Im Affenhaus

Schlaftrunken tastete Jonah nach dem Wecker. Ob es schon hell war? Sein Kopf schmerzte. Er griff nach rechts, aber da war nichts. Kein Nachttisch. Komisch. Er ließ seine Hand nach unten gleiten und berührte den Boden. Er fühlte Holzplanken. Verwundert stellte er fest, dass er auf einer Isomatte lag. Unter einer Wolldecke. Seine Brille kam ihm zwischen die Finger, und er setzte sie auf. Wo war er? Erst jetzt kam die Erinnerung zurück. Zwei Männer hatten sie im Auto überfallen. Und Carmen hatte für die Männer angehalten. Carmen.

Jonah setzte sich auf und winkelte die Knie an. »Ist hier jemand?«, fragte er vorsichtig. Seine Worte verloren sich in einem weiten Raum. Wo war er hier? Nichts regte sich. Jonah spürte, wie er panisch wurde. Er zählte: »… einundzwanzig, zweiundzwanzig …« Manchmal beruhigte ihn das, aber jetzt schien er ins Bodenlose zu fallen. Jonah, der Astronaut, der sein Raumschiff verloren hatte und orientierungslos im All herumschwebte. Fern aller Menschen. Ohne Schwerkraft. Hitze strömte durch seinen Körper. Dann Kälte. Sein Herz raste. In den ersten Wochen seiner Blindheit hatte er viele solcher Panikattacken erlebt. Als seine Welt plötzlich nur noch aus dem Radius bestand, den er ertasten konnte. Als alles, was über die Reichweite seiner Hände hinausging, in einer dunklen, bedrohlichen Ursuppe zu verschwinden schien.

Ein lautes Krachen ließ Jonah vor Schreck zusammenzucken. Ein Donner. Als das Grollen verebbte, konnte er Regentropfen auf ein Glasdach trommeln hören. Ein Glasdach! Und nicht nur das. Auch an den Seiten traf der Regen auf Glas. War er in einem Gewächshaus? Es roch aber nicht nach Pflanzen, sondern eher nach Holzleim und Fensterkitt, und besonders warm war es auch nicht. Auf jeden Fall musste der Raum riesig sein. Das konnte er an dem Geräusch des Regens hören, der auf weit entfernte Glasflächen traf. Und er selbst befand sich irgendwo in diesem großen Raum. Und zwar irgendwo zwischen Erdboden und Dach, vermutlich in einer Art Zwischengeschoss. Auch das konnte er aus dem Klang der Regentropfen schließen. Außer ihm schien kein Mensch da zu sein. Nun drehte der Wind und trieb die Tropfen stärker von der Seite heran. Mal ertönte ihr Trommeln heller, mal dunkler, dann wurde es wieder vom Rauschen herabströmender Wasserbäche überdeckt. Sein Herz klopfte wieder gleichmäßiger. Das Geräusch des Regens beruhigte ihn.

Ob das Mädchen auch hier war? Sie hieß Jette. Nicht Lina. Er hatte auch noch einen neuen Namen für sie. Seine Hand glitt suchend über den Boden, und er bekam eine zweite Decke zu fassen, ihre Decke. Sie lag neben ihm auf einer Isomatte und schlief. Sie roch nach Erde und Pfefferminz. Das war ihr Geruch. Etwas Himbeergeist schwang noch mit.

Der Regen ließ allmählich nach. Jonah drückte auf die Ansagetaste seiner Uhr. Die vertraute Computerstimme antwortete: »Vier Uhr fünfzehn am Morgen.« Er war erleichtert. Es tat gut, die wichtigsten Koordinaten von Raum und Zeit zu kennen. Vorsichtig strich er über Jettes Decke. Sie lag auf der Seite, ihr Kopf war in seine Richtung gedreht, und die Beine hatte sie etwas angewinkelt. Jonah schob seine Isomatte dicht an ihre. Dann rutschte er mit seinem Kopf an sie heran, bis sie Stirn an Stirn lagen und sich leicht berührten. So blieb er liegen.

»Mach schon«, hatte sie gestern gesagt und seine Hände auf ihr Gesicht gelegt. Er hatte noch nie das Gesicht eines anderen Menschen abgetastet. Warum auch? Die Gesichter der Menschen, die ihm nahestanden, kannte er ja. Und neue Freundschaften hatte er seit dem Unfall nicht mehr geschlossen. Die neuen Klassenkameraden in der Sehbehindertenschule interessierten ihn nicht, und wenn er sonst mit jemandem in Kontakt kam, zum Beispiel mit einer Verkäuferin im Supermarkt, fragte er sie natürlich auch nicht, ob er mal eben ihr Gesicht abtasten dürfe, bevor sie kassierte.

Er hatte sich erst nicht getraut, das Gesicht des Mädchens abzutasten. Aber dann hatte er gemerkt, dass sie leicht zitterte, und das hatte ihn irgendwie sicherer gemacht. An ihrem Gesicht war alles dran gewesen. Mehr konnte er eigentlich nicht sagen, denn er war viel zu aufgeregt gewesen, um sich irgendwelche Besonderheiten einzuprägen. Hatte sie nun eine Stupsnase, weit geschwungene Augenbrauen, eine hohe Stirn? Er wusste es nicht. Nur der Leberfleck war ihm aufgefallen. Der schon.

Ihr Atem war warm und kräuselte sich vor seinem Gesicht. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie atmete gleichmäßig und tief. Er versuchte, seinen Atem dem ihren anzupassen. So blieb er liegen, bis auch er wieder einschlief.

»Jo, wach auf!« Jemand rüttelte an seiner Schulter. »Wo sind wir?«

Jonah schlug die Augen auf. Er war mit der Sonnenbrille eingeschlafen und musste sie erst einmal zurechtrücken. Dann setzte er sich auf. Sie nannte ihn »Jo«. Das gefiel ihm. Es musste inzwischen Tag sein, denn die Sonne schien. Er spürte ihre wärmenden Strahlen. Klar, sie befanden sich schließlich unter einem Glasdach.

»Was ist denn das?« Ihre Stimme klang entsetzt.

»Was?«, fragte er.

»Das!«

»Was denn?«

»An meinem Arm«, flüsterte sie. »Ein neues Pflaster. In der anderen Armbeuge. Da, wo der Biss war.«

»Vielleicht haben sie dir Blut abgenommen«, sagte Jonah langsam. »Als du geschlafen hast.«

»Arschlöcher«, sagte sie tonlos. »Hast du eigentlich unsere Blutproben noch?«

Jonah fasste sich an die Hosentaschen. Sie waren leer. Dann erinnerte er sich, dass er die Röhrchen hinter die Autositze gestopft hatte, als sich die beiden Männer in das Auto gedrängt hatten. Alles war besser, als ihnen das Blut auch noch direkt auf einem goldenen Teller zu servieren, hatte er sich gedacht.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie erneut.

»Sag du es mir, Jella«, antwortete er. »Du kannst sehen.«

»Jella?«, fragte sie.

Er nickte. Ob ihr der Name gefiel? Er würde jetzt gern ihr Gesicht sehen. Eine Weile sagte sie nichts. Dann kam ein unsicheres »Okay«.

»Hast du dein Handy noch?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Und du?«

»Ich hatte meins gar nicht dabei.«

»Hast du sonst irgendwas da, was uns helfen könnte?«, fragte er. »Vielleicht ein Taschenmesser?«

»Nein«, sagte sie. »Nur meine Uhr.«

»Ja, eine Uhr hab ich auch.«

Sie richtete sich auf und fing an, ihm den Ort zu beschreiben. Er musste mehrmals nachfragen, um sich ein Bild machen zu können. Sie befanden sich in einer hohen, weiträumigen Halle aus Glas, vermutlich einem Gewächshaus. Allerdings fehlten noch die Pflanzen. Die Halle war leer. Lediglich ein paar Baustellenfahrzeuge standen herum. Der Boden war tief ausgehoben, wahrscheinlich um ihn später mit Erde aufzufüllen. Am anderen Ende der Halle gab es einen großen Wasserteich. Sie saßen auf einem Gerüst fest, einer Art Hochstand. So wie es Förster im Wald benutzen, hatte Jella gesagt. Aber höher und größer. Sie schätzte die Fläche des Hochstandes auf vier mal fünf Meter. Das alles befand sich in einer Höhe von vielleicht zehn Metern. Zu hoch, um hinunterzuspringen. Hinunterklettern war auch nicht möglich, weil man sich nirgends festhalten konnte. Die Stützpfeiler des Gerüstes waren aus dicken glatten Holzstämmen.

Das Gerüst stand in einer Ecke der Halle. Es hatte eine Holzbrüstung, die ihnen bis zum Bauch ging. An den Wänden war es mit Holz verkleidet. Wie bei einem normalen Hochstand gab es auch eine Öffnung in der Brüstung, um hinein und hinaus zu klettern. Aber keine Leiter. »Pass auf, Jo«, waren ihre Worte gewesen. »Da geht es tief runter.« Auf dem Hochstand befanden sich ein kleiner Tisch, zwei Stühle, einige Wasserflaschen, ein paar Becher und eine Campingtoilette. Durch die Scheiben konnte Jette Wiesen und Felder sehen, in der Ferne einen Zaun.

»Ich glaube, wir sind im Affenhaus«, sagte Jonah schließlich

»Bitte was?«, fragte Jette verdutzt.

»Dr. Saalfeld baut ein neues Tropenhaus. Auf einem Acker neben der Villa. Er will auch eine Kolonie Affen ansiedeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier das Affenhaus ist.«

»Du meinst mit echten Affen?«

Jonah nickte. »Er hat sie schon bestellt.«

»Vielleicht haben wir dann ja bald Familienanschluss«, witzelte Jette. »Morgens erst mal eine Runde Lausen. Dann die Affenbabys hüten. Mittags gemeinsam Bananen essen …« Aber dann wurde sie wieder ernst. Ob ihr Jonah noch einmal erklären könne, worum es eigentlich genau ging? Sie habe das gestern nicht so richtig verstanden. Sie wollte auch wissen, warum dieser Dr. Saalfeld sie nicht wieder freigelassen hatte, nachdem er das Blut ja nun hatte. Gute Frage, hatte Jonah gedacht. Und dann war ihm ganz schlecht geworden, als ihm klar wurde, dass er im Auto womöglich zu viel gesagt hatte. »Dr. Saalfeld hat kein Recht …« Damit hatte er den Entführern zu verstehen gegeben, dass er wusste, wer sie waren, und sich und Jette vielleicht in große Gefahr gebracht.

»Meinst du, die Polizei sucht uns hier?«, fragte Jette.

»Wenn mein Kumpel Dukie ihnen von den abgehörten Gesprächen erzählt, sicher.«

»Wird er es tun?«

»Wenn wir nicht wieder auftauchen, wird er das schon tun.« Jonah hoffte es zumindest.

»Meine Eltern machen sich sicher riesige Sorgen«, sagte Jette.

»Meine auch.«

»Komm«, sagte sie und stand auf. »Sehen wir mal, ob man nicht doch irgendwo runterkommt.«

In diesem Moment machte es Pling. Erst wusste Jonah nicht, ob er sich das Geräusch nur eingebildet hatte, aber dann kam ein erneutes Pling. Wie ein kleines Steinchen, das beim Laufen weggekickt wurde. »Da unten ist jemand«, flüsterte er. Und wie zur Bestätigung wurde jetzt die Tür eines schweren Fahrzeugs geöffnet.

»Guck mal, was da los ist«, flüsterte er.

Jette ging zur Brüstung. Dann flüsterte sie erschrocken: »Drei Männer. Maskiert. Wie Bankräuber. Die haben schwarze Mützen über den Kopf gezogen. Nur an den Augen sind Schlitze. Die Männer stehen an einem …« – sie suchte nach dem richtigen Wort – »… Kranwagen. Direkt am Hochstand. Ein Mann ist schon im Führerhäuschen. Die beiden anderen klettern vorn auf … eine Hebebühne.« Und dann sagte sie: »Ich glaube, die kommen zu uns hoch.«

Ein Motor sprang an.

»Jella, komm«, sagte Jonah. »Setz dich hin.«

Er nahm ihre Hand und wartete. Die Hebebühne fuhr geräuschvoll in die Höhe. Jonah rutschte ein paar Zentimeter nach hinten und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. So fühlte er sich etwas sicherer. Die Hebebühne legte an. Zwei Männer sprangen heraus.

Jonah hörte ihre Schritte und spürte den Lufthauch ihrer Bewegungen, als sie bei ihnen ankamen. Ein harter Ruck, und Jettes Hand wurde aus der seinen gerissen. Er versuchte noch, sie festzuhalten, war aber nicht schnell genug und griff ins Leere. Es schien, als hätte die Dunkelheit um ihn herum sie verschluckt. Als wäre sie in eine andere, für ihn unerreichbare Welt übergetreten. Er hörte, wie sie um sich trat und mit den Fäusten auf einen der Männer eintrommelte. »Lassen Sie mich los!«, fauchte sie.

»Damit kommen Sie nicht durch«, sagte Jonah und merkte sofort, wie lächerlich das klang. Der Satz ging in dem Raum verloren, noch ehe er ihn zu Ende gesprochen hatte. Selbst ein Luftballon, der mit einer Nachricht an der Schnur in den Himmel stieg, hatte etwas Zielgerichteteres. Die Männer antworteten nicht. Sie stießen Jette unsanft auf einen der Stühle.

»Jo!«, rief sie. In ihrer Stimme schwang Angst mit. »Sie wollen mir schon wieder Blut abnehmen!« Sie wehrte sich. Dann zischte ein Schlag durch die Luft. Einer der Männer ließ seine Hand auf Jettes Wange niedersausen – ein Klatschen, als würde jemand rohes Fleisch ausschlagen. Die Wände der Halle warfen den Schall zurück. Jonah spürte den Schlag beinah körperlich. Er stöhnte leise auf. Von Jette war nichts mehr zu hören. Was war mit ihr? Biss sie die Zähne zusammen? Oder war sie etwa ohnmächtig geworden? Jonah hörte das Rascheln von Plastikfolie. Die Männer packten die Utensilien zum Blutabnehmen aus.

Jonah stand auf. Er wollte zu der Gruppe am Tisch gehen. Aber einer der Männer drückte ihn zurück auf die Matte. Es war Wim Tanner. Jonah erkannte ihn sofort. Wie immer roch er nach Fledermäusen und hatte einen leicht pfeifenden Atem. Diesmal würde er sich nicht verplappern. Irgendetwas Metallenes schlug leicht gegen den Tisch. Vielleicht die Schnalle einer Manschette zum Abbinden des Armes. Es schien alles eine Ewigkeit zu dauern. Schließlich packten die Männer ihre Sachen zusammen und verschwanden wieder.

Jette saß auf ihrem Stuhl und wimmerte leise. Jonah spürte Scham in sich aufsteigen. Er hatte sie nicht beschützt. Die Männer hatten sie geschlagen, und er hatte nichts getan. Jette stand auf. Jonah hoffte, dass sie nicht zu ihm käme. Aber genau das tat sie. Sie setzte sich neben ihn, lehnte sich an ihn, doch er war wie gelähmt. Am liebsten wäre er auf der Stelle im Boden versunken. Es war nicht gut, dass er hier war. Hier gehörte ein anderer Junge hin. Einer, der ihr helfen konnte, wenn es darauf ankam. Sie nahm seinen Arm und legte ihn um ihre Schulter. Er ließ es geschehen. Er konnte ihre Tränen riechen. Und Blut. Sie musste im Gesicht bluten. Er schämte sich so.

Es war alles so unwirklich. Vielleicht würde er ja gleich aus einem Traum aufwachen, neben sich ein paar Amarettosoufflés finden und Dukie beim Abhören der Bänder Gesellschaft leisten. Er hatte Jette geraten, nicht zur Polizei zu gehen. Wie naiv er gewesen war, er hatte alles völlig falsch eingeschätzt. Schneewittchen. Der Falke. Ein Schönheitswettbewerb. Alles hatte so etwas Unwirkliches gehabt. Wie in einem Film. Als hätten im Erdgeschoss der Villa Schauspieler ein Stück aufgeführt. Und als Zuschauer griff man schließlich auch nicht in die Handlung ein. Man sollte Traum und Wirklichkeit unterscheiden können, dachte er. Ich habe ja einen völligen Realitätsverlust.

Jette hatte aufgehört zu weinen und saß still neben ihm. »Durst?«, fragte er. Sie nickte. In der Halle war es warm geworden. Sie heizen das Tropenhaus auf, dachte Jonah. Er ging vorsichtig in Richtung des Tisches. Nach vier Schritten stieß er an die Tischkante. Er fand die Wasserflaschen und die Becher und schenkte ein. Sie trank in ruhigen Zügen. Er hätte schwören können, dass sie ihn dabei nicht ansah. Eine unsichtbare Mauer hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Er setzte sich zu ihr, traute sich aber nicht, ihre Hand zu nehmen. Dann hörte er wieder Schritte. Die Männer kehrten zurück. Sie stiegen in den Kranwagen. Jonahs Körper verkrampfte sich. Nicht schon wieder. Hatten sie etwas vergessen? Die Hebebühne fuhr hoch. Obwohl Jette direkt neben ihm saß, schien sie unendlich weit weg zu sein.

Die Männer sprangen auf die Plattform. Sie hatten es eilig. Grobe Hände zerrten sie in die Höhe. »Was wollen Sie von uns?«, fragte Jonah und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. Keiner antwortete. »Der eine hat eine Pistole«, flüsterte Jette. »Und der andere eine Fernbedienung. Er tippt darauf rum.« Ein surrendes Geräusch ertönte. »Die Holzverkleidung fährt zur Seite«, sagte Jette überrascht. »Dahinter ist ein Hohlraum.«

Jonah wurde es heiß. Wieder hatte er das Gefühl, dass ihm die Koordinaten entglitten. Wie konnte hinter der Holzverkleidung ein Hohlraum sein? Er war davon ausgegangen, dass der Hochstand ganz in der Ecke der Halle stand. Wo gab es da noch Platz?

Die Männer stießen sie durch eine niedrige Öffnung in einen Raum, der eigentlich gar nicht da sein konnte. Aber er hatte einen Boden, und Jonah konnte sich sogar aufrichten. Das Gefühl, nicht zu wissen, wo sie waren und was mit ihnen passieren würde, war trotzdem unerträglich. »Einundzwanzig, zweiundzwanzig«, zählte er in Gedanken, um sich zu beruhigen, doch es half nicht viel.

Die Männer warfen alles, was sich auf dem Hochstand befand, zu ihnen hinein, inklusive der Campingtoilette. Dann schoben sie die Tür zu.

»Wo sind wir hier?«, flüsterte Jette. In ihrer Stimme lag die Angst derer, die nichts sehen. Wahrscheinlich war es in dem Raum dunkel. Ein Ventilator brummte leise vor sich hin.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jonah und versuchte, die aufsteigende Panik niederzukämpfen.

»Ich kann nichts sehen«, sagte sie.

Für den Bruchteil einer Sekunde überkam Jonah Genugtuung. Endlich war er nicht mehr allein der Blinde. Das Gefühl verschwand zum Glück sofort wieder, und er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so etwas auch nur denken konnte. Wie er es hasste, an diesem Ort zu sein! Nicht ohne Grund verbrachte er seine Zeit hauptsächlich im Dachgeschoss der Villa und versuchte, sich von dort möglichst wenig fortzubewegen. Räume, die er nicht kannte, machten ihn hilflos wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel.

»Du hast doch gesagt, der Hochstand wäre direkt an der Wand«, sagte er vorwurfsvoll zu Jette.

»Ist er ja auch.«

»Und wo soll dieser Raum dann bitte schön sein? Ein Anbau außen an der Fassade, oder was?«

»Was weiß ich? Hab ich die Halle gebaut?«

»Nein, aber du hast sie gesehen!«

»Ich sehe hier gar nichts!«

Jonah versuchte, sich zu beherrschen. »Komm«, sagte er versöhnlich, »wir schauen uns hier mal um.« Er nahm Jette an der Hand. Der Raum war schmal. Ein richtiger Schlauch. Sie konnten kaum nebeneinandergehen. »Hörst du das Gebläse?«, fragte er. »An dem Geräusch kannst du dich orientieren. Es kommt immer von derselben Stelle. Es ist ein Fixpunkt. Wenn du nicht weißt, wo im Raum du bist, lauschst du auf das Gebläse, okay?« Ihre Hand war schweißnass. Jonah ließ seine freie Hand über die Tür streichen. Es war eine Stahltür, höchstens einen Meter hoch. Er tastete sich weiter an der Wand entlang. Beton. Er zählte die Schritte und kam auf zwölf. Er tastete sich weiter. Das schmale Wandstück am Ende des Raumes war aus Glas! Ebenso die zweite lange Wand! Seiner Orientierung nach mussten dies die Außenwände sein. Aber das Glas war mit Sicherheit geschwärzt. Sie befanden sich tatsächlich in einer Art Anbau, der von außen getarnt war.

Jonah befühlte das Gebläse. Es war etwas über Kopfhöhe an der langen Außenwand befestigt. Ein rechteckiger Kasten, schuhkartongroß, mit zwei Drehknöpfen und einem Schalter. Die Luft kam aus zwei seitlichen Öffnungen. Ein Kabel führte in eine Steckdose. Es gab also Strom.

»Ich will hier raus«, sagte Jette.

»Ich auch.«

»Warum haben die uns hier eingesperrt?«

»Vielleicht wird in der Halle gearbeitet?«

»Oder die Polizei ist da!«

»Hat man die Tür wirklich nicht gesehen?«, wollte Jonah wissen.

»Nein.«

»Das kann doch nicht sein.« Seine Stimme klang wieder scharf.

»Das war ja keine Tür, die in die Holzwand eingelassen war. Die ganze Wand ist zur Seite gefahren.« Jette klang müde. »Was passiert, wenn die Polizei die Männer schnappt und sie nicht verraten, wo wir sind?«, fragte sie nach einer Weile.

Jonah sagte nichts.

»Oder wenn sie einen Autounfall haben?«

»Jella, du darfst so was nicht denken.«

»Und was soll ich dann denken? Dass das hier ein schöner Ausflug ist?«

»Nein.«

»Dann mach doch irgendwas. Du kennst dich doch aus mit Dunkelheit. Wieso tastest du nicht die Wände ab und suchst einen geheimen Knopf, mit dem man die Tür öffnen kann? Oder wirfst durch das Gebläse etwas raus, einen Strumpf oder so? Du bist doch der Blinde. Du musst doch wissen, was hier zu tun ist.«

»Ich bin nicht ›der Blinde‹«, sagte Jonah.

»Du bist doch blind.«

»Aber nicht ›der Blinde‹.«

»Haarspalterei.«

»Du hast mich noch gar nicht gefragt, warum ich blind bin.« Es war ihm einfach so herausgerutscht.

»Ich kenn dich ja auch erst seit gestern.«

»Trotzdem. Für dich bin ich nur ›der Blinde‹.«

»Und warum bist du blind?«, fragte sie in einem Ton, der klang wie na-gut-dann-frag-ich-dich-eben.

»Sag ich nicht.«

»Du beschwerst dich, dass ich dich nicht frage, warum du blind bist, und wenn ich dich frage, sagst du’s nicht?«

»Genau.«

»Pfff«, machte sie in einem Ton voller Verachtung und wandte sich von ihm ab.

Sie saßen drei Stunden in dem Verlies. Schweigend. Dann kamen die Männer und öffneten die Tür. Jonah strauchelte, als er aus dem Kabuff kroch. In der Halle war es noch wärmer geworden. Es roch nach frischer Erde und Palmen. Jonah hörte das Sprühen von Wasser – eine Berieselungsanlage. Die mussten die ersten Pflanzen gebracht haben. Jette verlangte von den Entführern eine Lampe, für den Fall, dass sie noch einmal in das Verlies gesperrt würden. Und etwas zu lesen. Dann stellte sie den Tisch und die Stühle in eine entfernte Ecke des Hochstandes und setzte sich dort hin. Jonah ließ sich auf seine Isomatte sinken. Er aß ein Sandwich, das die Männer dagelassen hatten. Jette beachtete ihn nicht. Er ließ sich die Zeit ansagen. Es war erst Mittag.