Der Biss der Fledermaus

Wim Tanner wartete. Es waren jetzt nur noch die Geräusche der Nacht zu hören. In der Ferne schlug ein Hund an. Direkt neben ihm raschelte etwas im Gebüsch. Dann war es einen Augenblick still. Er blickte sich um. Selbst hier im Wald konnte man noch einigermaßen gut sehen. Gestern war Vollmond gewesen. Wie günstig. Wim Tanner schaute auf seine Armbanduhr. Die Anzeige sprang auf 23.50 Uhr. Ob es klappen würde?

Er nahm das Nachtsichtgerät zur Hand und bog ein paar Zweige zur Seite. Die Mädchen lagen immer noch vor ihrem Zelt, und ihr Lagerfeuer brannte. Er konnte sie gut erkennen. Sein Versteck war gerade einmal hundert Meter von ihnen entfernt. »Meine Hübsche …«, flüsterte Wim Tanner und sah zu einem Käfig hinüber, den er an einen Ast gehängt hatte. »Ich geh noch mal zu den Mädchen. Vielleicht kriege ich ja raus, ob sie wieder draußen schlafen.« Die Vampirfledermaus, die in dem Käfig kopfüber an einem Stab baumelte, flatterte wie zur Antwort mit den Flügeln.

Wim Tanners Blick fiel auf eine Zecke unter dem Flügelansatz des Tieres. Er grinste. Eine Zecke, die sich von einem Vampir ernährte. Das hatte was. Er öffnete den Käfig, griff sich die Fledermaus, zog ihr die Zecke aus der Haut und setzte das Tier zurück an seinen Platz. Die prall gefüllte Zecke schimmerte rotbraun in seiner Hand. Wim Tanner zerdrückte sie zwischen den Fingern. Jetzt aber los. Er versteckte den Käfig zusammen mit seinem Rucksack unter ein paar Zweigen. »Bin gleich wieder da«, raunte er der Fledermaus zu.

Die Mädchen hatten ihr Lager direkt am Seeufer unter einer großen Trauerweide aufgeschlagen. Wim Tanner schlich bis auf wenige Meter an ihr Zelt heran. Hinter einem dichten Busch kauerte er sich nieder. Er hatte sich den Platz der Mädchen bereits mehrmals angeschaut. Beim letzten Mal waren sie weit draußen im See schwimmen gewesen. Wahrscheinlich hatten sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Falls doch, konnten sie nichts weiter als die Silhouette eines großen dunklen Mannes gesehen haben.

Jetzt stand eines der Mädchen auf und kramte in den Vorräten. »Was wollt ihr trinken? Cola, Fanta, O-Saft? Oder Rotwein?«

Es war Jette Lindner. Wegen ihr war er hier. Auftrag von Kai Saalfeld. Er sollte so viel wie möglich über sie herausfinden. Wie ihr Tagesablauf war, welche Freunde sie hatte, Vorlieben und so weiter.

Sie hatten lange gebraucht, um das Mädchen überhaupt ausfindig zu machen. Sie war unter dem Namen Lina Sandwey geboren und später adoptiert worden. Anfangs hatten sie nur ihren Geburtsnamen gekannt, unter dem sie aber gar nicht mehr lebte. Er hatte sie schon einmal gesehen, als Baby. Aber das spielte jetzt keine Rolle.

Jette Lindner hob den Kopf, und Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Sie hatte dunkle gewellte Haare, fast schwarze Augen und volle rote Lippen. Dazu eine sehr helle Haut. Neben ihrem rechten Ohr war auf der Wange deutlich ein Muttermal zu sehen. Ein hübsches Mädchen. Zumindest nach den Maßstäben, die die Leute gemeinhin anlegten.

Was für ein blöder Abend, dachte Jette. Seit Stunden schon war mit ihren Freundinnen nichts anzufangen. Charlie starrte die ganze Zeit schweigend ins Feuer, und Klara las. Jette sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf. Viel zu früh, um schlafen zu gehen.

»Was wollt ihr denn jetzt trinken?«, wiederholte sie ihre Frage. Aber Charlie und Klara blickten immer noch nicht auf. Jette seufzte, ging zu Charlie und beugte sich zu ihr hinunter. »Wenn du jetzt nicht sagst, was du trinken willst, renne ich schreiend in den Wald, und dann könnt ihr ja gucken, was aus dem Abend noch wird.«

Jetzt hob Charlie tatsächlich den Kopf. Neugierig blickte sie ihre Freundin an.

»Rotwein, O-Saft, Cola?« Jette streckte ihr die Flaschen entgegen.

»Das würdest du wirklich tun?«, fragte Charlie.

»Was?«

»In den Wald laufen. Schreiend.«

»Immer noch besser, als sich hier zu langweilen.«

Charlie richtete sich auf. »Klara! Es gibt Programm.«

Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dachte Jette. Da bot man Charlie freundlich etwas zu trinken an, und sie nutzte die Gelegenheit, um einem eine Mutprobe aufzuzwingen. Was war nur mit ihr los? Das war sonst gar nicht ihre Art.

»Und?« Charlie ließ nicht locker. »Was ist jetzt?«

»In den Wald? Wozu das denn?«, fragte Klara, die ihr Buch zur Seite gelegt hatte.

»Traust du dich?«, fragte Charlie.

Jette lauschte. Es war sehr still. Die Blätter in den Baumkronen rauschten nicht mehr. Der Wind hatte sich gelegt. Nur das Feuer knisterte leise. Kein Vogel schrie. Kein Hund bellte. Kein Ast knackte. Der Wald schien zu warten. Fast schien es, als hätten die Tiere für einen Moment ihre nächtliche Jagd unterbrochen.

»Tja, war wohl nichts«, sagte Charlie und wandte sich wieder ab.

Jette stellte vorsichtig die Flaschen auf den Boden. Dann machte sie einen Schritt in Richtung des Waldes. Und noch einen. Es waren andere Schritte als am Tag. Sie führten ins Unbekannte. Die Mädchen hinter ihr schwiegen. Da vorn begannen die Bäume. Ein kleiner Weg führte in den Wald hinein. Jette trat unter das Blätterdach. Schlagartig wurde es stockdunkel. An Rennen war nicht zu denken. Behutsam setzte sie einen Schritt vor den anderen. Die Dunkelheit umschloss sie. Rings um sie herum hingen Äste, sodass sie schützend die Arme vors Gesicht hielt. Ihr Fuß stieß an eine Wurzel, und sie wäre beinah gestolpert. Wieder schlug ihr ein Zweig ins Gesicht. Neben dem Weg raschelte es. Die Dunkelheit schien zu lauern.

Jette blieb stehen. Die Stille des Waldes war jetzt gewaltig. Wer die nächtliche Ruhe störte, wurde sofort bestraft. So etwas ließ der Wald nicht zu. Kurz zögerte sie, doch dann gab sie sich einen Ruck, öffnete den Mund und schrie. Brüllte. Ihre Stimme explodierte, schien überall zu sein: In der Luft, auf den Blättern, den Stämmen, dem Boden. Mehr, immer mehr. Bloß nicht aufhören. Und irgendwann doch. Und dann natürlich die Stille nach der verbotenen Tat. Jette kauerte sich auf den Boden und legte ihre Arme schützend um ihren Kopf. Ob der Wald zurückschlagen würde?

»Jette!« Das war Charlie. Sie hatte sich neben sie gekniet. »Es tut mir leid«, sagte Charlie.

Jette blickte auf. Durch eine kleine Lücke im Blätterdach fiel Mondlicht auf den Boden. Charlies blonde Haare glänzten in dem schwachen Schein. Ihr Gesicht war bleich, die feinen Züge gut zu erkennen. Klara stand ein Stück hinter Charlie und sah erschrocken aus.

»Es tut mir leid«, wiederholte Charlie.

»Muss es nicht«, sagte Jette leise.

»Du bist ja nicht schuld«, murmelte Charlie.

Im ersten Augenblick wusste Jette nicht, was Charlie meinte. Aber dann wurde es ihr schnell klar: die Zwangsräumung. Charlies Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester wohnte, sollte in ein paar Tagen geräumt werden. Charlies Mutter hatte seit Monaten die Miete nicht bezahlt, und der Vermieter wollte nicht länger warten.

»Du schaffst das schon«, sagte Jette müde.

»Kommt«, sagte Klara, »gehen wir zurück zum Zelt.«

Jette Lindner war direkt an ihm vorbeigelaufen. So nah, dass er sie hätte berühren können. Er hatte sich gerade noch hinter einem Baum verstecken können. Dann hatte sie plötzlich geschrien. Einfach so, ohne Vorankündigung. Was für eine Schnapsidee! Mitten in der Nacht im Wald. Wahrscheinlich war schon irgendein besorgter Camper unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht hatte auch jemand die Polizei benachrichtigt. Besser, er zog sich zurück. Als die beiden anderen Mädchen auch noch in den Wald gekommen waren, hatte er sich zum Zelt geschlichen und einen Schnitt in die Zeltplane gemacht. Ein Eingang für die Fledermaus, falls die Mädchen im Zelt schlafen würden.

Zurück im Lager begrüßte ihn die Fledermaus mit einem Überschlag an ihrem Stab. Wie immer sauste sie dabei auf den Boden. Sie rappelte sich benommen auf. »Lass gut sein«, sagte Wim Tanner. Es war eine Geste der Unterwerfung, die die Fledermaus eines Tages eingeführt hatte. Seit über einem Jahr trainierte Wim Tanner sie. Jeden Tag. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber es lohnte sich. Wim Tanner war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Die Fledermaus führte anstandslos seine Befehle aus. Sie flog, wohin er wollte, biss die von ihm ausgewählten Opfer und lieferte ihm ihre Blutmahlzeit sogar ab. Sie spie das Blut an der Stelle aus, wo er es haben wollte. Sie war intelligent und fügsam. Kein Vergleich zu den dusseligen Brieftauben, die er früher gezüchtet hatte.

Er hatte die Vampirfledermäuse im Internet gekauft. Es war eine ganze Kolonie gewesen. Sie gehörten zur Gattung Desmodus rotundus. »Sein Mädchen«, wie er die Fledermaus in dem Käfig nannte, war von Anfang an sein Liebling gewesen. Sie konnte pfeilschnell jede Art von Wänden hochkraxeln, auf dem Boden hüpfen und war von stattlicher Figur. Sie hatte einen besonders hellen Bauch, kräftige Füße und war knapp zehn Zentimeter groß. Wenn sie ihre Flügel ausstreckte, kam sie auf eine Spannweite von vierzig Zentimetern. Er fand sie schön. Stundenlang hatte er ihr zugeschaut und ihre Gewohnheiten und ihren Charakter studiert. Heute Nacht würde sich zeigen, ob die Fledermaus ausgelernt hatte. Endlich. Die Nacht war perfekt dafür. Kai Saalfeld hatte er nichts davon gesagt. Das hier war seine Privatsache.

»Ich weiß«, flüsterte Wim Tanner dem Tier zu, »es dauert ewig.« Am besten, er stellte den MP3-Player noch mal an. Er kramte das Gerät aus dem Rucksack und drückte auf Play. Das Band spielte die regelmäßigen Atemzüge der schlafenden Jette Lindner ab. Wim Tanner hatte die Geräusche in der vergangenen Nacht aufgenommen. Er hatte sich lautlos zu den schlafenden Mädchen geschlichen, das Aufnahmegerät neben Jette Lindner gestellt und auf Record gedrückt. Dann hatte er der Fledermaus die Atemzüge den ganzen Tag lang vorgespielt. Wenn alles klappte, würde die Fledermaus ihr Opfer an der Atemfrequenz erkennen. Mit einem Kalb hatte es bereits funktioniert. Die Fledermaus war dafür einen halben Kilometer weit zu einem Bauernhof geflogen und hatte das richtige Kalb ausgewählt. Ob sie heute Abend auch so zuverlässig war? Das hier war ihre Meisterprüfung.

Die Zeit dehnte sich. Endlich, um drei Uhr, war das Feuer im Lager der Mädchen erloschen, und es war nichts mehr zu hören. Mit routiniertem Griff rückte Wim Tanner seine Pistole zurecht, die er an einem Gurt unter dem T-Shirt trug. Dann nahm er sein Nachtsichtgerät und den Käfig mit der Fledermaus. Leise schlich er zum Lager der Mädchen. Sie waren mit ihren Isomatten draußen geblieben und schliefen. Gut so. Wim Tanner öffnete den Käfig. Seine Finger bekamen das kleine Schloss kaum auf. Er zitterte vor Aufregung. Dann war es so weit. Das Tier schlüpfte aus dem Käfig und breitete die Flügel aus.

Die Fledermaus flog direkt zu den Mädchen. Wim Tanner griff nach dem Nachtsichtgerät. Das Tier kreiste zweimal über der Lagerstätte, dann landete es neben Jette Lindner. Es hatte sein Ziel erkannt. Das Mädchen lag auf der Seite. Es hatte den Schlafsack weit hochgezogen, aber ein Arm ragte heraus. Die Fledermaus ließ sich neben dem nackten Arm nieder. Dann begann sie, die Armbeuge abzulecken. In ihrem Speichel war ein natürliches Betäubungsmittel. Das Mädchen würde den Biss nicht spüren.

Wim Tanner zoomte mit seinem Nachtsichtgerät näher heran und sah, wie das Tier eine kleine Falte in der Armbeuge zwischen die Schneidezähne nahm und ein Stück Haut herausbiss. Aus der Wunde floss ein kleines Rinnsal Blut. Die Fledermaus leckte es auf. Sie hatte begonnen zu trinken. Alles lief nach Plan. Wim Tanner atmete tief durch. Seine Geduld, seine Mühe und seine Fähigkeiten wurden belohnt. Wahrscheinlich war er der Einzige auf der Welt, der Fledermäuse besaß, die auf Kommando Blut abzapfen konnten. Das war endlich einmal was. »Mach das, was du am besten kannst«, hieß es ja immer.

Lange hatte er nicht gewusst, was er am besten konnte. Im Gärtnern war er gut. Okay. Aber das war nicht unbedingt was Besonderes. Ansonsten: Er hatte nicht studiert. Kein Abitur. Nicht einmal einen Realschulabschluss. Nur mit Tieren, also gewissen Tieren, konnte er schon immer gut umgehen. Und jetzt, endlich, würde er diese besondere Begabung zu Geld machen. Und zwar zu viel Geld, so viel war sicher. Bisher hatte er allerdings nur Ideen gehabt, die krimineller Art waren. Man konnte zum Beispiel eine Fledermaus mit Tollwut infizieren und so den perfekten Mord begehen. Oder einen ganzen Schwarm Vampirfledermäuse auf einen Schlafenden ansetzen. Mit dem gleichen Ergebnis. Er hatte allerdings noch nie einen Menschen umgebracht, und er war auch nicht scharf darauf. Solche Dinge bargen Risiken. Damit kannte er sich aus. Denn schließlich war er derjenige, der die nicht ganz sauberen Angelegenheiten für Kai Saalfeld erledigte. Vielleicht würden ihm ja noch ein paar legale, ebenfalls lukrative Verwendungen für seine Vampirfledermäuse einfallen. Eines jedoch war klar: Er würde nicht auf Dauer den Lakai für Kai Saalfeld machen.

Wim Tanner schaute auf die Uhr. Die Fledermaus trank bereits seit zwanzig Minuten. Das war normal, sie brauchte so lange. Jette Lindner merkte immer noch nichts. Ein Eichhörnchen näherte sich dem Lager und beobachtete die Fledermaus. Endlich spreizte das Tier seine Flügel und erhob sich in den Nachthimmel. Das Eichhörnchen sprang erschrocken zurück. »Perfekt«, flüsterte Wim Tanner. Die Fledermaus gewann an Höhe und setzte zu einem Gleitflug über den See an. Er ließ sie gewähren. Immer wieder glitt sie über die dunkle Wasserfläche, erhob sich und flatterte weiter. Irgendwann schnalzte er leise mit der Zunge, und das Tier kam zurück.

Die Fledermaus wollte sich gerade an den Finger ihres Herrn hängen, als Wim Tanner von oben einen Luftstoß spürte. Noch während er den Kopf hob, peitschte ein Flügelschlag sein Gesicht, und direkt vor ihm tauchte ein kräftiger Greifvogel auf. Das Tier fuhr seine Krallen aus, ergriff die Fledermaus, biss ihr in den Nacken und erhob sich mit seiner Beute in die Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte Wim Tanner in die weit aufgerissenen Augen der Fledermaus.

Sie waren seltsam leer.

Sein Mädchen war tot.

Ein Falke. Das war ein Falke gewesen. Seit wann gab es hier Falken? Im ersten Moment war Wim Tanner wie erstarrt. Er fühlte einen beinahe körperlichen Schmerz. Doch dann griff er nach seiner Pistole, setzte den Schalldämpfer auf, zielte und schoss. Er war ein guter Schütze. Und die Nacht war hell. Er sah kurz zu den Mädchen hinüber. Jette Lindner bewegte sich im Schlaf. Der Falke knickte im Flug leicht ab, torkelte durch die Luft und fiel dann immer schneller in die Tiefe. Mit einem leisen Platsch schlug er auf der Oberfläche des Sees auf und ging sofort unter.

»Charlie, Klara! Seid ihr wach?« Jette richtete sich auf. Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie blickte sich um. Das Feuer war aus. In eines der leeren Weingläser war eine Schnecke gekrochen. Der Wald um sie herum war dunkel, aber der See schimmerte hell im Mondlicht. Seine Oberfläche war glatt. Nur von einem Punkt aus setzten sich kleine konzentrische Kreise fort.

»Charlie, Klara!?«

»Was ist denn?« Charlies Stimme war rau vom Schlaf.

»Mir ist so komisch.«

Charlie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Was hast du gesagt?«

»Ich fühl mich irgendwie seltsam.«

»Du blutest ja!« Charlie zeigte erschrocken auf Jettes Arm.

»Woher hast du das denn?« Auch Klara war plötzlich hellwach.

»Weiß nicht.«

»Tut es weh?«, fragte Klara besorgt.

Jette schüttelte den Kopf. Eine kleine Wunde in der Armbeuge, aus der Blut tropfte. Es sah aus wie ein Biss. Jette drückte die Haut an der Stelle zusammen. Dann bemerkte sie Charlies schockiertes Gesicht.

»Hier gibt es doch keine Ratten!?«, presste Charlie hervor.

»Kommt«, sagte Klara, »wir gehen besser ins Zelt.«

Jette legte sich drinnen zwischen ihre Freundinnen. Bald war Klaras gleichmäßiger Atem zu hören, doch Charlie schien noch wach zu sein. Jettes Wunde hörte nicht auf zu bluten. Von Zeit zu Zeit presste sie ihre Lippen auf die Haut und saugte daran. Irgendwann fiel auch sie in einen unruhigen Schlaf. Seltsame Bilder zogen an ihr vorbei. Blut, das aus ihrem Arm tropfte, auf dem Waldboden zu einer Lache wurde, schließlich in den See floss und dort das Wasser rot färbte.

Wim Tanner wartete, bis sich bei den Mädchen nichts mehr rührte und sie die Taschenlampen ausgemacht hatten. Er fühlte sich wie betäubt. Mit schweren Schritten marschierte er zu seinem Lagerplatz zurück, in der Hand den leeren Käfig. Er zögerte einen Moment, dann rief er Kai Saalfeld an.