8
Ich gehe ins Bentlersche Schlafzimmer, schließe die Fenster und drehe die Heizung auf. Es ist so kalt, daß ich meinen Atem sehe. Wird eine ganze Weile dauern, bis es sich erwärmt. Soll ich nicht auch das Bett aufdecken, damit’s schneller warm wird? Ich tue es, flüchte dann ins Eßzimmer, drehe alle Lichter an. Mir ist plötzlich angst vor dem Gedanken, da im Dunkeln zu hocken. Ich setze mich an den Tisch, zünde mir eine Zigarre an und starre auf den Rauch, der sich im Lampenlicht wölkt. Es ist ganz still. Nur ein einzelner Vogelschrei hallt unendlich in der harten Nacht. Ich entdecke, daß ich auf Addis Platz sitze. Hier, zu meiner Seite, saß Margot und neben ihr Susanne, als ich die beiden kennenlernte. Margot, ein dicker, dreijähriger Stöpsel, der sein Mittagessen mit dem Schieberchen auf dem Teller hin und her rangierte, bis Addi alles auf den Löffel packte und ihr in die verschmierte kleine Futterluke schob. Der Proppen würgte es hinunter und strahlte uns dann so selig mit seinen riesengroßen, braunen Augensonnen an, daß wir alle lachen mußten. Susanne aß schon mit Messer und Gabel und hielt den rechten kleinen Finger geziert weggestreckt. Dafür bohrte sie sich mit dem Zeigefinger in jeder unbeobachteten Minute in der Nase. Wie lange ist das her — eine Woche? Vierzehn Jahre! Und auch ich bin vierzehn Jahre älter, um den fünften Teil eines ganzen Lebens. In trunkener Rührseligkeit komme ich mir unendlich bedauernswert vor.
Wie dem auch sei: eine scheußliche Situation. Bisher war es nur eine nette Unbequemlichkeit, das mit den Mädels. Mit meiner gepumpten Vaterschaft hatte ich kokettiert und meinen Spaß daran gehabt. Plötzlich aber ist es Ernst.
Was soll nun werden? Das wird ja reizend, sagt mein anerzogener Pessimismus, wenn Addi und Teddy zurückkommen und sich dann nach einigen Wochen herausstellt, daß so ‘n kleiner Buddy unterwegs ist!
Aber sie hat doch gesagt, daß sie auf sich aufpassen wird, erwidert — ziemlich schwächlich — meine Vernunft.
Daß sie verliebt ist, mit siebzehn Jahren — ja, du lieber Himmel, das ist so natürlich wie die aufgehende Sonne. Vielleicht verliere ich sogar ihre Achtung, wenn ich mich benehme wie eine kreischende alte Jungfer. Kinder haben ja einen unverstellten Blick. Sie würde sofort durchschauen, daß es mir um mich geht, um meine Verantwortung, und nicht um sie. Ich muß versuchen, ihr wirklich beizustehen, um ihretwillen, nicht meinetwegen, mit Verständnis und vor allem mit Ruhe — Ruhe — Ruhe...
Plötzlich bin ich zum Umfallen müde und gähne, daß ich mir fast die Kinnbacken ausrenke.
Ich sehe den Zeiger der Uhr, der auf fünf steht, und weiß plötzlich, was ich mache: Ich gehe zu Bett.
Im Schlafzimmer ist es jetzt mollig warm. Soll ich vielleicht ein Held sein und das Fenster einen kleinen Spalt weit öffnen? Nein, entscheidet der Held nach dem alten militärischen Grundsatz: Warmer Mief ist besser als kalter Ozon.
Als ich erwache, legt es sich mir wie ein Stein auf die Brust: Margot und Buddy. Wenn nun schon etwas passiert ist? Was soll ich tun? Die Mama um Rat fragen? Nur, wenn alle Stricke reißen. Ich richte mich auf und kratze mir intensiv den Kopf, ohne dadurch wesentlich klüger zu werden. Wahrscheinlich rege ich mich über all das viel zu sehr auf, und vor allem ändere ich gar nichts damit.
Wenn ich jetzt wieder ins Bett zurückkriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen würde, müßte auch alles weitergehen. Und würde auch. Keine schlechte Idee übrigens. Einen Geschmack habe ich im Mund — als ob ich geleimte Pappkartons gefuttert hätte. Leberpillen nehmen. Dieser >Spözielle< vom Seiler-Maxl hat mir direkt Löcher in den Magen gebrannt. Was ist denn das da Rotes auf dem Stuhl? Ach so — meine Schärpe. Jetzt riecht’s nach Kaffee. Kein schlechter Gedanke. Na, mal aufstehen. Was für Wetter ist denn draußen?
Ich krieche aus dem Bett und rüttele am Fenster. Es ist dick zugefroren. Als ich es endlich auf habe, stößt mir Eiseskälte wie ein Messer gegen die Brust. Ich werfe nur einen flüchtigen Blick auf den See. Er besteht aus einem Wald von Dampfsäulen, die gegen einen drohend schwarzgrauen Himmel steigen. Dann drücke ich das Fenster rasch wieder zu. Mindestens zwanzig Grad. Es klopft. Margots Stimme:
»Colonel?«
»Augenblick...« Wo ist denn bloß meine Hose — da, unter dem Stuhl. Schnell mit der Hand über die Haare, dann öffne ich die Tür. Sie steht da, im Schlaf rock, etwas blaß und ernst und beängstigend liebenswert. »Ich hab’ das Frühstück fertig, Colonel!«
»Nett von dir, Kerlchen, aber ich muß, glaube ich, erst mal zu mir ‘rüber...«
»Das kannst du später.«
»Ich hab’ aber gar nichts zum Waschen...«
»Im Badezimmer sind neue Waschlappen von mir und Seife und Handtuch. Warmes Wasser ist auch schon da, und zu rasieren brauchst du dich nicht.«
Und dabei legt sie mir die Arme um den Hals und gibt mir einen Kuß. Ich schiebe sie weg, aber in meiner Brust gibt es einen Klang wie von einer kleinen Glocke. Dieses entzückende Wesen — nein, ich muß alles aufbieten, um sie zu bewahren. »Was macht denn Susanne?«
»Schläft.«
»Du bist sicher, daß sie nicht noch mal losgeflitzt ist?«
»Ganz sicher.«
»Wieso — du hast doch auch geschlafen!«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Sie nimmt meine Hand, spielt an meinen Fingern wie ein ganz kleines Kind: »Ach, Colonel...« Hebt dann den Blick, und es ist ein Blick aus vergangenen Tagen, als wir noch zusammen Pilze sammelten und Rehe beobachteten: »Eigentlich bin ich ganz froh, daß du’s erfahren hast. Da kann ich doch mal mit jemandem drüber reden...«
»Machen wir«, sage ich würdig. »Lauf mal, während ich mich zurechtmache, zur Mami ‘rüber und sag ihr, daß ich nachher käme.«
Sie dreht auf der Hinterhand um. Ich gehe ins Bad, höre von dort, wie sie den Mantel vom Bügel nimmt und die Tür öffnet. »Guten Morgen, meine Herren!« sagt sie. »Nicht so stürmisch!« Dann fällt die Haustür zu.
Fängt das schon wieder an mit den Bengels? Ich reiße die Badezimmertür auf — und herein stürzen Cocki und Weffi und springen an mir hoch. Sie haben gefrorene Tränen in den Augenwinkeln, und aus ihren Fellen dünstet die Kälte. »Ich wußte gar nicht mehr, daß es euch noch gibt«, sage ich, während ich mich niederknie, um ihnen den Schnee aus dem Fell zu klopfen und die Augen sauber zu machen.
Weffi springt auf den zugeklappten Thron, zittert mit den Hosen und reicht mir mit der Geziertheit einer Diva die Pfote. Dabei sehen seine braunen Augen still gegen den weißen Schein, der von draußen durch die Milchglasscheibe dringt. Der Löwe wirft sich vor mir auf den Rücken, läßt die lange, schwere Zunge albern aus dem offenen Rachen hängen und tatzt mit den dicken Pfoten gegen meine Beine. Da ist Liebe, einfache, unverstellte und unbedingte Liebe, die nach mir verlangt — und ich hatte sie vergessen! Vor lauter Kindergewuddel.
Ich ziehe die beiden Köpfe an mich: »Seid mir nicht böse, Jungs. Es dauert ja nur noch knappe zwei Wochen. Könnt ihr eurem Herrchen daraufhin noch ‘n bißchen Kredit geben?«
Der kleine Löwe leckt mir quer über das Gesicht. Seine großen Goldaugen glänzen vor Seligkeit, daß Herrchen sich mal wieder mit ihnen ausspricht wie früher. Weffi beginnt vor Rührung zu gähnen und umhüllt mich mit einem Wölkchen Fischduft. Worauf ich ein Stück Watte und die Zahnpasta ergreife und beiden die Zähne putze. Worauf sie ihrerseits sich schleunigst empfehlen und somit der allgemeinen Rührung ein Ende machen.
Am Frühstückstisch finde ich eine von sanfter Trauer umwehte Susanne in einem freigebig klaffenden Morgenrock und mit leicht blauen Schatten unter den Augen. Sie sieht wie ein kompletter Renoir aus. Den Morgenrock zieht sie ostentativ zusammen, als ich das Zimmer betrete.
»Brav, daß du mit deinen Reizen sparst«, sage ich, »du mußt ja das wieder einbringen, was du heute nacht ausgegeben hast.«
Sie klappert mit den Augen, während sie diesen Geistesblitz verdaut, errötet dann, lacht und ist plötzlich wieder meine gute, alte Susanne, frisch und lieb wie eine Wiesenblume. »Ach, Colonel!« sagt sie, läßt den Morgenrock klaffen und gießt mir Kaffee ein.
»Wenn du gelegentlich mal ‘n bißchen Zeit hast«, sage ich, »kannst du dir die Spitze an deinem Nachthemd annähen.«
Sie zieht das Hemd vom Körper weg und besieht sich den Defekt: »Ach, wer sieht mich denn schon so!«
»Na, ich zum Beispiel!«
»Du bist doch der Colonel. Genug Sahne?«
»Danke. Also, ich bin nur der Colonel. Demnach gehöre ich also in deinen Augen zum Inventar und rangiere irgendwo zwischen Staubsauger und Zahnbürste.«
»Aber Colonel!« Sie gibt mir einen Kuß, daß der Kaffee überschwappt, und macht Miene, sich auf meinen Schoß zu setzen.
Ich kann sie gerade noch abfangen: »Laß das mal heute morgen. Dem fühle ich mich mit diesem Magen nicht gewachsen. Statt dessen sag mir mal etwas genauer, wer dieser merkwürdige Gorilla war, den dein verbeulter Held da im Schlepptau hatte? Der krebst doch schon eine ganze Weile hier herum.«
Sie setzt sich wieder hin, bestreicht ein Brötchen und sieht plötzlich überraschend intelligent und vorsichtig aus: »Das ist Walter.«
»Aha — Walter. Nun weiß ich’s genau. Ich meine, was ist er? Er ist doch schon viel zu alt fürs Gymnasium.«
Die Marmeladendose scheint sie ganz ungewöhnlich in Anspruch zu nehmen: »Ach, der Walter ist ein armer, unglücklicher
Mensch.«
»Das ist zwar sehr bedauerlich, aber kein Beruf. Wovon lebt er, und was hat er mit Fred zu tun? Die beiden passen doch überhaupt nicht zusammen.«
Mit einemmal wird sie lebendig: »Ach, wenn du wüßtest, Colonel, was das für ein fabelhafter Freund ist! Der geht für Fred durchs Feuer! Und Fred...« Sie stoppt und beißt in das Brötchen, daß es kracht.
Offenbar geht’s hier nicht weiter. Ich ändere die Angriffsrichtung: »Apropos Fred: Was sind eigentlich seine Eltern?«
Sie würgt einen Riesenbrocken hinunter und hat daraufhin Tränen in den Augen: »Sein Vater ist tot.«
»Weinst du deswegen?«
»Nein, wegen der Semmel.«
»Das ist die erste Antwort, mit der ich was anfangen kann. Also, der Vater ist tot. Das ist auch sehr bedauerlich, genau wie der unglückliche Walter. Man kann aber ebensowenig davon leben.«
»Die Mutter lebt noch.«
»Prächtig. Und wovon?«
»Na, der Vater hatte doch die große Textilfabrik da bei Düsseldorf!«
»Es gibt Menschen, geliebter Hammel, denen das nicht bekannt ist. Zum Beispiel mich. Also, die Mutter hat die Fabrik geerbt...«
»Nein, Fred!« Sie richtet sich auf und betrachtet mich mit milder Nachsicht: »Die Mutter ist nur der Nichtsnutz.«
»Der — was? Ach, du meinst, sie hat die Nutznießung.«
Sie sackt wieder zusammen und wird rot: »Ja, den Nieß oder wie das heißt.« Dann schwillt sie erneut an: »Fred sollte eigentlich mit einundzwanzig Jahren die Fabrik übernehmen und jetzt schon dafür ausgebildet werden. Er will aber erst das Abi machen.«
»Das halte ich für sehr vernünftig.«
»Ja, nicht wahr? Und er hat den Führerschein gemacht und sich ein eigenes Auto gefordert, und das schicken sie ihm jetzt herunter.«
»Das halte ich für weniger vernünftig.«
Ihr Blick ist völlig fassungslos: »Aber Colonel! Das ist doch schick! Diese Woche kommt es, und wir fahren gleich alle nach Innsbruck damit!«
»Nicht, solange ich euch unter der Fuchtel habe, geliebtes Wesen.«
»Aber — Colonel, das kannst du doch gar nicht machen! Ich habe doch schon zugesagt!«
»Dann sagst du eben wieder ab.«
In diesem Augenblick platzt Margot herein. Sie hat kreisrunde rote Flecke auf den Wangenknochen: »Kinder, ist das eine Kälte! Der Wurzelsepp kam gerade vorbei, und er hat gesagt, heute früh wären siebenundzwanzig Grad gewesen! Jetzt sind’s noch zwanzig! Wenn wir nachher gehen, Colonel, mußt du dir das Gesicht mit Vaseline einschmieren.«
»Er will uns nicht mit Freds Wagen fahren lassen«, knautscht Susanne.
Margots Augen schießen schnell zwischen ihr und mir hin und her und kehren dann mit sichtlicher Verachtung zur Schwester zurück: »Warum hast du ihm das gesagt?« (Aha, ich sollte offenbar auf eine geschickte Art, und zwar von Klein-Margot, auf den Rücken gelegt werden!)
Sie reißt sich den Mantel herunter, wirft ihn über einen Stuhl und stemmt die Arme in die Hüften: »Es war großartig, drüben bei dir, Colonel! Stell dir vor, diese Nuß, diese Schwedin, hat ganz nackicht auf deiner Couch geschlafen!«
»Weiß ich«, entfährt es mir, »und was weiter?« Die beiden starren mich an. Ich fühle, wie ich erröte, und versuche, die Situation zu retten: »Ich war für einen Moment drüben, ehe ich mich um euch kümmerte.«
Susannes Augen werden wie Teller. Sie rafft wieder den Schlafrock über der Brust zusammen. In Margots Blick aber kommt ein Glitzern komplicenhaften Verständnisses. Sie sieht auf die Schwester hinunter: »Warum soll der Colonel nicht zwischendurch mal nach Hause gehen? Das konnte er doch nicht ahnen! Außerdem brauchst du gar nicht deinen Kittel zu raffen, er hat bestimmt schon viel schönere Frauen gesehen als dieses schwedische Plättbrett und dich.«
Susanne errötet unter diesem Tadel, läßt den Schlafrock wieder klaffen und wendet sich aufsässig gegen die Schwester: »Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen! Natürlich kann der Colonel nichts dafür, wenn die so daliegt.« Pause. Und dann mit Emphase: »Außerdem ist ja seine Frau verreist.«
Sie blickt voller Stolz über diesen Geistesblitz um sich. Worauf Margot vor Lachen fast erstickt, auf einen Stuhl fällt und nach Luft schnappt. Ich klopfe ihr aufs Knie: »Wenn du dich beruhigt hast, kannst du mir freundlicherweise weitererzählen, was sich drüben sonst noch tut.«
Sie wischt sich mit dem Handrücken die Nase und mit dem Taschentuch die Augen: »Drüben — ja, also, das war ganz groß! Als ich ‘reinkam, steht die Omi in der Diele, mit Eimer, Putzlumpen und der alten Schürze, die du immer zerschneiden willst. >Die Herrschaften da drinnen haben geruht, sich zu erheben<, sagt sie, >und ich warte hier im Vorzimmer, bis man mir gestattet, den Dreck der Herrschaften wegzuputzen.< Kannst du dir das vorstellen, Colonel?«
Ich könne es mir genau vorstellen, erkläre ich grimmig. »Nur finde ich es keineswegs ganz groß.«
»Na, das doch nicht, sondern das, was jetzt kommt. »Das wollen wir doch mal sehen<, sage ich und marschiere in die Zimmer. In Tante Anettes Zimmer hatten sich der dicke Brandt und der Jérôme gerade die Hosen angezogen. In der Bibliothek machte der Jimmy — (zu Susanne:) dein roter Südseeruderer! — Kniebeugen, und dieses Schwedenmädchen stand in deinem Zimmer, Colonel, fix und fertig angezogen und sah ihm zu. Ich sagte: »Guten Morgen!< Der Jimmy riß die Augen auf, grinste, schüttelte mir die Hand und erklärte, ich käme ihm bekannt vor. Das Plättbrett tat, als wäre ich eine Fliege, und sagte: »Come on, Jimmy, let’s go!< Worauf ich sie in meinem besten Englisch fragte, ob sie vielleicht die Absicht habe, die ganze Unordnung, die sie in deinem Zimmer angerichtet habe, so zu hinterlassen. Und ob sie etwa glaube, daß eine zweiundachtzigjährige alte Dame, die ihr freundlicherweise für diese Nacht Unterschlupf gegeben habe, ihren Dreck wegputzen werde. Du hättest sehen sollen, wie ihr die Spucke wegblieb! Sie murmelte nur — diesmal konnte sie plötzlich Deutsch —, daß mich das doch wohl nichts anginge. >Nein<, sagte ich, »mich geht’s bestimmt nichts an, aber Sie geht es was an!« Worauf der Jimmy erklärte, er sei zwar ganz froh, daß er mir keinen Heiratsantrag gemacht hätte, aber immerhin hätte ich recht, und die Schwedin — das Plättbrett heißt übrigens Svea, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte —, die sollte also nicht so komisch sein, und er würde ihr helfen. Ich also wieder ‘raus, der Omi Eimer, Besen und Lappen weggerissen, ihr die Schürze abgebunden und sie ‘naufgeschickt. Ich dann mit dem ganzen Handwerkszeug ‘rein, es den beiden hingestellt, ‘rauf, den Staubsauger dazugeholt, ‘rein in Tante Anettes Zimmer und die beiden Herren dort organisiert. Die machten auch erst Kulleraugen, aber dann begriffen sie und begannen Betten zu bauen. Jérôme murmelte sogar was davon, daß er der netten alten Dame Konfekt schicken wollte. Ich bin dann noch mal bei der Omi oben gewesen. Sie hatte schon wieder eine Schürze um und sah ganz enttäuscht aus.«
»Na, dann wollen wir mal weiter frühstücken«, erkläre ich. »Auf jeden Fall hast du das großartig gemacht, Margot.«
Wir knien uns in Toast, Butter und Marmelade, schlürfen laut den Kaffee und blinzeln in die graue Helle draußen. Keiner spricht ein Wort. Es ist urgemütlich. Dann klingelt draußen ein Fahrrad. Susanne ist mit einem Ruck hoch, aber ich bekomme sie am Arm zu fassen und ziehe sie wieder auf den Stuhl: »Du bleibst schön sitzen. Ich sehe nach.«
Es ist Thomas. Er hat sein reichlich dünnes Mäntelchen dicht um sich gezogen und ganz blaue Hände. Ob es den jungen Damen gut gehe und ob es ihnen bekommen sei. Es gehe ihnen gut und sei ihnen prachtvoll bekommen, erkläre ich. So prachtvoll, daß sie mindestens bis nach dem Mittagessen allein und ungestört bleiben möchten.
»Susanne auch?« fragt er verblüfft.
»Susanne ganz besonders.«
Ja, dann wolle er bloß noch sagen, daß es dem Fred auch ganz gut gehe, nur das Auge sei noch ganz zu, und er müsse Umschläge machen. Ob ich das der Susanne bestellen würde?
»Mache ich. Befinden gut — Auge zu. Sonst noch was?«
Der Wind pfeift, er zupft den Kragen noch höher: Nein, das wäre alles, und vielen Dank. — Ich sehe mir sein gutes offenes Gesicht mit der dicken, roten Nase an. Irgend etwas, fühle ich, ist an der Situation nicht in Ordnung. Aber wenn ich ihn jetzt ‘reinlasse, geht er nicht wieder. Oder er geht, und fünf Minuten später ist die ganze Blase auch da. Und ich muß doch unbedingt die beiden Mädels erst auf Vordermann bringen! Aber er friert, der arme Kerl. Seine Mutter ist die Witwe des Dorfschneiders, und er verdient etwas dazu, indem er im Sommer Koffer für die Feriengäste trägt, Brötchen für die Bäckerei ausfährt und im Winter für die Villenbesitzer im Oberdorf Schnee schippt. Schnee schippt! Plötzlich fällt mir mein alter Wintermantel ein. Aber man muß vorsichtig sein mit solchen Geschenken. Menschen in dieser Situation haben eine dünne Haut über ihrem Stolz. Gerade die Anständigen.
»Hör mal zu, old man«, sage ich. »Willst du mir ‘n großen Gefallen tun?«
Er versichert erwartungsvoll, daß er es wolle.
»Dann schaufel mir die Garageneinfahrt frei. Ich mach’s ja sonst selbst, wie du weißt, aber ich verliere mit den Mädels jetzt soviel Zeit.« Ich zögere und gebe mir den Anschein von Verlegenheit: »Allerdings kann ich dir im Moment nichts zahlen. Bei Schriftstellern ist zwischendurch immer wieder mal Ebbe in der Kasse.«
Er versichert mit verständnisvollem Schmunzeln, daß er diesen Zustand kenne. Er sei bei ihm zu Hause sogar sozusagen Dauerzustand. Ich sollte mir deswegen nur nicht den Kopf zerbrechen.
Das täte ich aber ganz entschieden in diesem Fall, erkläre ich. Und da möchte ich ihm ein Geschäft vorschlagen. Ich könnte ihm statt der Bezahlung einen alten Wintermantel geben. Bei mir sei er nur im Wege, und wenn er ihn nicht selber behalten wolle, könne er ihn vielleicht verkaufen.
Er sieht mich mißtrauisch an. Als ich aber unverändert kummervoll aus der Wäsche gucke, entscheidet er offensichtlich, daß ich die Sache genauso meine, und wird ganz rot vor Aufregung. Das sei doch aber viel zuviel!
»Quatsch. Kein Mensch gibt einem heute was für alte Sachen. Komm gleich mit ‘rüber.«
»Ich will nur Fred und den anderen Bescheid sagen! Bin sofort wieder da!«
»In Ordnung.«
Den Mädels — die hinter den Scheiben geklebt haben — erkläre ich das Tagesprogramm und gehe dann zu mir hinüber. Die Mama öffnet, noch immer enttäuscht, daß sie ihre Glanzrolle >Greise Mutter schaufelt Dreck fremder Bildhauer< nicht hat spielen können: »Wird ja Zeit, daß der Herr auch mal wieder nach Hause findet!«
Ich küsse sie auf die Stirn: »Reines Raffinement meinerseits, Mulleken. Der verlorene Sohn steht doch höher im Kurs als zehn Gerechte — oder so ähnlich. Ist die Bande endlich weg?«
»Die Jeunesse dorée ist bereits abgeflattert, aber das alte Pony (Bildhauer Brandt mit Bert-Brecht-Frisur) rumort immer noch in Frauchens Zimmer. Vielleicht sucht er nach ihrem Schmuck. Geh mal ‘rein.«
»Den Schmuck hat sie mitgenommen, Pessi. Außerdem verdient der Kerl mit seinen durch die Mangel gedrehten Neandertalern niedrig gerechnet doppelt soviel wie ich. Aber ich schau’ trotzdem mal nach.«
Im Zimmer sehe ich zunächst nur Brandts dickes Hinterteil und seine Schuhsohlen. Der Rest steckt unter dem Bett. Als er die Tür klappen hört, richtet er sich auf. Mit der Frisur und den dicken Säcken unter den Augen sieht er wirklich wie ein altes Pony aus.
»Sie ist weg!« sagt er.
»Wer — die Schwedin?«
»Idiot! Die Brieftasche!« Er steht auf, kratzt sich den Kopf und sieht sich im Zimmer um.
»Vielleicht hat sie einer von deinem Gang eingesteckt?« frage ich. »Die kleine liebe Schwedin zum Beispiel.«
»Blödsinn. Warum? Außerdem habe ich sie gefragt.«
Sein fester Glaube an die Anständigkeit seiner Mitarbeiter beschämt mich: »Kannst du dich denn nicht entsinnen, wann du sie das letztemal hattest?«
»Wenn ich das wüßte, würde ich nicht hier in deiner Bude ‘rumkriechen.«
»Na, hast du denn drüben die Rechnung bezahlt?«
»Weiß ich nicht.«
»Hast du vielleicht was an der Bar getrunken?«
»Ja — ‘n Cognac.«
»Und bezahlt?«
»Warte mal — ja, doch, ich hab’n bezahlt. Es war ein dolles Gedrängel, und so ‘n Kerl mit enormen Schultern hing noch halb auf mir drauf und wurde pampig, als ich ihn wegschob. Da hab’ ich bezahlt. Also muß sie noch dagewesen sein!«
»Und nachher — hier, beim Ausziehen? Legst du sie bei dir daheim immer irgendwohin, auf den Nachttisch zum Beispiel, oder läßt du sie im Anzug?«
»Ich leg’ sie immer auf den Nachttisch.«
»Kannst du dich erinnern, ob du’s heute nacht auch getan hast?«
»Nein — das heißt, doch — das heißt, nein — ich meine, sie war nicht mehr da! Ich habe sie nicht gefunden, jetzt fällt’s mir ein!« Er betrachtet mich mit erschrocken aufgerissenen Augen: »Mensch, die ist mir geklaut worden, da an der Bar!«
»Möglich.«
»Möglich? Ganz sicher! Was soll ich jetzt machen?«
»Wieviel war drin?«
»Na — ‘ne ganze Menge, zwei- oder dreihundert Mark. Viel hatte ich nicht ausgegeben.«
»Dann würde ich dir raten, ‘rüberzugehen und es dem Wirt zu sagen. Vielleicht hast du sie danebengesteckt, und man hat sie gefunden.«
»Kannst du das nicht für mich machen?«
»Meinetwegen.«
»Schön. Dann haue ich jetzt ab.«
Kaum ist Brandt weg, da klingelt Thomas. Seine Brust hebt und senkt sich heftig. Offenbar ist er den Weg zurück wie wild gestrampelt.
»Ach, richtig, Thomas«, sage ich möglichst gleichgültig. »Geh schon immer in die Garage und nimm dir den Schneeschieber. Ich hole den Mantel.«
»Was für einen Mantel?« fragt der Schloßgeist von oben über das Geländer. Ich schiebe Thomas schnell auf die Garagentreppe und gehe hinauf. Nach kurzer Zeit habe ich die mütterlich-pessimistischen Bedenken über die Weggabe eines — nach einem Weltuntergang immerhin vielleicht noch verwendbaren — Kleidungsstückes besänftigt. Sie will sogar durchaus noch schnell eine aufgeplatzte Naht zunähen und kann nur durch den Hinweis davon abgebracht werden, daß Thomas’ Mutter ja schließlich die Witwe des Dorfschneiders ist.
Dann bringe ich Thomas den Mantel. Er muß ihn oben in der Diele vor dem Spiegel anziehen und wird ganz stumm vor Stolz. Schnell saust er wieder hinunter und betritt hinter mir mit geschultertem Schneeschieber den Garten.
»Schau mal an«, sage ich, »du hast Konkurrenz!«
Drüben vor Bentlers Haus ist eine Gestalt im ärmellosen Lederkoller tätig: Wieder mal der Reiserer-Franz. Wir schütteln uns im Dreieck feierlich die Hände. Dann gehe ich hinein und die beiden Schnee-Experten an ihr Werk.
Drinnen finde ich Susanne im Mädchenzimmer am Fenster über eine Näherei gebeugt. Die kalte Wintersonne fällt auf ihr Haar und läßt es wie eine Gloriole um ihren schmalen Kopf flammen. Prachtvolle Gegenlichtaufnahme, geht es mir durch den Kopf. Laut sage ich: »Draußen schippt wieder dein Reiserer-Franz.«
Sie wirft die Lippen auf: »Mein Reiserer-Franz! Von mir aus kann er schippen, bis er ‘n Meter kürzer ist.«
»Eigentlich müßtest du die Einfahrt freischaufeln. Das ist dir doch wohl klar.«
»Das ist mir gar nicht klar. Margot kann ja...«
»Margot kann gar nicht, denn sie geht jetzt mit mir weg. Außerdem ist nicht sie aus dem Fenster geklettert, sondern du!«
In ihren Augen funkelt Spott, ein allerdings etwas unsicherer Spott: »Also Strafarbeit!«
»Sehr richtig, an Stelle von Popo voll, was eigentlich verdient.«
Darüber will sie sich nun vor Lachen ausschütten: »Popo voll vom Colonel!«
»Auch könnte ich es ja den Eltern schreiben«, meine ich.
Worauf sie verstummt.
»Also«, fahre ich fort, »entweder läßt du den Franz weiterschippen und sagst ihm jetzt wenigstens danke, oder du schaufelst selbst.«
Sie mustert mich prüfend: »Warum willst du das eigentlich, Colonel? Glaubst du vielleicht, der Franz wäre ein Mann für mich?«
»Erstens gehört es ganz einfach zu den guten Manieren, daß du dich bedankst, wenn du etwas annimmst. Zweitens ist es besser für dich, wenn du diese Manieren von deinen Eltern oder von mir beigebracht kriegst, als später von deiner Schwiegermutter. Schwiegermütter beharken nämlich dieses Thema mit Vorliebe. Drittens gibt es schlechtere Männer als den Franz für dich. Wenigstens liebt er dich treu und aufrichtig und ist ein festes, gesundes Mannsbild und kein so tiefschlagender Spargel wie dieser Fred.«
»Der Franz — ha! Ein Tischlergeselle!«
»Er wird mal Tischlermeister und hat ein eigenes Geschäft. Was für einen Prachtberuf wirst du denn haben, daß du so auf ihn ‘runtersiehst?«
»Ich? Püh — Luft-Stewardeß.«
»Na, so was Originelles! Ich glaube, es gibt ungefähr zwei Millionen Luft-Stewardessen-Anwärterinnen in der Bundesrepublik. Mit der Absicht, entweder einen schneidigen Flugkapitän oder einen südamerikanischen Millionär mit angegrauten Schläfen zu heiraten. Stewardeß! Mit einer Vier in Französisch und einer Fünf in Englisch!«
»Laß noch was von ihr übrig«, sagt Margot hinter ihr. »Ich bin fertig, gehen wir?«
»Ich gehe erst, wenn diese junge Dame sich entschieden hat, was sie machen wird.«
»Na schön«, sagt Susanne, legt die Näherei zusammen und steht auf. »Wie du willst.« Sie geht zur Tür und wackelt mit den Hüften: »Ich werde deinen Franz zum Aufwärmen hereinbitten, und wenn er dann aus der Rolle fällt, während ihr nicht da seid, ist es nicht meine Schuld.«
Ich packe sie am Handgelenk: »Reiz mich nicht, Susanne! Verstanden?«
»Ich — ich wollte ja nicht, Colonel...«
Ihre Schnippischkeit zerstiebt, als sie mein Gesicht sieht:
»Das ist sehr klug von dir, mein Kind. Das da draußen ist nämlich ein ausgewachsener Mann, und was er am allerwenigsten verdient, ist, daß du mit ihm spielst. Du wirst dich jetzt bei ihm bedanken, auch für die Schallplatten, die er dir geliehen hat und nach denen ihr hier mit den anderen Bengels tanzt, ohne daß ihr ihn dazunehmt. Und dann wirst du sehr schön wieder in dein Zimmer gehen und dich mal spaßeshalber mit dem englischen Aufsatz beschäftigen. Ich habe nämlich gesehen, daß er drüben auf dem Tisch liegt und immer noch nicht zu Ende geschrieben ist. Wenn ich mit Margot wiederkomme, ist er fertig, begriffen? Außerdem möchte ich, bis dieses freudige Ereignis eingetreten ist, weder Fahrräder noch Spargel mit blau gehauenen Augen noch Gorillas hier im Garten vorfinden.«
Sie salutiert: »Zu Befehl!« Aber es fällt gar nicht ironisch, sondern ziemlich jämmerlich aus, und als ich die Tür öffne, nimmt sie meine Hand: »Tut mir leid, Onkel Hansi. Sei mir nicht böse!«
Onkel Hansi! Plötzlich verwandelt sich das Weib da vor mir in einen kleinen, goldlockigen Stöpsel, der mich als Hottepferd benutzte und den ich mir manchmal von den sehr erleichterten Eltern für eine Spazierfahrt auslieh, weil dann Leute, die mich nicht kannten, ihn für meine Tochter hielten. Onkel Hansi... Wie die Jahre rasen — beängstigend. Ich gebe ihr einen Kuß auf die Nasenspitze: »Freut mich, daß wir uns so gut verstehen, holde Gans.«