrach er seinen Lauf und spuckte kurze Sätze vor ihnen aus.

»… selber schuld …«

»… Was müsst ihr auch die Erwachsenen belauschen …«

»… und jetzt noch das …«

»… Wenn’s nach mir ginge, hätte ich euch sowieso die ganze Zeit im Verlies gelassen. Gibt nur Ärger, wenn ihr hier draußen seid.«

»… Denkt bloß nicht, wir würden euch noch laufen lassen.«

»… Ihr wisst zu viel …«

» … Stellt euch drauf ein …«

»… Glaubt bloß nicht, dass euch hier jemand findet …«

»… Hab keine Ahnung, warum Kai Saalfeld immer noch zögert …«

Schließlich blieb er vor ihnen stehen. Er griff in Jettes Haare, drückte sie zu Boden und raunte ihr ins Ohr: »Der Code ist fast entschlüsselt.« Brutal riss er ihren Kopf in die Höhe und blickte ihr in die Augen. »Und dann bist du fällig.« Sein Gesicht war wutverzerrt. Er gab ihr einen unsanften Stoß, und sie fiel hart zur Seite. Aber da stand Jonah und fing sie auf.

Wim Tanner drehte sich um und ging zur Hebebühne. Sein Komplize, immer noch maskiert, wartete bereits ungeduldig. Dann waren sie weg.

Jette ließ sich auf den Boden sinken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Kiefer schmerzte. Jonah setzte sich neben sie. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. So saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander, Körper an Körper, ohne sich weiter zu berühren. Hier auf dem Hochstand hatte Jonah sie überhaupt nur einmal berührt. Das war in der Nacht gewesen, als die Fledermaus ihn gebissen hatte. Da hatte er sie in den Arm genommen und über ihre Wange gestreichelt. Im ersten Moment hatte es sie getröstet. Aber dann hatte sie sehr deutlich seine rissigen Finger auf ihrer Haut gespürt und seine Wärme wahrgenommen. Sie war plötzlich so irritiert gewesen, dass sie abrupt aufgestanden war.

»Vielleicht will er uns umbringen«, sagte Jette jetzt.

Jonah nickte langsam.

»Wir müssen etwas tun.«

Er nickte wieder.

»Hast du eine Idee?«, fragte sie.

»Ja.«

»Das ist gut«, sagte Jette.

Jonah holte eine Wasserflasche und die Tüte mit dem Essen. Sie tranken hastig. Dann reichte er ihr ein Käsebrötchen. Einen Apfel hätte ich noch gern, dachte Jette. Aber in der Tüte waren nur noch Brötchen. Sie nahm sich noch eines und aß es schweigend auf. Dann fragte sie: »Und was hast du für eine Idee?«

»Wir überwältigen die Entführer. So bald wie möglich.«

Sie schaute ihn zweifelnd an. »Du?«

»Nein, du«, sagte er.

»Aha«, sagte sie. »Beide Männer?«

»Ja.«

»Das ist nicht so einfach.«

»Wir brauchen natürlich einen Plan.«

»Und du hast einen?«

»Ja«, wiederholte Jonah. Der Plan war abenteuerlich. Und riskant. Aber ihr war schnell klar geworden, dass er funktionieren konnte. Das Problem war allerdings: Sie hatten nur einen Versuch. Sie hatten nur eine Chance. Ihre Waffen waren die kleine Lampe und das Campingklo. Sie würden es gleich beim nächsten Mal machen, wenn die Entführer kamen. Wer wusste, wie viele Gelegenheiten sie noch haben würden? Sie mussten die Entführer überwältigen, ihnen die Revolver abnehmen, sie in das Verlies sperren, sich ihre schwarzen Mützen überziehen, sich unerkannt hinunterfahren lassen und dann abhauen. Nicht mehr und nicht weniger. Sie gingen den Plan in allen Einzelheiten durch. Unzählige Male. Sie übten jeden Handgriff. Besprachen das genaue Timing. Versuchten an alle Unwägbarkeiten zu denken. Dann waren sie fertig. Es war inzwischen später Nachmittag, und sie konnten jetzt nur noch warten.

»Hast du Angst?«, fragte Jette. Sie wollte Jonah aus der Reserve locken. Für ihren Geschmack war er mittlerweile etwas zu cool.

Er nickte leicht, kniff dabei aber seine Lippen auf eine Art zusammen, an der Jette sofort merkte, dass sie nicht weiterfragen sollte. Er mochte solche Fragen nicht.

»Und du?«, fragte er.

»Ja, doch.«

Nach einer Weile fragte Jonah in die Stille hinein: »Schere, Stein, Papier?«

»Okay«, sagte Jette.

»Schere, Stein, Papier!«, sagten sie gleichzeitig und zeigten sich ihre Hände.

»Du hast gewonnen«, sagte Jette. »Noch mal.«

»Schere, Stein, Papier!«

»Wieder du«, sagte Jette.

»Du lügst«, sagte Jonah.

»Hast recht.«

»Du lügst schon wieder.«

»Stimmt«, sagte Jette.

Sie spielten schon lange nicht mehr nach den normalen Regeln. Diese waren schnell langweilig geworden. Anfangs hatte Jette Jonah einfach gesagt, was sie mit ihren Händen zeigte, weil er es ja nicht sah. Aber nach den ersten Spielen nahm sie es mit der Wahrheit nicht mehr so genau, und Jonah fand Gefallen daran, herauszufinden, wann sie log und wann nicht. Er lag erstaunlich oft richtig. Zuletzt hatte er keinen einzigen Fehler mehr gemacht. Über dem Spiel lag ein eigenartiger Zauber. Jette hatte Jonah nicht gesagt, dass er inzwischen immer richtig tippte, und er konnte es ja eigentlich nicht wissen. Jette würde es brennend interessieren, wie Jonah das machte, aber er verriet es ihr nicht.

Plötzlich krachte es hinten im Tropenhaus, und Jette zuckte erschrocken zusammen. Klar, das waren die Affen. Aber sie merkte an ihrer Reaktion, wie nervös sie war.

Die Affen waren gestern Abend gebracht worden. Ein Haufen aufgeregt quietschender und brüllender Tiere. Sie konnten es nicht fassen, dass sie sich jetzt in einem riesigen Affenhaus befanden. Jonah wusste sogar, dass es Nasenaffen waren. Sie kamen direkt aus dem Dschungel von Borneo, zusammen mit dem Wald. Dr. Saalfeld hatte sie mit eingekauft.

Jette stellte sich an das Geländer und blickte zu den Tieren hinüber. Sie waren leider zu weit weg, als dass sie sie gut hätte erkennen können. Nur hin und wieder sah Jette für den Bruchteil einer Sekunde ein Tier waghalsig durch die Luft springen. Mal landete es sicher an einem Ast, mal krachte es durch den Blätterwald zu Boden.

Sie setzte sich wieder neben Jonah. Er strich ihr über die Wange. »Darf ich dich mal was fragen?«, sagte er.

»Klar.«

»Glaubst du eigentlich, dass du dieses Gen hast?«

Jette lachte. Diese Frage hatte sie sich noch nicht gestellt. »Ist doch egal. Würde das irgendwas ändern?«

»Nein«, sagte Jonah. »Aber ist doch interessant, oder?«

»Ja, super interessant«, sagte sie schnippisch. »Vor allem das Leben hier auf diesem Hochsitz.«

»Interessiert es dich denn gar nicht?«

»Ich bin nicht gern Versuchskaninchen.«

»Ist mir schon klar. Aber mal so allgemein betrachtet.«

»Jo«, sagte sie ernst, »ob mit oder ohne Gen, das macht doch keinen Unterschied. Das ändert doch gar nichts. Es ist mir wirklich egal.«

Jonah sagte nichts. Neben ihm lag die kaputte Mütze, die Wim Tanner auf dem Hochsitz liegen gelassen hatte, und Jonah begann, damit herumzuspielen. Er hob sie mit den Zehen seines rechten Fußes auf und gab sie dann an den linken Fuß weiter. Kleine Kunststücke hatte er immer schon gut gekonnt. Nachher bei der Flucht sollte er sich die Mütze überziehen. Und Jette die Mütze des anderen Entführers. Der Mann unten an der Hebebühne würde sie hoffentlich zumindest von Weitem für Wim Tanner und seinen Komplizen halten und sie herunterfahren. Wie es dann weitergehen würde, wenn sie unten ankämen, wussten sie noch nicht genau.

Jette angelte mit den Händen nach der Wasserflasche. Schon die kleinste Bewegung in der schwülen Luft war anstrengend. In der Ferne schlug eine Tür zu. Jonah zuckte zusammen. Jette blieb reglos mit der Flasche in der Hand sitzen. Sie lauschten. Jemand war im Tropenhaus, aber er schien nicht zu ihnen hochzukommen. Wahrscheinlich war es Wim Tanner oder ein anderer Aufpasser, dachte Jette. Sonst hätte man sie längst ins Verlies gesperrt. Jonah nahm sein Spielchen wieder auf. Er sah komisch aus, wie er so dasaß. Weniger wegen des schwarzen Stofffetzens zwischen den Zehen als wegen der Kleidung, die er trug. Die Sachen hatte Wim Tanner ihm gebracht. Ihre alte Kleidung war völlig verdreckt gewesen. Jonahs neue Hose war viel zu weit, und er musste sie in regelmäßigen Abständen hochziehen. Einen Gürtel hatte Wim Tanner ihm nicht spendiert. Die Hose war aus einem billigen Jeansstoff, mehr Stoff als Jeans, und Jonah hatte die Hosenbeine wegen der Hitze hochgekrempelt. Seine Beine waren leicht gebräunt. Die vielen hellen Härchen glitzerten in der Sonne. Männerbeine, dachte Jette. Am Oberkörper trug er, wie um einen Kontrast zu der weiten Hose zu schaffen, ein viel zu enges T-Shirt. Es war in einem dezenten Grau, spannte aber über dem gesamten Oberkörper. Es war definitiv einige Nummern zu klein. Immerhin sah man, dass Jonah gut gebaut war. Jette hatte ihm gesagt, er könne das T-Shirt wegen der Hitze ruhig ausziehen. Aber er wollte nicht. So wie er jetzt dasaß, zeichneten sich sein Bauchnabel und seine Brustwarzen deutlich unter dem engen Stoff ab. Das T-Shirt zeigte mehr, als es verbarg. Wie immer trug Jonah seine Sonnenbrille. Einmal hatte sie an einem Morgen seine Augen gesehen. Er war gerade aufgewacht und hatte nach seiner Brille getastet. Sie waren blau. Dunkelblau. Auf den ersten Blick hatten sie ganz normal ausgesehen. Aber dann hatte sie gemerkt, dass sich die Augen nicht synchron bewegten, so als schielte er. Sie hatte das Gefühl gehabt, etwas Verbotenes zu tun, und sich schnell schlafend gestellt.

»Weißt du eigentlich, was ich anhabe?«, fragte sie.

»Nein, Jella«, sagte Jonah amüsiert.

Jella. Sie mochte diesen Namen. Jonah benutzte ihn nicht oft. Aber wenn er ihn in den Mund nahm, hatte sie das Gefühl, jemand anderes zu sein. Als führte sie noch ein zweites, geheimnisvolles Leben im Verborgenen.

»Soll ich’s dir sagen?«

»Unbedingt.«

Sie schaute an sich hinunter. Auch sie war in den Genuss der Wim Tanner’schen Kleiderwahl gekommen. Ihre eigene Kleidung konnte sie beim besten Willen nicht mehr anziehen. Und Wim Tanner weigerte sich, sie in die Reinigung zu bringen. Die Sachen, die sie jetzt trug, stammten mit Sicherheit aus einem Textildiscounter. Wahrscheinlich für 2,45 Euro das Stück.

»Also, ich bin sehr adrett«, sagte sie gedehnt.

Jonah zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Eine Bluse mit Puffärmeln.«

»Okay«, sagte er mit viel Mitgefühl in der Stimme.

»Ich hab sie ganz zugeknöpft, bis oben.«

»Brav.«

»Aber beim Anziehen ist eine Naht gerissen. Das ist total schlechte Qualität. Und jetzt ist die Bluse an der Seite etwas offen.«

»Aha.«

»Außerdem hab ich einen Hosenrock an«, sagte Jette.

Jonah sagte nichts.

»Ich hasse Hosenröcke«, brach es aus ihr heraus.

»Was ein echter Folterknecht ist …«, flapste Jonah. »Wahrscheinlich hat Wim Tanner tagelang nichts anderes getan, als einen Hosenrock für dich zu suchen.«

Die Tür des Führerhäuschens der Hebebühne wurde geöffnet. Dann zugeschlagen. Jette spürte, wie sie sich verkrampfte. Locker bleiben, murmelte sie. Aber sie konnte es nicht vermeiden, dass sie dachte: Sie kommen.

»Der Hosenrock hat nicht mal einen Knopf«, sagte sie laut.

»Sondern?«

»Einen Klettverschluss!!«

Der Motor wurde angelassen. Er knatterte. Dann eine Pause. Jetzt setzte der Motorenlärm ein. Und wenn er kam, um seine Drohung wahr zu machen? Hatten sie ihren genetischen Code wirklich schon entschlüsselt? Was hatten sie mit ihr vor? Ob sie ihr etwas antun würden? Jettes Kehle war wie zugeschnürt. Sie blickte zu Jonah. Der warf gerade verzweifelt die Arme in die Höhe und rief mit lauter Stimme: »Diese Grausamkeit! Ein Klettverschluss!« Dann ließ er seine Hände wieder sinken und riss sich mit einer theatralischen Geste den Knopf an seiner Hose ab. »Hier, nimm dies!«, sagte er und überreichte ihr feierlich einen silbern blinkenden Knopf.

Klack, klack, klack.

Jette ging auf Jonahs Spiel ein. Er hatte wirklich gute Nerven. Auch er musste nervös sein, aber ihm war überhaupt nichts anzumerken. Sie waren zwar gefangen, aber in diesem Moment auch frei – zumindest auf eine gewisse Weise, denn niemand konnte ihnen vorschreiben, was und wann sie spielten. Sie senkte huldvoll ihren Kopf. »Habt Dank«, sagte sie, begutachtete den Knopf gründlich von allen Seiten und ließ ihn in der Tasche ihres Hosenrocks verschwinden. Ihr Herz klopfte. Gleich würde sie die Entführer angreifen.

»Ich sehe neues Ungemach!«, warnte Jonah und hob seinen Kopf gen Himmel. »Wim Tanner naht. Er hat neue Folterwerkzeuge dabei. Furchtbare Dinge!«

Die Hebebühne setzte an.

»Was ist es?«, wollte Jette wissen. Sie lachte. Es war ein gepresstes, jedoch dankbares Lachen. »Sagt schnell.«

»Ein Kleid mit riesigen Blumen und weißem Spitzenkragen und vorn mit einer weißen Schleife. Natürlich eine Nummer zu klein. Und es riecht nach Mottenkugeln. Und …«

Wim Tanner sprang auf die Plattform und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, eine Maske überzuziehen. »Ins Verlies!«, brüllte er. Sein Begleiter kam hinter ihm her. Jette stellte sich das altbackene Spitzenkleid in seinen Armen vor, und da wirkte Wim Tanner gar nicht mehr so bedrohlich. Sie fühlte sich auf einmal sehr stark.

»Viel Glück«, sagte Jonah leise.

Wim Tanner nahm die Fernbedienung in die Hand. Jette stellte sich neben ihn. Er warf ihr einen irritierten Blick zu, ließ sich aber nicht weiter stören. Ohne die Tastatur mit den Händen abzudecken, gab er den Befehl zum Öffnen der Tür ein. Er drückte auf eine einzige Taste. Jette konnte es genau sehen. Sie trug das Zeichen . Dann schwang die Tür auf. Wim Tanner steckte die Fernbedienung wieder ein. Vordere Hosentasche rechts, registrierte Jette.

Sie nahm die kleine Lampe vom Tisch und krabbelte durch die niedrige Tür in das Verlies. Die Luft im Innern war kühl, aber abgestanden. Der Ventilator lief. Von draußen fiel ein schwacher Lichtstrahl herein. »Schneller, schneller!«, drängte Wim Tanner, ohne selbst beim Hereintragen der Sachen zu helfen. Jonah reichte Jette die beiden Isomatten. Sie legte sie in die Ecke des Verlieses, wo die Steckdose war. Das Licht reichte gerade aus. Dann stellte sie die kleine Lampe auf die Isomatte, stöpselte den Ventilator aus und die Lampe ein.

Die Lampe sah aus wie immer. Geradezu unschuldig, fand Jette. Dabei musste sie jetzt unter Strom stehen. Und zwar das gesamte Gehäuse. Sie hatte gut aufgepasst, die Lampe nicht mehr zu berühren, nachdem sie den Stecker eingesteckt hatte. Es war Jonahs Idee gewesen, die Lampe zu manipulieren, und sie hatten sie am Nachmittag in die Tat umgesetzt. Er hatte sich an eine Passage erinnert, die Jette ihm aus dem Elektrizitätsbuch vorgelesen hatte. Mit dem Wissen aus dem Buch hatten sie die Lampe tatsächlich umbauen können. Hoffentlich hatten sie alles richtig gemacht. Es war kompliziert gewesen. Jette hatte sich zunächst aus einem Draht von der Chemietoilette eine Art Schraubenzieher gebastelt und die Lampe aufgeschraubt. Dann hatte sie im Innern der Lampe zwei wichtige Kabel vertauscht: Der Strang, der normalerweise den Strom von der Steckdose zur Glühbirne transportiert, führte jetzt direkt auf den Metallrahmen. Es handelte sich um eine Manipulation, die lebensgefährliche Folgen haben konnte.

Jette und Jonah hatten sich lange überlegt, ob sie den Tod eines der Entführer in Kauf nehmen sollten. Und sich dann dagegen entschieden. Sie konnten es sich einfach nicht vorstellen, einen Menschen zu töten. »Hoffentlich bereuen wir das nicht«, hatte Jonah gesagt. Aber Jette war froh, dass sie sich so entschieden hatten. Die Isomatte, auf der die Lampe stand, würde dem Mann das Leben retten. Er würde auf der Isomatte stehen, wenn er die Lampe anfasste, und die Gummiunterlage unter seinen Füßen würde verhindern, dass der Strom endlos durch ihn hindurchfließen konnte. Gummi leitete nicht. Auch das hatten sie aus dem Buch erfahren.

Hoffentlich reicht der Stromschlag aus, um ihn lange genug auszuschalten, dachte Jette. Sie griff in die Tasche ihres Hosenrocks. Dort war ihre zweite Waffe versteckt. Ein kleines, dickbäuchiges Plastikfläschchen mit WC-Reiniger. Es stammte aus der Campingtoilette und war im Innern der Kloschüssel befestigt gewesen. Nach jedem Spülvorgang sonderte es etwas von seinem Inhalt ab. Jette hatte das Fläschchen abmontiert und sich dabei tief über die Kloschüssel beugen müssen, was ziemlich eklig gewesen war. Und dabei hasste sie dieses Campingklo sowieso schon. Denn auch wenn Jonah blind war, fand sie es unerträglich, es in seiner Anwesenheit benutzen zu müssen. Jetzt aber war sie froh über das mobile Chemielabor. Wenn sie auf den Bauch des Fläschchens drückte, spritzte oben eine stechend riechende Flüssigkeit heraus.

»Wird das heute noch was?«, brüllte Wim Tanner von draußen.

Jette ging zur Türöffnung. »Die Lampe funktioniert nicht«, sagte sie.

Wim Tanner zuckte mit den Schultern.

»Bitte«, sagte Jette, »schauen Sie doch mal nach.«

Keine Reaktion.

»Bitte«, sagte Jette flehend und blickte Hilfe suchend den anderen Mann an, der immer noch eine schwarze Mütze trug. Er schien zu überlegen. Dann setzte er sich in Bewegung.

Jette verschwand wieder in dem engen Verlies. Das Wichtigste war das Timing. Sie musste beide Männer gleichzeitig ausschalten. Sie stellte sich vorn in die Ecke neben dem Eingang, wo es am hellsten war. Dann rief sie laut »Uäääh!« und versuchte, möglichst viel Ekel in ihre Stimme zu legen. »Hier liegt eine Fledermaus. Die bewegt sich sogar noch.«

Wim Tanner und sein Komplize drückten sich fast zeitgleich durch die niedrige Tür in den Raum. »Wo?«, fuhr Wim Tanner sie barsch an.

»Hier«, sagte Jette und zeigte in die Ecke.

Wim Tanner kam näher. Der andere Mann, dessen Bewegungen sie aus dem Augenwinkel verfolgte, erreichte gerade die Isomatte. Wim Tanner stand jetzt direkt neben ihr und bückte sich. Der andere führte seine Hand zum Lichtschalter. Jette hörte das Knipsen des Schalters, dann einen leisen Knall, kurz darauf die Stimme des Mannes: »Au! Scheiße!« Dann war es einen Augenblick still. »Tja, Kurzschluss«, sagte der Mann ungerührt. »Kann man nichts machen.«

Keine Schmerzensschreie. Der Mann sank auch nicht zu Boden. Das durfte doch nicht wahr sein! Jette griff nach dem Fläschchen in ihrer Hosentasche. Ihre Hände zitterten.

Wim Tanner sah auf. Ihre Blicke trafen sich. »Wo ist denn jetzt die Fledermaus?«, herrschte er sie an. Von draußen war Jonahs zaghafte Stimme zu hören: »Alles okay?«, fragte er.

»Ja«, murmelte Jette. Sie zog das Fläschchen aus der Tasche, hob es hoch und spritzte die Flüssigkeit direkt in Wim Tanners Gesicht. Erst in das eine Auge, dann, ohne den Strahl zu unterbrechen, in das andere.

Wim Tanner war zu überrascht, um schnell genug zu reagieren. Er stand da, als bekäme er beim Arzt Augentropfen verabreicht. Jette sah, wie sich der WC-Reiniger im Innern seiner Augen verteilte. Er bildete kleine Blasen, die lautlos aufplatzten. Und da fing Wim Tanner an zu schreien. Es klang wie die Schmerzensschreie eines verletzten Tieres. Er fuhr sich mit seinen Händen an die Augen, rieb sie panisch, drückte seine Finger tief in die Höhlen, riss sie wieder von seinem Gesicht fort, führte sie zurück. Der andere Mann kam herbeigeeilt.

Durch die Schlitze der Maske konnte Jette sehen, wie der Mann erst auf Wim Tanner blickte, der gerade zu Boden sank, und dann auf sie. Jette hob das Fläschchen und spritzte noch einmal. Rechts. Links. Ein kurzer ungläubiger Blick, dann auch hier Schmerzensschreie. Der Mann riss sich die Maske vom Gesicht. Er war blond. Der Eisverkäufer. Es wunderte sie nicht. Der Mann rieb sich mit beiden Händen die Augen. Kraftlos lehnte er sich an die Wand. Jetzt brauchte sie schnell die Fernbedienung. Jette beugte sich zu Wim Tanner hinunter, griff entschlossen in seine Hosentasche und zog die Fernbedienung heraus. Wim Tanner wand sich auf dem Boden vor Schmerzen. Er schrie immer noch. Es hörte sich entsetzlich an, denn die Wände des engen Verlieses warfen sich den Schall gegenseitig zu. Der Revolver, durchzuckte es das Mädchen plötzlich. Wim Tanner hatte ihn an einem Bauchgurt befestigt. Jette konnte das Holster, in dem die Waffe steckte, unter dem T-Shirt erkennen. Sie schob das Shirt hoch. Das Holster war geschlossen: eine Schnalle mit zwei Druckknöpfen. Jette riss an den Druckknöpfen herum. Aber sie gingen nicht auf. Die Dinger klemmten. Der zweite Entführer gab ein Wimmern von sich. Jette schnappte sich die schwarze Maske des Blonden, die auf dem Boden lag, und rannte aus dem Verlies.

»Ich hab die Fernbedienung«, sagte sie atemlos.

»Mach die Tür zu«, raunte Jonah.

Jette fand die Taste, die sie gesucht hatte. Der gleiche Pfeil wie vorhin, aber in die andere Richtung. Sie drückte. Nichts geschah. Sie hob die Fernbedienung etwas in die Höhe, richtete sie genau auf den Eingang und drückte erneut, doch wieder passierte nichts. Zitternd probierte sie andere Tasten aus. »Jo«, flüsterte sie, »die Tür geht nicht zu.«