22

Drüben kommen die Mädchen aus der Schule. Vorauf Susanne, die Mappe unter dem Arm, ein paar blonde Locken unter der Zipfelmütze. Sie tänzelt und schwenkt das Röckchen. Scheint außerordentlich guter Laune. Hinter ihr Margot, offenbar in genau entgegengesetzter Verfassung. Sie sieht schmal und unausgeschlafen aus und schleppt die Beine, als ob sie aus Blei wären. Ich lasse die Gardine sinken, sehe auf die Uhr: halb drei. Wie lange werden sie zum Essen brauchen — eine halbe, dreiviertel Stunde. Also sagen wir, halb vier. Dann gehe ich hinüber. Werde jetzt erst mal die Hunde ausführen.

Ich bilde mir ein, einen großen Spaziergang unternommen zu haben, aber als ich mit meinem vom Schneemorast triefenden Gespann wieder daheim anlange, ist es erst drei Uhr fünfzehn. Ich beschäftige mich, indem ich sie abtrockne. Bei näherer Besichtigung entdecke ich hinter Cockis Ohren und auf Weffchens Bauch mehrere Flohnester und an anderen Körperteilen sehr muntere, ausgewachsene Exemplare, und die Jagd danach fasziniert mich so, daß es dreiviertel vier ist, als ich gerade den letzten Floh, ein wahrhaft elefantisches Wesen, unter meinem Daumennagel knacke.

Drüben steht Margot schon angezogen in der Diele, obwohl doch noch eine Viertelstunde Zeit ist. Mein Gott, sieht das Mädel elend aus!

»Wo treffen wir uns denn mit Buddy?« frage ich.

»Am Bach.«

Unten am Krebsbach steht Buddy. Er hat den Kragen hochgeschlagen und tritt von einem Bein aufs andere, obwohl es doch gar nicht mehr so kalt ist, sondern ringsum taut. Auch er sieht hager und hoffnungslos aus. Wir schütteln uns schweigend die Hand und gehen dann am See entlang. Er ist draußen schon aufgebrochen und schimmert azurblau. Am Ufer hält das Eis noch, wenn es auch dumpf klirrt und unter unseren Füßen Risse entstehen, die vor uns herlaufen. Buddy schleudert ein Eisstück, es schlurrt, Sonnenblitze sprühend, lange Zeit über das Eis, bis es ganz hinten über den Rand kippt und im offenen Wasser verschwindet. Jetzt müssen wir auf den Weg zurück, weil in der kleinen Bucht zwischen dem Schilf schon Wasser steht. Auf der Koppel am Weg, die nur noch einzelne dünne Eisinseln hat, bewegt sich etwas. Wir bleiben stehen. Es sind Wachteln beim Liebesspiel. Zwei Männchen verfolgen sich heftig im Kreis herum, prallen gegeneinander, fechten erbittert, während die Henne sich gegen den Boden schmiegt und den Kampf beobachtet. Der eine der Duellanten gibt auf, und der Sieger nähert sich dem Weibchen. Das aber geht so wütend auf ihn los, daß er in niedrigem Flug davonbrummt.

»Auch da geht’s nicht glatt«, sagt Buddy düster. Es ist das erste, was er überhaupt sagt. Margot hat mich untergehakt und drückt meinen Arm: »Colonel, hattest du nicht auch mal so eine große Liebe, eine ganz große, als du in unserem Alter warst?«

»Ja«, antworte ich mechanisch, »gewiß.«

»Ach, erzähl uns doch davon!«

In mir krampft es sich zusammen: »Ich hab’ noch nie jemandem davon erzählt.« Da merke ich, wie sich eine Hand auch unter meinen anderen Arm schiebt: Buddy! Während sich alles in mir wehrt, die alte Wunde aufzureißen, sehe ich von einem zum anderen, und in beiden Augenpaaren lese ich so viel verzweifeltes Vertrauen, daß mein Widerstand schmilzt. Ich hole tief Atem, ich fühle, wie in meinem Innern das alles noch einmal lebendig wird, dieser letzte schmerzliche Ausklang meiner fernen Jugend.

»Tja, das war — das war in dem Jahr, als ich mich mit Marion verlobt hatte.«

»Wer ist Marion?« fragt Margot.

»Habe ich euch das nicht erzählt?«

»Nein. Du hast uns nur von Steffi und Erika erzählt, wie du die eine vergessen hast, weil du Soldaten bekommen hast, und dann mit der von den Briefchen und der Regenrinne, die wegzog, als du verreist warst.«

»Richtig, von Marion habe ich euch nichts erzählt. Also, kurz und gut, ich war verlobt mit einem sehr schönen Mädchen, dessen Bruder ich Nachhilfestunden gab.«

»Wie alt waren Sie damals?« fragt Buddy.

»Knapp achtzehn. Aber nimm das bitte nicht als Parallelfall«, versuche ich zu scherzen. »Das Verloben war damals eine Angewohnheit bei mir, und kein Mensch außer mir nahm es ernst, nicht einmal die Mädchen, denen es galt. Das heißt, eine nahm es doch ernst, und das war meine Tante Lisi. Sie war eine sogenannte Nenn-Tante, sehr reich, und sie hatte mich für die Sommerferien in ihr Landhaus in Thüringen eingeladen, damit ich nach den Hungerjahren des Krieges und den Aufregungen der Revolution erst mal wieder zu Kräften kommen sollte. Tante Lisi und Onkel Alex — Alex Wuffius, ein großartiger Mensch, so richtig reif und klug, mehr als klug: weise. Dabei wirkte er gar nicht so, hatte ein rundes rotes Weingesicht, einen eisgrauen Schnurrbart und blondgefärbte Haare mit einem Mittelscheitel. Auch seine fast übertrieben korrekte und elegante Kleidung spiegelte etwas von kleiner Eitelkeit.

Zu seiner Frau war er der vollendete Kavalier, mit Handkuß am Morgen und Blumen am Nachmittag. Das Haus führte er im großen Stil. Es gab die alte Haushälterin Magda und einen Chauffeur, Willkens, der einen uralten Rolls-Royce betreute und sich nebenbei als Gärtner betätigte. Das Haus lag inmitten eines Parks auf einem Hügel, äußerlich ein scheußliches Ding mit kleinen Türmchen und vielen Erkern, aber innen mit sehr schönen Räumen und mit der breiten Üppigkeit eines soliden Reichtums eingerichtet. Unten, zu beiden Seiten der Flußschleife, lag der Ort. Wie hieß er bloß — Erzberg oder so ähnlich. Am Haus vorbei lief ein schneller, tiefer Bach, der abwärts in den Fluß mündete. Es gab auch eine Bahnstation mit einem winzigen Bahnsteig ohne Dach. Man kam mit der Kleinbahn an. Eine keuchende Lokomotive mit Riesenschornstein schleppte drei hochbeinige Personenwagen und einen Güterwaggon.

Mit dieser Bahn kam auch ich an. Onkel Alex und Tante Lisi standen auf dem Bahnsteig. Tante Lisi gab mir einen Kuß und musterte mich besorgt. Sie hatte ein großes, immer blasses Gesicht und eine wagnerische, korsettgepanzerte Figur. Onkel Alex schüttelte mir die Hand: >Willkommen, junger Mann!< Auch Willkens in Chauffeursuniform kam jetzt zum Vorschein, gab mir die Hand und nahm meinen Koffer. Tante Lisi streichelte mit ihren kleinen, ganz weichen Händen mein Gesicht: >Na, wir kriegen dich schon wieder hoch, mein Jungchen<.

Es war mir peinlich, daß sie mich so als kleinen Jungen behandelte, nachdem mich Onkel Alex doch eben als richtigen Mann begrüßt und Willkens vor mir die Mütze gezogen hatte. Aber sie meinte es ja so gut.

Nach dem Essen saß ich mit Onkel Alex und Tante Lisi vor dem Kamin und trank einen alten Sherry, der mich außerordentlich optimistisch und erwachsen stimmte. Dazu rauchte ich mit Heldenmut die dritte Zigarre meines Lebens.

>Na, was willst du nun hier anfangen?< fragte Onkel Alex.

Ich lehnte mich in den Sessel zurück. Das gute Essen, der schöne Wein, diese ganze Atmosphäre gediegenen, unbeschwerten Bürgertums, die mich umgab — es war nach den wüsten Jahren und dem wilden Leben in der Großstadt wie ein Traum: >Ausruhen!< sagte ich. >Nichts als ausruhen. Mich im Wald auf den Bauch legen, lesen, aber keine Zeitungen, kein Foxtrott (der gerade damals aufgekommen war)...<

>Sehr vernünftig<, nickte Onkel Alex. >Also, du bist hier zu Hause. Nebenan ist die Bibliothek, wo Schnaps und Zigarren stehen, weißt du, und wenn dir mal nach einem kleinen Ausflug ist, brauchst du es bloß zu sagen. Recht hat der Junge, nicht wahr, Lislchen?<

Tante Lisi, gewohnt, ihrem Manne immer zuzustimmen, schien aber nicht ganz einverstanden.

Das klärte sich auf, als sie abends noch mal in mein Zimmer kam. Sie bückte sich ächzend nach einem Strumpf, der sich auf dem Bettvorleger kringelte, und setzte sich dann in den Sessel an meinem Bett.

>Du freust dich sehr auf das Alleinsein?< fragte sie vorsichtig.

>Ja! Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin und wie ich euch danke, daß ich’s sein kann!<

Sie lächelte und strich mir über das Haar. Dabei fiel mir ein, daß sie sich immer einen Sohn gewünscht hatte. Statt dessen hatte sie eine Tochter bekommen, die dann mit neunzehn Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war. Das Enkelkind war mit dem Vater nach Südamerika gegangen, dort hatte er wieder geheiratet. Sie hatte es nie mehr gesehen.

>Na, du hast ja noch zwei Wochen Zeit, dich zu erholen<, sagte sie dann.

>Zwei Wochen?« Ich war so erschrocken, daß ich alle Form vergaß. >Aber du schriebst doch, daß ich die ganzen Ferien...<

Sie war derart mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie meinen Formfehler gar nicht bemerkte: >Dann kommt nämlich Judith<, erklärte sie.

>Judith? Doch hoffentlich nicht irgend so ‘ne Gans?<

Sie sah mich streng an: >Es ist keine Gans, sondern die Tochter von Herrn Schultes, der uns das Haus hier gebaut hat. Mit der Mama Schultes bin ich seit zwanzig Jahren befreundet. Sie ist ein ganz entzückendes Mädchen, und außerdem spielt sie wunderschön Klavier.<

>Wer? Frau Schultes?<

>Nein, Judith natürlich.< Sie beugte sich vor, daß ihre Korsettstangen knarrten: >Weißt du, ich habe mir gedacht, du bist doch mit dieser Marion verlobt, und Judith ist auch verlobt...<

>Gott sei Dank!«

Sie überhörte meine Bemerkung: >... und da habe ich mir gedacht, ich könnte doch Judith auch einladen, dann fühlen sich die beiden jungen Leute nicht so allein, und du< — ihr Blick wurde wieder streng —, >du wirst dich als Kavalier benehmen und sie auch mal hinunter zum Tanzen führen; ihr könnt auch Tennis miteinander spielen...<

>Spiele ich nicht.<

>Na, dann könnt ihr zusammen schwimmen oder Waldspaziergänge machen oder musizieren — habe ich dir schon gesagt, daß sie so sehr schön Klavier spielt?<

>Du hast es mir gesagt<, erklärte ich ergeben.

Sie stand auf und lächelte mich an: >Ich weiß, daß du ein Kavalier bist, und daß du dir nichts aus anderen Mädchen machst, ist mir nur recht. Hast du nicht ein Bild von deiner Marion?<

Ich kletterte aus dem Bett und holte es aus der Brieftasche. Sie ließ die Lorgnette aufspringen, die sie an einer langen Kette um den Hals trug, und betrachtete das Bild sehr aufmerksam: >Ein schönes Mädchen! Ein klassisches Profil! Und diese schönen dunklen Haare, eine ganze Krone!<

>Sie reichen ihr bis über die Knie, wenn sie sie aufmacht<, sagte ich.

Tante Lisi stutzte einen Augenblick, mußte sich wohl mit der Tatsache zurechtfinden, daß ich nicht mehr der kleine Steppke war, als den sie mich in Erinnerung hatte: >Na, du bist ja mit ihr verlobt<, meinte sie. >Wie alt ist sie denn?<

Jetzt geriet ich in Verlegenheit: >Neunzehn.<

Die blassen Augen sahen mich nachdenklich an: >Dann ist sie ja etwas älter als du! Nun, auch das kann eine glückliche Ehe geben. Vorläufig bist du ja noch ein... na ja, jedenfalls ist sie sehr reizend. Gute Nacht, mein Kind!< Sie küßte mich auf die Stirn und rauschte aus dem Zimmer.

Ich sah mir noch eine Weile Marions Bild an, dann drehte ich das Licht aus, horchte auf den Bach, der unten vom Tal her murmelte, und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Als ich am nächsten Morgen aus meinem Fenster sah, entdeckte ich gerade gegenüber meinem Zimmer auf der anderen Seite des Baches einen kleinen Felsen, der sich grau aus der Blumenwildnis des Abhangs erhob. Er war nicht sehr hoch, vielleicht achtzig oder hundert Meter, aber es war der einzige Felsen weit und breit und deshalb für mich von Anfang an mit einem romantischen Zauber umgeben. Er wurde für die nächsten Tage mein Lieblingsplatz. Oben war eine kleine Mulde mit weichem Moos ausgepolstert, große, grüne Eidechsen huschten über den grauen Stein, und wenn ich mich auf den Rand setzte und die Füße in die Tiefe baumeln ließ, konnte ich weit über das Land hin träumen. Meist aber lag ich in der Mulde selbst, döste, beobachtete die Eidechsen und erlebte mit innigem Entzücken, wie sich bald ein Falter, bald eine große, smaragdene Libelle auf mir niederließ.

Ich las auch viel dort oben, alte chinesische Philosophen und die Upanischaden, die ich in Onkel Alex’ Bibliothek entdeckt hatte. Onkel Alex und Tante Lisi sorgten sich rührend um mich und machten auch häufig kleine Ausflüge in die Umgebung, um mir die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Aber immer war ich froh, wenn ich wieder in meiner Felsenwanne liegen konnte. Es waren ein paar der glücklichsten, stillsten und tiefsten Wochen meines Lebens.

Mit einer Art Panik dachte ich daran, daß diese Tage meiner Einsamkeit unerbittlich dahinrannen.

Und dann kam er, der gefürchtete Donnerstag. Wie um mir einen Vorgeschmack zu geben, goß es in Strömen, als wir am späten Nachmittag Judith von der Kleinbahn abholten. Der Zug rollte ein, etwas ziemlich Großes, Langbeiniges im Trenchcoat und einem unmöglichen Hut, den es tief in die Augen gezogen hatte, stieg aus. Darunter sah man nur einen großen Mund mit wulstigen, leidenschaftlichen Lippen. Das Etwas wurde von Tante Lisi und Onkel Alex gebührend umarmt, dann stellte man mich vor, ich machte eine weltmännisch-lässige Verbeugung, worauf es mir die Hand entgegenstreckte und mit tiefer, etwas heiserer Stimme sagte: >...und freuen wir uns sehr!<

Ich war angenehm überrascht. Wenigstens schien sie Witz zu haben.

Daheim verkrochen Onkel Alex und ich uns in die Klubecken vor dem Kamin und genehmigten uns einen ziemlich steifen Cognac-Soda, während das Etwas von Tante Lisi und Haushälterin Magda umflattert und in den ersten Stock bugsiert wurde. Diener-Chauffeur Willkens mit zwei Koffern hinterher, unter denen er merklich ächzte.

Onkel Alex blinzelte mir zu: >Na, sehr schlimm?<

Ich zog mit dem ganzen Snobismus meiner achtzehn Jahre die Mundwinkel herunter: >Ziemlich. Ist es etwa obendrein noch ein Blaustrumpf?<

Onkel Alex stellte überrascht sein Glas hin: >Blaustrumpf? Judithchen? Im Gegenteil, möchte ich fast sagen.<

Er klemmte aus irgendeinem Grunde das Monokel ein und hatte plötzlich einen verwegenen Zug im Gesicht: »Wir waren alle heilfroh, als sie sich mit diesem... diesem... na, ich weiß nicht, wie er heißt — verlobte.«

Ich übte mich weiterhin im Mundwinkel-Herunterziehen und bedauerte, nicht auch ein Monokel zur Hand zu haben: >Muß ja ein ziemlicher Goldfisch sein, eure Judith, daß er sie genommen hat!<

Abermals schien Onkel Alex überrascht: >Das mit dem Goldfisch stimmt, aber... hältst du sie für häßlich?<

>Das, was ich bisher sah, war nicht gerade ermunternd.<

Er spitzte die Lippen: >Na, warte’s erst mal ab. Sie ist nicht eben landläufig hübsch, wenigstens das Gesicht nicht, aber...< Er sah auf die Uhr: >Es ist ja schon halb acht. Möchtest du nicht mal ‘raufgehen und irgendeinen Laut ausstoßen, damit die Damen merken, daß längst Abendbrotzeit ist?<«

>Gern.< Ich stand auf und ging an die Treppe in der Halle...«

Als ich zu diesem Augenblick komme, zieht es sich — nach so vielen, vielen Jahren — um mein Herz zusammen, der Atem wird knapp, Schwindel hinter der Stirn. Ich reiße mich für ein paar Sekunden aus der Erinnerung los und sehe die Augen der beiden auf mich gerichtet. Der Himmel schwingt Föhnfahnen von Horizont zu Horizont, und vor uns drängelt sich ein Schwarm von Staren mit schillernden Rücken auf einer Insel von Grün, die schon dem sterbenden Schnee entwachsen ist. Dann überwältigt mich wieder die Vision. Es ist mir ganz gleichgültig, welche Worte ich wähle, ob ich überhaupt spreche. Dafür wächst, wie nach dem feinen, aber tiefen Stich des Floretts, in meinem Herzen der Schmerz, der uralte, der selige.

»Die Treppe in der Halle. Ich sehe wieder ihr honigfarbenes Geländer, den üppigen Schwung, mit dem sie zum ersten Stock hinaufsteigt, die breiten, flachen Stufen, die es einem so leicht machten, aufzusteigen. In der Ecke die Kastenuhr, das alte Messinggefäß als Schirmständer, die zarten Farben des großen Teherans.

Und dann kommt das Etwas über diese Treppe von oben herunter. Erst sehe ich nur ein Paar schlanke Beine von vollendeter Form, jetzt einen weiten Rock aus irgendeinem braungoldenen, schillernden Stoff. Bei jedem Schritt schwingt er rundum wie ein Mozart-Thema. Nun eine schlanke Taille, ein tief ausgeschnittenes Mieder, das Schultern aus mattem Elfenbein entblößt und sich an kleine, feste Brüste schmiegt. Ein Hals, stolz aufsteigend wie ein Palmenstamm, dann die wilden Lippen, die jetzt gar nicht mehr häßlich wirken, sondern das Ganze nur vollends verwirrend machen. Zumal über ihnen eine reizende Stupsnase sitzt. Und dann die Augen! Zwei goldene Sterne inmitten leicht bläulicher Augäpfel, eine mittelhohe, breite Stirn unter der Flut kastanienbraunen Haares, Grübchen in den Wangen — und jeder Schritt abwärts wie Zigeunermusik. Ja, wo hatte ich denn meine Augen? Das ist ja — das ist ja...

Ich kann das zauberhaft verwandelte Etwas nur anstarren.

Tante Lisi, die hinter ihr die Treppe hinabkommt, deutet meine Haltung falsch und macht hinter Judiths Rücken eine energisch aufmunternde Handbewegung: >Es hat aufgehört zu regnen, und das Essen ist noch nicht fertig.<

>Aber Onkel Alex hat doch gesagt...<, stottere ich.

>Alex wird eben noch ein dreiviertel Stündchen warten müssen. Es gibt nämlich zu Judiths Ankunft etwas ganz Besonderes. Also (sehr betont), mein Kavalier, nimm diese junge Dame und geh mit ihr spazieren. Um halb neun erwarten wir euch zurück.<

Judith schlägt die Hacken zusammen und legt die Hand an die Schläfe: >Zu Befehl!< Dabei sprühen ihre Augen in gutmütigem Spott. Dann packt sie meinen Arm: >Kommen Sie, Unglücklicher. Der Hochsommer wartet.<

Und damit beginnt der Traum. In dem Augenblick, als sie meinen Arm nimmt, ist es, als habe sich ein Stromkreis geschlossen. Auch sie merkt es, denn auf ihrem Gesicht sehe ich eine unruhige Verblüffung. Noch kämpft unsere Vernunft gegen die Magie. >Nun erklären Sie mir mal die Gegend, junger Goethe.< (Tante Lisi muß ihr erzählt haben, daß ich schon Novellen veröffentlicht habe. Das ist mir durchaus nicht unangenehm.)

Ich murmele ein paar konventionelle Phrasen, die keiner von uns beiden ernst nimmt. Wir gehen zum Bach hinunter und über die kleine Brück«. Jenseits bleibe ich stehen und sage, ihren vorherigen Ton imitierend: >Und haben wir somit den Rubikon überschritten.<

Ich erschrecke, sobald ich den Satz gesprochen. Wie komme ich bloß darauf? Wie komme ich überhaupt an diese Brücke? Ich entsinne mich plötzlich nicht mehr, bis hierher gegangen zu sein. Es muß ein Schweben gewesen sein. Und liegt nicht der Bach, der im Schein des Sonnenuntergangs wie Feuer glüht, zwischen uns und dem Haus wie ein Flammenschwert? Ein Flammenschwert, das unser ganzes bisheriges Leben dicht hinter unseren Füßen von uns weggeschlagen hat?

Als ich wieder zu mir komme, finde ich ihre Augen erstaunt auf mich gerichtet. Wie ich mich aber in diesen Blick verliere, finde ich, daß das Erstaunen nur vordergründig ist. Dahinter liegt etwas anderes — ein dunkles Wissen — ein — ich kann es nicht aus-rücken. Sie lehnt am Geländer, und der leichte Abendwind bewegt die äußersten ihrer Haare, die goldbraun auf leuchten: >Sie sind verlobt — Goethe?<

>Ich — hm — ja, das heißt...<

Sie nickt: >Das genügt mir. Wo wollen wir jetzt hin?<

>Hier auf den Felsen. Es führen ein paar Stufen hinauf, mit Geländer.<

>Haben Sie Angst, daß wir ‘runterfallen?<

>Vor dem Runterfallen nicht.<

>Kann man denn auch aufwärts fallen?<

>Im Augenblick ist mir so, als ob man’s könnte.<

Sie lacht nervös. Ich sage, während mein Herz wie unsinnig klopft: >Sie sind doch auch verlobt!<

>Ich war.<

Ich bleibe stehen — und mein Herz beinahe auch: >War?!<

>Ja<, erklärt sie beiläufig. >Bis sich herausstellte, daß der junge Mann Morphinist ist.< Sie liest in meinen Augen, scheint etwas zu sehen, was sie amüsiert, und meint: >Ich habe ihn sowieso nicht sehr gemocht. Es war eine Entdeckung von Papa: der Sohn unseres Bankiers. Es wäre so bequem gewesen. Man hätte die ganze Finanzierung sozusagen in der Familie erledigen können.<

Schließlich stehen wir oben im warmen Wind. Die Felder unter uns sind schon abgeerntet, die Hügel am Horizont liegen in violetten Tinten, und darüber hat der Sonnenuntergang den Himmel rostrot aufgerissen. Sie wendet sich mir zu. In ihren Augen brennt der Sonnenuntergang:

>Wenn Tante Lisi wüßte, daß ich nicht mehr verlobt bin...<

Da liegt sie schon in meinen Armen. Kein Wort wird zwischen uns gesprochen. — Als die Kirchenuhr das Viertel schlägt und ich flüstere: >Wir müssen ja zurück!< sagt sie: >Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?<

>Hans.<

>Na, da finden wir schon noch was anderes.<«

Ich stolpere über einen noch vereisten Stein, und das bringt mich in die Gegenwart zurück. Wo bin ich denn? Aha, wir umgehen gerade den kleinen Sumpf mit den Birken. Die beiden zu meinen Seiten wechseln einen Blick, Margot preßt meinen Arm: »Mach weiter, Colonel, schnell — was sagten die im Haus?«

»Die im Haus? Na, unser Glück muß uns meilenweit aus den Gesichtern geleuchtet haben, und es bedurfte nicht erst des Umstandes, daß wir uns duzten, um die Tatsache zu enthüllen, daß irgend etwas zwischen uns passiert war. Tante Lisi war darüber auf das tiefste bestürzt, während Onkel Alex sein Gesicht nicht vom Teller hochbekam, weil er offenbar nicht wollte, daß man das Schmunzeln unter seinem eisgrauen Schnurrbart sah. Tante Lisls Augen fuhren zwischen uns hin und her, während Judith höflich vom Ergehen ihrer Eltern berichtete, und hefteten sich dann mehrfach hilfesuchend, aber ergebnislos auf ihren Mann. Schließlich wandte sie sich an mich: >Hast du Onkel Alex schon das Bild von deiner Verlobten gezeigt?< Und zu Judith, sehr nachdrücklich: >Ein wunderschönes, sehr feines Mädchen!<

Ich hätte sie umbringen können in diesem Moment. Aber dann spürte ich Judiths Knie, das sich gegen mich drückte. Ich holte die Brieftasche heraus und reichte das Bild Onkel Alex. Er klemmte sich das Monokel ein: >Wirklich sehr hübsch!< Ein kurzer, forschender Blick folgte, als er mir das Bild zurückgab. Ich saß da mit dem Foto in der Hand und wäre am liebsten damit in die Erde versunken.

Aber wieder rettete mich Judith. Sie streckte die Hand aus: >Darf ich’s auch sehen?<

>Wie? Ach so — ja, selbstverständlich.<

Sie studierte es lange und ausführlich und gab es mir dann mit einem freundlich-konventionellen Lächeln zurück: >Das ist kein hübsches Mädchen, das ist ein schönes Mädchen!< Tante Lisi war offensichtlich verwirrt: >Ja, nicht wahr?< murmelte sie. >Klassisch schön.<

Judith nickte und wandte sich dann zu mir: >Direkt klassisch!< erklärte sie, während tausend Kobolde in ihren Augen tanzten.

Tante Lisi konnte sich nicht verkneifen, einen hörbaren Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Offenbar glaubte sie, sich getäuscht zu haben. Aber da war noch ein letztes Problem für sie. Sie drohte uns mit dem Finger: >Ihr habt euch ja schnell geduzt!<

>Ja<, erklärte Judith fröhlich, >wozu die Umstände? In ein paar Tagen hätten wir’s sowieso getan. Sportskameraden, sozusagen.<

Der Rest des Abends verlief in vorsichtiger Harmonie.

Was nun folgte, war — wenigstens für mich — ein Sturm, der alles früher Erlebte mit den Wurzeln ausriß, und Judith gab sich meinem Traum hin, als habe sie nur auf ihn gewartet. Die arme Tante Lisi stemmte sich vergeblich diesem Urgeschehen entgegen. In den ersten Tagen lagen Judiths und mein Zimmer nebeneinander. Später, auf Grund gewisser unklarer nächtlicher Geräusche, legte Tante Lisi ihre Wirtschafterin, die >freudlose Magda<, in ein Zimmer zwischen uns. Sie übersah dabei, daß es einen durchlaufenden Balkon vor der ganzen Etage gab. Allerdings waren die Balkonteile der einzelnen Gästezimmer durch hohe Zwischenwände gesichert. Aber ich entwickelte ungeahnte akrobatische Fähigkeiten, indem ich mein Geländer überkletterte, mich an dem Magdaschen Zimmer vorbeihangelte und bei Ankunft in Judiths Bereich mit Anstrengung aller Kräfte über ihr Geländer schwang. Dabei kam uns zugute, daß unser Wächter schnarchte und uns damit anzeigte, wann die Luft rein sei.

Aber so rein war sie wiederum nicht. Eines Abends, als ich mit Onkel Alex vor dem Kamin saß, sagte er, während er umständlich eine Banderole von seiner Zigarre löste: >Komische Sache heute nacht erlebt! Wollte das Fenster zumachen, weil der Sturm aufkam, und was sehe ich? Zwei Füße, in Socken! Wandern über den Himmel! Doll, was?< Er warf mir einen kurzen Blick zu und nestelte dann wieder an seiner Zigarre: >Du hast ihn wohl kaum bemerkt, den Sturm. Den draußen, meine ich.<

Von da an verlegten wir unsere Schäferstündchen, soweit das Wetter es zuließ, in die Felsenmulde, die auf diese Weise eine neue Weihe empfing. Marion hatte ich einen Abschiedsbrief geschrieben und hielt es natürlich für ausgemacht, Judith so bald wie möglich zu heiraten. Wir hatten besprochen, daß ich gleich nach unserer Rückkehr in die Stadt bei ihren Eltern Besuch machen würde, und stellten uns die Zwischenzeit bis zu unserer Heirat — wenn auch etwas eingeschränkt durch Pflichten und Schule — als eine Fortsetzung unserer seligen Schmetterlingsgaukelei vor.« Ich sehe mich wieder im Musikzimmer in den tiefen Sessel versunken, Judith am Klavier, sie liebt Beethoven wie ich. Ich sehe mich mit ihr unten in Erzberg beim Tanzen, ein einsames, ineinander verschmolzenes Paar, dem die Umwelt nur traumhafte Kulisse ist. Ich sehe mich mit ihr in der Felsenmulde, ihre Lippen, ihren Körper, den Himmel darüber, der so unendlich hoch scheint, viel höher als sonst, sehe mich allein in meinem Zimmer, die Glut dieser Stunden in endlose Gedichte ergießend. Ich spüre unsere Füße, unseren gemeinsamen Schritt auf dem federnden Waldboden, sehe sie — eine braune Venus — vom Sprungbrett fliegen und wie eine Seelöwin das Wasser durchschneiden.

Dann gerät die Vision ins Wanken. Margot hat mich etwas gefragt, und wie ich sie anschaue, verschmilzt abermals, wie an jenem Faschingsabend, ihr Bild mit dem Judiths. Und plötzlich packt mich der bittere Schmerz des Alterns, des Nicht-mehr-dazu-Gehörens, des unwiderruflich Verloren-Seins: »Was hast du gesagt, mein Kind?«

Sie errötet, ohne ihren Blick von mir zu nehmen: »Ich meine — hattet ihr denn keine Angst, daß ihr ein Kind bekommen würdet — vor der Zeit?«

»Ein Kind? Das brauchten wir nicht zu befürchten. Denn trotz aller Leidenschaft kam es nie zum Allerletzten zwischen uns.«

In ihren Augen ist Verblüffung, und ich merke, wie auch Buddy an meiner anderen Seite eine unwillkürliche Bewegung macht.

»Wieso nicht?« fragt sie. »Dann hattest du sie vielleicht doch nicht so richtig lieb, wie du glaubtest?«

»Doch, mein Kind, das hatte ich. Wenn mir damals jemand gesagt hätte: Spring von einem Turm, um sie zu retten, oder laß dir die Glieder einzeln abhacken — ich hätte es ohne Besinnen getan. Das — was dich wundert — geschah gerade aus dieser Liebe zu ihr. Daneben — ich will mich nicht besser machen, als ich bin — war es auch Angst vor den Eltern, vor der Schule, vor einem Skandal. Aber selbst wenn ich mich heute mit aller Strenge prüfe, möchte ich behaupten, daß das erste Motiv überwog.«

Ich merke, wie zwischen den beiden jungen Menschen wieder ein Blick hin und her geht. Margot scheint noch nicht einverstanden: »Und Judith?«

»Ihr wäre es ganz egal gewesen.«

»Habt ihr darüber gesprochen?«

»Nein, damals nicht.«

»Und was wurde aus euch?«

»Nicht viel Gutes, Margot. Plötzlich waren nur noch drei Tage übrig, drei Tage und drei Nächte, verzweifelte Nächte, denn wir ahnten wohl beide, daß es nicht so einfach werden würde. Und es wurde auch nicht einfach. Nach unserer Rückkehr in die Stadt legten sich Judiths Eltern sofort quer. So entschieden und so verletzend, daß sich nun wiederum der Stolz meiner Familie empörte. Unsere Zusammenkünfte waren flüchtig und voller Qual, bei irgendeinem Freund für eine kurze Stunde, während sie angeblich Klavierunterricht hatte. Wir setzten unsere ganze Hoffnung auf einen Ball, zu dem sie mir eine Einladung verschafft hatte. Als es so weit war, bekam ich eine Mandelentzündung...«

Die weiße Welt um mich versinkt abermals. Ich stehe wieder auf dem offenen Hinterperron der Straßenbahn, zähneklappernd vor Frost und Fieber und dennoch fest entschlossen, dies einemal die eitrige Angina, die mich damals so häufig befiel, niederzuringen. Da ist wieder der Ballsaal, strudelnd in hundert Farben und Lichtblitzen, da ist sie — die unendlich Geliebte und Ersehnte — hervorschwebend aus dem Fieberspuk, die dunkle, süße Qual unseres Tanzes — ihre Augen — ihre Augen — ihr Kuß auf meinen fieber-zerrissenen Lippen — und dann der Tango, der Abschiedstango...

»Es folgten diesem Ball zwei Jahre endlosen, sinnlosen Sehnens. Dann Judiths Brief, daß sie es nicht länger ertragen könne. Ich solle sie vergessen.

Vergessen! Ein weiteres Jahr später. Ich bin ausgelernter Journalist. Vollredakteur. Gestern dazu ernannt, mit doppeltem Gehalt. Jetzt könnte ich sie ernähren, könnte ihren Eltern gegenübertreten. Ich schreibe ihr — keine Antwort. Vielleicht hat man meine Briefe unterschlagen. Wahrscheinlich sogar. Ich schütze eine wichtige Konferenz vor, fahre zu ihr hinaus. Aber als ich mich der protzigen, selbstsicheren Wucht ihres Elternhauses nähere, entschwindet mir der Mut. Ich stelle mich hinter einen Baum, beobachte das Haus, beobachte und hasse, hasse ihre Eltern, daß mir schwarz vor den Augen wird. Es war eines der ganz wenigen Male in meinem Leben, in denen ich wirklich gehaßt habe. — Dann schleiche ich mich an den hohen Büschen entlang, komme zu einer Garageneinfahrt. Plötzlich ist der Blick frei — dringt in die Tiefe des Grundstücks. Und dort, auf einem Tennisplatz — spielt sie, mit irgendeinem eleganten Tagedieb. Ich sehe ihre weiße Gestalt über den rötlichen Sand fliegen, ich erinnere mich ihrer Lippen, ihrer Arme, die jetzt hinter dem Schläger schwingen — ich entsinne mich —. Es schüttelt mich, als ob ich hohes Fieber hätte.

Dann ist da hinten die Partie zu Ende. Ich höre ihr heiseres, tiefes Lachen, ich weiche hinter das Gebüsch zurück, denn nun kommt sie Arm in Arm mit dem Kerl auf mich zu. Jetzt erst bemerke ich den roten Sportwagen, der in der Einfahrt steht. Der Motor springt an. Ich sehe die beiden durch das Gebüsch nur wie in tausend kleinen Scherben. War das nicht ein Kuß? Warum auch nicht — Herr Redakteur? Glauben Sie vielleicht, ein Mädchen wie dieses legt sich Ihretwegen jahrelang auf Eis? Dann ist der Wagen fort, und wie sie ihm noch einen Moment nachschaut, trete ich vor.

Sie erkennt mich sofort, erschrickt, sieht sich nach dem Haus um. Dann kommt sie auf mich zu, packt meinen Arm, zieht mich außer Sichtweite hinter den Busch. Widerstrebend lasse ich es geschehen: >Hast du meine Briefe bekommen?<

Ihr Auge weicht mir aus, füllt sich mit Tränen: >Ja.<

>Ja? Und warum hast du mir nicht geantwortet?<

Sie kämpft wie eine Verrückte, um irgend etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Die Knöchel ihrer Hände, die den Schläger vor die Brust drücken, sind weiß: >Es hat keinen Zweck, Hannes — es hat keinen Zweck... ich kann es nicht wieder ertragen...<

>Aber du bist volljährig, wir können...<

»Nein — nein...!< Wirft den Schläger über die Hecke, fällt mir um den Hals, küßt mich — dreht sich um und rennt zurück — weg, für immer. Ich weiß es nun.

Ich glaubte, es zu wissen. Aber so einfach war es nicht. Wieder zwei Jahre später verlobe ich mich, und diesmal war es ernst. Am Tag nach meiner Verlobung wurde mir Judith in der Redaktion gemeldet. Minutenlang starrte ich auf den Anmeldezettel, bis sich der Bote räusperte. Ich verachtete mich, weil sofort wieder alles in mir losbrach. Der alte, schreckliche, süße Zauber... >Ich lasse die Dame bitten.<

Während ich auf sie wartete, hatte ich ein Gefühl, als reiße mein ganzes Selbst von oben bis unten auseinander wie ein mürbes Tuch. Dann ist sie da, vor mir, leibhaftig in meinem Zimmer. Ich kann gerade noch hinter ihrem Rücken die Tür verriegeln, ehe sie mir um den Hals fliegt. Derselbe Kuß, dieselben vollen wilden Lippen, dieselben Augen. Noch schöner sogar, wie sie mich ansehen, in der alten Mischung von Zärtlichkeit und leisem Spott. Etwas voller die Figur, fraulicher — fraulicher —. Was hatte sie inzwischen erlebt? Wie viele Männer hatten diese Lippen geküßt — meine Lippen? Werde ich wahnsinnig, oder bin ich es schon? Was sagt sie da?

>...es war wie ein Befehl. So lange hatte ich nicht an dich gedacht, und dann plötzlich, vor zwei Tagen...<

>Vor zwei Tagen<, höre ich mich sagen, >habe ich mich verlobt.<

Das Licht in ihren Augen erlischt. Sie werden ganz tief vor Schrecken: >Das ist seltsam<, murmelt sie, >sehr seltsam, findest du nicht auch?< Sie schaudert, und ich sehe, wie sich an ihren nackten Armen eine Gänsehaut bildet. Das versetzt mich in äußerstes Entsetzen, und nun schaudere ich genau wie sie. Dann reißt sie sich zusammen: >Aber das macht nichts. Ich war inzwischen auch zweimal verlobt.<

Ich kann nur den Kopf senken vor der angstvollen Frage in ihrem Blick. Ich sehe nicht, ich fühle, wie sie den Hut nimmt — einen von ihren scheußlichen Hüten —, den sie in den Sessel geworfen hatte, wie sie zur Tür geht, klinkt, entriegelt. Da erst kann ich meinen Blick heben. Sie wendet sich noch einmal um, ihre Lippen zittern: >Wenn wir damals ein Kind gekriegt hätten...<, sagt sie mit ihrer heiseren Stimme, die nun noch tiefer und heiserer ist als sonst. >Vielleicht hätten meine Eltern nachgegeben.<

Dann war sie gegangen, und nur eine Tür war da, eine braune Bürotür mit einer Milchglasscheibe. Jetzt geht sie wieder auf, und ich fahre zusammen, als habe man hinter mir einen Schuß abgefeuert. Es ist ein Kollege, mit einem Bündel von Meldungen in der Hand: >Da ist noch ein Haufen Zeugs gekommen, den wir... mein Gott, wie siehst du denn aus? Hast du ‘nen Geist gesehen?<

>Es war leider kein Geist.< (Jetzt war sie schon unten an der Drehtür und ging hinaus — für immer.) >Es war...<

>Na, laß man<, sagt er. >Ich mach’ das schon allein.<«

Ich erwache wieder für einen Moment. Ist es das brennende, zum äußersten angespannte Interesse in Margots Augen, ist es die Bestürzung in Buddys Blick, die mich in die Gegenwart zurückgebracht? Was habe ich denn gesagt? Ach, das mit dem Kind... Hätte ich nicht sagen sollen. Das am allerwenigsten. Buddy, der mir das Versprechen gab, Margot weiterhin zu schonen, muß ja völlig irr an mir werden und — was viel schlimmer ist — an sich selbst. Ich kann nur hoffen, daß sie es nicht so direkt auf sich selbst beziehen, die beiden. Zunächst scheint es nicht so. Margot fragt nur leise: »Und das war das Ende?«

Ich erzähle weiter, froh, von der Klippe losgekommen zu sein: »Nein, es war nicht das Ende. Drei Wochen später bekam ich ihre Verlobungsanzeige mit irgendeinem steinreichen Snob — vielleicht war’s der, mit dem sie Tennis gespielt hatte. Zwei Monate später heiratete sie, und ich hörte dann nur noch in ganz großen Intervallen, daß sie nach Afrika gegangen sei, daß sie einen Sohn habe; dann überhaupt nichts weiter. Mehr als zwanzig Jahre lang.«

Eine Weile gehen wir schweigend, auf den dürren Zweigen der Uferbäume sitzen die Amselmännchen und schmettern mit gesträubten Kehlen ihre Liebeslieder. Auf den Wiesen liegt der Schnee nur noch in Flecken, zwischen denen die gelben und violetten Flammen der Krokusse hervorbrechen und ganze Familien von Märzbechern zärtlich ineinander läuten.

»Zwanzig Jahre«, sagt Margot, »mein Gott!«

»Ja, mehr als zwanzig Jahre später tauchte sie wieder bei mir auf, äußerlich noch die alte, innerlich aber ausgebrannt bis aufs letzte. Ihre Ehe war schiefgegangen, sie hatte sich Blößen gegeben, ihr Mann hatte sie aus dem Haus gejagt, ihre Eltern waren tot, ihren Sohn hatte sie zurücklassen müssen.

Sie kam — wie damals — zu mir auf die Redaktion, und wieder war es so, als hätten wir uns am Tage zuvor getrennt. Vor der entscheidenden Aussprache hatten wir beide Angst, und es war gut, daß ich zunächst alle Hände voll damit zu tun hatte, ihr wieder eine Existenz aufzubauen. Als das geschehen war und als sie sich gesundheitlich einigermaßen erholt hatte, kam dann doch der Abend, der unausweichliche, an dem wir bei einem Glas Wein zusammensaßen und nicht anders konnten, als von den alten Tagen zu sprechen, die niemals alt geworden waren.

In ihren Augen waren noch die alten goldenen Funken, als sie herüberlangte und meine Hand streichelte: >Ich habe erst, als ich allein war, gemerkt, daß ich immer nur dich geliebt habe. Ein Jahr meines Lebens hätte ich für einen Brief von dir gegeben. Ich sag’s dir jetzt, weil es sowieso zu spät ist.< Sie las in meinen Augen und schüttelte den Kopf: >Nein, mein Liebster, es ist zu spät. Du bist noch nicht mal auf der Höhe deiner Kraft, und ich bin eine Frau, die...< Sie hielt inne, und plötzlich sah ich die scharfen Linien um ihren Mund, die ergrauenden Haare an ihren Schläfen. Ihre Stimme wurde fast unverständlich: >Ich kann mich dir nicht zumuten. Ich will, daß du mich so in Erinnerung behältst, wie ich dich damals verließ... Gib mir, zum Teufel, einen Whisky. Nicht dieses läppische Glas, hol ein Wasserglas.<

Ein Jahr später heiratete sie einen Jugendfreund, den sie wiedergetroffen hatte. Konny. Ein großer, schlanker, etwas gebückt gehender Mann mit dicken Augenbrauen, ein sehr englischer Typ. Wir wurden gute Freunde. Eines Abends kam er zu mir, redete erst eine Weile herum, und dann sagte er: >Sie liebt dich immer noch. Sie hätte mich vielleicht nicht heiraten sollen. Trotzdem bin ich ihr dankbar, denn ich habe sie seit meiner Jugend geliebt, so wie du. Schade, daß das alles so schlecht zueinander paßt. Aber ich fürchte, man kann wenig machen. Hast du eine Idee?< Ich konnte nur den Kopf schütteln.

Nach einem weiteren Jahr wurde sie schwer krank. Seit dem Abend mit Konny kam ich möglichst selten zu ihnen. Ich konnte ihre Augen, die immer größer wurden, einfach nicht mehr ertragen, und besonders nicht den Blick, mit dem sie auf mir ruhten, diesen fast wahnsinnig zärtlichen, entsetzlich traurigen Blick. Und ebensowenig konnte ich die hoffnungslose Trauer und Eifersucht in Konnys Augen ertragen. Schließlich aber ging ich doch hin, denn ich hatte eine längere Auslandsreise vor mir. Ich setzte mich an ihr Bett, Konny ging taktvoll aus dem Zimmer. Wir sprachen fast nichts, sie hielt nur meine Hand, während es langsam draußen dunkler wurde. Endlich sah ich auf die Uhr: >Ich muß jetzt gehen. Im übrigen siehst du besser aus. Geht es dir auch besser?<

>Red nicht solchen Unsinn<, sagte sie mit ihrer alten, tiefen heiseren Stimme. >Bleib noch ‘n bißchen.<

>Tut mir leid, mein Lieb. Ich muß noch ‘ne Menge aufarbeiten, und morgen um sechs geht mein Flugzeug.< Ich küßte sie und ging. Aber ihr Blick ging mit mir, während der ganzen Reise, und auch jetzt wieder fühle ich ihn in mir, nach so vielen Jahren, und wie damals weiß ich keine Antwort darauf.

Als ich zwei Monate später wieder in Deutschland ankam, hörte ich, daß sie gestorben war. Konny hatte darauf bestanden, daß er als einziger hinter ihrem Sarg ging. Auf dem Friedhof hatte er die Totengräber weggeschickt, ganz allein ihren Sarg hinuntergelassen und selbst das Grab zugeschaufelt.«

Ich schrecke auf. Margot neben mir putzt sich geräuschvoll die Nase. Zwei, drei Minuten laufen wir schweigend nebeneinander her. Buddy hat sich von mir losgemacht und geht, die Hände auf dem Rücken, mit gerunzelter Stirn, auf die Erde starrend.

»Was wurde aus dem Mann?« fragt er endlich.

»Er wurde ein Jahr später bei einem Bombenangriff auf Berlin getötet.«

Buddy starrt wieder vor sich hin, schüttelt den Kopf, murmelt etwas, was ich nicht verstehe. Dann bleibt er stehen, nimmt seine Kappe ab und reicht mir mit einem ganz verwirrten Blick die Hand: »Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie so... ich glaube, ich muß jetzt Auf Wiedersehen.« Das letzte sagt er zu Margot.

Die nickt nur. Sie geben sich nicht mal die Hände.