11

Margot neigt sich mit glühenden Augen vor, das Kinn in die Hand gestützt: »Wie alt war sie denn?«

»Vierzehn.«

Susanne reißt die Augen auf: »Na — das ist ja...«

In mir aber beginnt es wieder zu summen. Ein Balkon ist da, unser Balkon, draußen die Nachmittagssonne eines frühen Sommertages. Ich sitze und mache Schularbeiten. Und auf dem Nachbarbalkon...

»Es passierte unmittelbar nach der Geschichte mit Steffi. Etwas von diesem ersten Poussageversuch war nämlich trotz aller Soldaten in mir haftengeblieben, außerdem war es inzwischen Frühsommer geworden, und wenn ich abends mit gefurchter Stirn und nach lyrischen Inspirationen suchend über die Plätze strich, saßen überall die verliebten Pärchen auf den Bänken. Plötzlich beneidete ich sie und wurde ganz schwermütig.

Die Sache selbst fing aber nicht abends an, sondern an einem Nachmittag, an einem sehr warmen, schönen Tag.

Ich saß also auf dem Balkon, machte Schularbeiten und ärgerte mich, daß ich bei diesem schönen Wetter Mathe ochsen mußte. Was meiner Ansicht nach sowieso keinen Zweck hatte, weil ich’s doch nicht begriff. Und wie ich so an meinem Federhalter kaute, räusperte es sich auf dem Nebenbalkon. Es war gar kein richtiges Räuspern, sondern so ein künstliches, das merkte ich gleich. Ich stand auf und sah durch unsere Petunien hinüber. Der Nebenbalkon war unmittelbar neben dem unseren, nur durch die Regenrinne getrennt, und da saß Erika und malte eifrig an einer Schularbeit. Ich kannte sie natürlich, hatte sie aber bisher wenig beachtet, weil sie sich fast nie an unseren Spielen auf der Straße beteiligte. Ihr Vater war irgendwo Direktor, und offenbar hielten die Eltern sie für zu gut, um mit uns zu spielen.

Als ich sie eine Weile angesehen hatte, schaute sie auf, und plötzlich bemerkte ich, wie hübsch sie war. Dieses herzförmige Gesicht, haselnußbraune Augen, der Mund wie eine Kirsche, diese schönen Farben und die kleinen Hände und der Goldschimmer in ihrem Haar, das sie jetzt nach hinten strich — sie lächelte mich an und wurde noch hübscher: >Auch Schularbeiten?«

>Hm<, grunzte ich nur und starrte sie an.

>Geht’s nicht richtig?<

>Nee.<

>Was ist es denn?<

>Mathe. Kannst du Mathe?<

>Ja. Aber ich kann dir leider nicht helfen.<

>Natürlich nicht<, sagte ich mit erwachtem Stolz. Was die sich einbildete! Aber verdammt hübsch war sie trotzdem. Sie lehnte sich zurück und reckte gähnend die Arme: >Ach, ich hab’ auch keine Lust mehr!< Sie sah mich kokett an: >Weißt du was? Schreib mir doch ‘n Liebesbrief!<

>Einen... na schön. Aber dann mußt du mir auch einen schreiben.<

Worauf wir uns beide ans Werk machten. Erst wußte ich überhaupt nicht, was ich schreiben sollte. Aber dann überkam mich der Geist, und es wurde ein umfangreiches Gedicht. Die Verse flossen mir nur so zu, es reimte sich herrlich, und ich hörte erst auf, als sie mich schon dreimal von drüben gefragt hatte, ob ich denn immer noch nicht fertig sei.

>Du mußt eine richtige Adresse draufschreiben<, sagte sie, als ich wieder ans Geländer kam. >Und dann stecken wir’s hier hinter die Regenrinne, das ist unser Briefkasten!<

Ich tat wie geheißen, und beide steckten wir nacheinander mit ernsten Gesichtern die Briefe hinter die Regenrinne. Dann gingen wir für einen Augenblick an unsere Tische, und dann standen wir wieder auf und holten die Post ab.«

»Was hatte sie denn geschrieben?« fragt Susanne, worauf sie von Margot einen Knuff bekommt, weil sie mich schon wieder unterbrochen hat.

»Das weiß ich heute nicht mehr genau. Irgendwas — ich sei ein netter Junge, und sie hätte mich schon eine ganze Weile beobachtet. Jedenfalls, gerade als sie beim Lesen war, ging hinter ihr die Balkontür auf, und ihre Mutter erschien. Erika konnte eben noch mein Gedicht in ihrer Bluse verschwinden lassen.

Die nächsten Tage war ich wie betrunken. Endlich war es mir gelungen, verliebt zu sein! Ich gefiel mir ganz außerordentlich in diesem Zustand, und meine Phantasie schlug Wellen. Selbstverständlich würde ich Erika heiraten. Das stand fest.«

Susanne kringelt sich vor Lachen: »Du bist aber komisch, Colonel! Warum denn, um Himmels willen?«

»Tja, warum — ich glaube, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, daß so etwas mal zu Ende sein könnte. Eine Liebelei anfangen mit dem vollen Bewußtsein, daß es nur für eine Zeit ist — unmöglich!«

Susanne macht runde Augen: »Ach!«

Margot mustert mich sehr interessiert. Ich habe das Gefühl, irgend etwas verpatzt zu haben, und fahre hastig fort:

»Am nächsten Nachmittag saß ich mit einem derartigen Eifer über meinen Heften auf dem Balkon, daß die Mama ganz gerührt war. Sie wies mehrfach darauf hin, daß es doch gar nicht so warm sei, ich aber erklärte, daß mir nicht nur warm, sondern brühheiß sei — und das war nicht mal gelogen. Dann kam mir eine Idee: Ich würde ein Rendezvous mit Erika verabreden, diesmal ein richtiges, zu dem ich auch hinging. Ich kritzelte einen Brief: >Heute um sechs Uhr Rendezvous auf dem Lindenplatz?< und steckte ihn hinter die Regenrinne.

Dann kam wieder meine Mama, übrigens eine erschreckend blasse und durchsichtige Mama, und sagte mir, ich sollte mich ins Zimmer setzen, damit ich ein eventuelles Klingeln hören könnte. Sie müßte zum Kaufmann, dort gäbe es vielleicht eine Extrazuteilung Kunsthonig. Es war nämlich das Jahr 1917, eines der fürchterlichsten Hungerjahre des Ersten Weltkrieges. Wir lebten hauptsächlich von Graupen und Backpflaumen, die die Mama und die Großmutter in Näpfen aus der Volksküche heranschleppten. Das heißt von den Backpflaumen waren nur die Kerne und so ‘n paar Fusseln drin. Wer die Pflaumen bekam, haben wir nie erfahren.

Draußen tobte die Flandernschlacht mit Hunderttausenden von Toten. Aber nichts von alldem focht mich an — ich hatte nur eines im Kopf: die Balkontür da nebenan.

Ich setzte mich also hinein, bis die Mama weggegangen war. Dann gleich wieder ‘raus. Da — endlich die Balkontür! Ihr Gesicht — die großen braunen Augen sahen ernst aus, und sie legte den Finger auf den Mund. Ich wies schweigend auf die Regenrinne. Sie tat, als ob sie an den Blumen röche, griff schnell den Brief, ließ ihn wieder in ihrem Ausschnitt verschwinden. >Arbeitest du heute nicht draußen?< flüsterte ich. Kopfschütteln. Und dann, wie ein Hauch: >Warte!< Sie ging hinein. Was war los? Hatte ihre Mutter was gemerkt? Wahrscheinlich war es ihr nur zu kühl, um Erika draußen arbeiten zu lassen. Ich fröstelte — zum Sitzen war es tatsächlich reichlich kühl. Da — wieder die Balkontür — Erika sagte offenbar absichtlich laut etwas über die Schulter ins Zimmer zurück. Dicke Luft also! Ich blieb in Deckung. Dann raschelte es an der Regenrinne. Die Tür schloß sich wieder. Eine Sekunde später hatte ich ihren Brief in der Hand: >Um sechs — aber ich muß um sieben zum Abendbrot daheim sein!<

Ich sah auf meine flache, goldene Einsegnungsuhr, die ich an einem Studentenzipfel trug in der stillen Hoffnung, gelegentlich für einen Studenten gehalten zu werden. Vier Uhr erst! Wie sollte ich das bloß bis sechs aushalten!

Um sechs Uhr am Lindenplatz! Da sind sie wieder, die jungen Linden, im Rechteck um Rasen und Bassin gepflanzt. Der Sonnentag ist schon ganz leise im Welken, und die Sonne scheint schräg über das Wasser des Bassins, daß es mit tausend Flämmchen in den Augen sticht. Noch im vorigen Jahr habe ich meine Schiffe hier schwimmen lassen, das Linienschiff, das eine richtige kleine Dampfmaschine hatte, und die holländische Schute mit den Seeräubern an Bord. — Ringsum die große Hecke mit den tiefen Einschnitten. In jedem Einschnitt eine Bank. Der Platz ist fast leer. Kinder und Mütter sind zu Hause, Männer kaum noch in der Heimat. Ein abgemagertes Pferd schleppt eine Droschke über den Asphalt. Klapp-klapp — gehen seine müden Hufe. Dann ist es wieder so still, daß man die Spatzen in den Büschen tschilpen hört. Ich renne schon seit einer halben Stunde auf und ab und sehe alle fünf Minuten nach der Uhr. Und dann sehe ich sie — ein winziges weißes Figürchen, ganz in der Ferne am Anfang der Straße. Aber ich weiß, sie ist es — und mein Herz beginnt so zu schlagen, daß meine Kehle ganz trocken wird und es mir vor den Augen flimmert...

Darm standen wir uns gegenüber, reichten uns die Hand. Es war eine kleine, feste Hand, die kräftig zudrückte.

Wir fanden eine leere Bank in der tief eingeschnittenen Hecke. Zweige verdeckten den Ausblick auf das Bassin. Wir sahen uns an und wußten nicht, was wir reden sollten.

>Du bist noch ganz außer Atem<, sagte ich schließlich.

>Ja, immer noch! Ich bin so gerannt — fühl mal, wie mein Herz klopft!< Und sie nahm meine Hand und legte sie unbefangen auf ihr Herz. Es schlug wirklich ganz fürchterlich, man spürte es deutlich. Ich wagte die Hand nicht zu bewegen.

>Ja<, sagte ich, >da wären wir...<

>Ja, da sind wir.<

Sie hatte meine Hand noch in der ihren, legte sie jetzt auf ihren Schoß und sah sie an: >Du könntest dir mal die Nägel sauber machen<, meinte sie.

Ich zog die Hand weg: >Entschuldige — aber — es ging so schnell...<

>Meine Mutter sagt immer, man soll den Männern auf die Hände gucken. Du brauchst dich gar nicht zu genieren, abgesehen von den Nägeln hast du eine hübsche Hand.< Sie hielt mir die ihre hin: >Wie gefällt dir meine Hand?<

Ich sah sie an, und dann kam mir eine Idee. Ich führte sie an die Lippen! Sie riß sie mir weg und wurde rot: >Na, du bist wohl nicht gescheit!<

Ich holte mir die Hand wieder, und dann nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte: >Wir müssen uns jetzt einen Kuß geben!<

Sie betrachtete mich zweifelnd: >Meinst du?<

>Ja, unbedingt!<

Sie blickte rasch um sich — aber die Hecke umschloß uns dicht. Niemand achtete auf uns. >Na, denn los!< sagte sie, machte die Augen zu und hielt mir ihre Lippen hin. Und ich küßte sie. Erst ganz flüchtig. Sie roch wie ein frischer Apfel. Dann gab ich ihr einen langen Kuß.

Als wir auseinanderwichen, wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund und sah mich mißtrauisch an. Ihre Augen waren jetzt ganz dunkel: >Bist du jetzt zufrieden?<

>Es wird schon werden<, sagte ich, >wir müssen’s nur noch ein paarmal versuchen.<

Sie nahm wieder meine Hand, betrachtete sie einen Augenblick, dann sah sie mich ernst an: >Jetzt sind wir, glaube ich, verlobt.<

Ich erschrak selig: >Meinst du?<

>Doch, doch! Meine Mutter sagt, Verlobte küssen sich. Wir haben uns geküßt, also sind wir verlobt.<

>Das ist logisch. Und was weiter?<

>Wieviel verdienst du?<

Ich starrte sie entgeistert an, und dann errötete ich: >Zwei fünfzig die Woche, Taschengeld.<

Sie seufzte: >Das ist wenig. Da wird’s noch eine lange Weile dauern, bis wir heiraten können.<

>Wirst du auf mich warten?<

>Ja.<

Damit war eigentlich alles gesagt, fand ich. Die Schatten wuchsen, und von der Kirche schlug es halb.

>Jetzt müssen wir gehen<, sagte sie.

>Ja.<

>Wollen wir uns noch einen Kuß geben?<

Diesmal war sie es, die meinen Kopf in beide Hände nahm und mich küßte: >Wie war das?<

>Du riechst so gut!<

Sie stand auf: >Komm.<

Wir gingen nebeneinander langsam nach Hause. Eine Strecke lang fanden sich unsere Hände, und wir schlenkerten die Arme zwischen uns hin und her. An der Ecke vor unserer Straße aber ließen wir uns los. Ich wartete, und sie ging allein weiter. In der Haustür wandte sie sich um und hob verstohlen den Arm. Ich winkte ebenso verstohlen zurück. Darm ging auch ich heim.

Wir bildeten uns ein, sehr geschickt gewesen zu sein. Irgendwie aber kam die Sache heraus, und es erfolgte ein offizieller Besuch der Mutter Erikas bei der Mama. Dann wurde ich zu Opapa gerufen. Er betrachtete mich eine Weile schweigend und versuchte krampfhaft, streng auszusehen. Schließlich aber stand er auf, gab mir einen Knuff, der mich in den nächsten Sessel beförderte, setzte sich, lehnte sich gegen mich vor und fragte: >Ist das nicht ‘n bißchen früh?<

>Was?<

>Du weißt doch ganz genau, was! Wir wollen mal unter Männern reden. Bedrohte Unschuld von nebenan! Dieser O-beinige Brauereidirektor da — hast du ‘n mal gesehen? Scheußlicher Kerl. Die Frau ist ja ganz niedlich...< Er spitzte die Lippen, kniff die Augen zusammen und dachte einen Moment nach, vielleicht über die Frau.

>Er braucht sich gar nicht zu beunruhigen, der alte Esel<, sagte ich, bemüht, seinen Ton nachzumachen, >wir werden ja heiraten.<

Opapa fiel die Zigarre aus dem Mund. Ich hatte den Eindruck, als wollte er in ein unbändiges Gelächter ausbrechen, aber er beugte sich hinunter und hob die Zigarre wieder auf. Bis er die Spitze mit dem Daumen abgewischt und das Deckblatt angeleckt hatte, bekam er sein Gesicht wieder in Ordnung: >Weißt du<, sagte er, >das ist ja nun ‘ne schwierige Situation für mich.<

>Aber die Sache ist doch ganz einfach<, erklärte ich. >Sie will warten. Wen stören wir damit?<

>Soso. Sie will warten. Wie alt ist sie?<

>Vierzehn.<

>Hm — und du bist fünfzehn. Und nun wollen wir mal rechnen. Bis achtzehn bist du in der Schule. Wenn du zur Armee gehst — falls wir nach diesem Krieg überhaupt noch eine Armee haben —, brauchst du ungefähr zehn Jahre, bis du als Offizier eine Frau ernähren kannst und zwar sehr kümmerlich. Wenn du einen anderen Beruf ergreifst, geht’s vielleicht ‘n bißchen schneller, sagen wir sieben Jahre. Das sind immerhin zusammen noch zehn Jahre. Sie ist ‘n reiches Mädel, Junge. Wenn die erst mal richtig in Fahrt kommt, wird sie ein Dutzend Verehrer an jedem Finger haben. Hübsches Ding — gebe ich zu. Aber in der Veranlagung — Papa plus Mama. Das heißt, sie weiß genau, was sie will und wo ihr Vorteil liegt. Zehn Jahre warten...< Er schüttelte den Kopf: >Schlag’s dir aus dem Kopf!<

Ich starrte ihn entgeistert an: >Aber Opapa — das ist doch gar nicht möglich — man kann doch nicht jemanden lieben — wenn man nicht die feste Absicht hat, das ganze Leben miteinander zu verbringen! Man kann doch mit so was nicht spielen!< Und als er nicht antwortete: >Könntest du denn das? Mit jemandem eine Freundschaft anfangen — und dabei wissen, eines Tages ist es aus?<

Seine Augen wichen von mir und gingen ins Leere. >Man sollte es nicht können, Hänschen<, sagte er dann langsam und sehr ernst. >Man sollte es nicht. Aber man tut es. Die Welt, mein Junge, ist hart und sehr in Unordnung und gar nicht so, wie sie sein sollte. Und besonders die Dinge zwischen Mann und Frau — die sind vor allem in Unordnung.< Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging qualmend auf und ab. Dann legte er mit einer behutsamen Bewegung die Zigarre in den Aschbecher, wandte sich mir zu: >Versprich mir, daß du über den Rat, den ich dir jetzt gebe, wenigstens mal nachdenkst!<

>Ja.<

>Also paß auf. Jeder von uns muß irgendwie mit dieser Welt fertig werden — mit der Welt, so wie sie ist. Es gibt daneben ‘ne Idealwelt, in der lebst du heute. Hoffentlich noch recht lange. Aber ich fürchte, allzu lange wird’s nicht mehr dauern. Dann kommt der Augenblick, in dem diese Idealwelt mit der wirklichen zusammenstößt, und das ist einer der gefährlichsten Augenblicke in unserem ganzen Leben. Auch für mich, mein Lieber, kam mal dieser Augenblick, und beinahe hätte ich mir damals das Leben genommen — ganz ernsthaft! Und glaube nicht, daß ich heute darüber lache!

Aber dann, so ganz allmählich, habe ich mich zurechtgefunden und einen Standpunkt der Welt gegenüber eingenommen. Jeder anständige und ernsthafte Mensch muß das, damit er überhaupt weiterleben kann. Ich hab’ mir meine Idealwelt erhalten — und diese Welt habe ich immer noch...<, er deutete gegen seine Brust, >hier ganz innen. Aber nur so für den Hausgebrauch, verstehst du? Für das normale Leben, da habe ich folgendes Prinzip: Ich erwarte nichts Besonderes von den Menschen. Jedenfalls nichts besonders Gutes. Wenn ich’s mal treffe — und ich habe es ab und zu getroffen —, ist’s wie ein Geschenk, das uns der liebe Gott macht. Aber von vornherein nehme ich an, daß jeder wie mit Scheuklappen seinem Vorteil nachrennt und sich danach benimmt. Wenn du einen einzigen guten Freund im Leben findest und die richtige Frau, dann ist das, als ob du zweimal hintereinander das Große Los gewinnst, das mußt du dir immer sagen!<

>Es könnte doch aber sein, Opapa, daß Erika die Richtige ist! Gibt’s so was nicht, daß gleich die erste die Richtige ist?<

>Hm — nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit ist es jedenfalls kaum zu erwarten. Weißt du was — wann fangen die Ferien an?<

>In vierzehn Tagen.<

>Hm — vierzehn Tage. Also bis dahin — würde ich sagen — versuch mal, na — wie soll ich sagen — die Dinge an dich herankommen zu lassen.<

>Ja, soll ich denn gar nicht mehr mit ihr reden, wenn sie auf dem Balkon ist?<

>Würde ich nicht raten. So, wie ich die Mutter kenne, wird sie sowieso wie eine wütende Henne ihr Küken bewachen.<

>Ich will’s versuchen. Aber garantieren kann ich’s nicht<, sagte ich. Dann vollzog ich einen ziemlich eiligen Rückzug auf die Toilette, und dort heulte ich erst mal eine Weile. Ich kam zu dem Ergebnis, daß ich der unglücklichste Mensch auf der ganzen Welt sei und daß es bestimmt auch vor mir keinen anderen Menschen gegeben hatte, der dermaßen unglücklich war. Und darüber wurde ich noch unglücklicher und weinte noch mehr, und das tat mir sehr wohl.

Meine Standhaftigkeit brauchte ich gar nicht auszuprobieren, denn ich konnte sie sowieso nicht mehr sprechen. Keine Schularbeiten mehr auf dem Balkon, und wenn sie ausging, war immer die Mutter dabei. Kaum, daß sie einen ganz verstohlenen Blick zu unseren Fenstern hinaufwerfen konnte, wo ich hinter den Gardinen stand.

Dann kamen die großen Ferien. Als ich von der Reise zurückkam, flog mein erster Blick zu ihren Fenstern. Sie sahen merkwürdig leer aus. Keine Gardinen! Vielleicht haben sie große Wäsche, dachte ich, aber ich hatte ein unheimliches Gefühl im Magen. Ich stürzte die Treppen hinauf, meine erste Frage an Opapa: >Was ist mit Erika?<

Er paffte heftig an seiner Pfeife, einen entsetzlich stinkenden Ersatztabak, wie er damals im vorletzten Kriegsjahr ausgeteilt wurde. Eben jetzt habe ich wieder den Geruch in der Nase. >Tja, Hänschen<, sagte er, >sie ist weg.<

>Was heißt weg?< stammelte ich.

>Die Eltern haben sich ‘ne Villa gekauft, sind nach Westend gezogen.<

Ich sagte kein Wort. Aber ich war wie versteinert. Es dauerte Wochen, bis ich wieder mal lachen konnte.«

Ich erwache und sehe auf. Da sitzen die beiden, Geschöpfe aus einer ganz anderen Zeit, und doch wie ähnlich den Mädchen meiner Jugend. Und ebenso wie wir damals kümmern sich die beiden hier nicht um das gewaltige Geschehen der Welt, dessen Drohung heute noch viel furchtbarer ist als das Toben des Krieges damals. Oder fühlen sie es doch? Unbewußt vielleicht —. Vielleicht ist es das, was sie so herb und wild macht?

»Und du hast nie wieder was von ihr gehört?« fragt Margot.

»Nach ungefähr vier Jahren, als ich schon junger Journalist war, ging ich mit einer Freundin in Westend spazieren und kam zufällig an Erikas Haus vorbei. Ich wußte gar nicht, daß sie dort wohnte, aber plötzlich tat sich die Gartenpforte auf, und sie kam heraus, mit einem Dienstmädchen. Sie trugen einen Wäschekorb zwischen sich, den sie über die Straße in eine Wäscherei brachten. Sie erkannte mich sofort, wurde blutrot, riß das Kinn hoch. Ich war so verdattert, daß ich nicht mal grüßte.«

Susanne schlägt die Hände zusammen: »Das gönne ich ihr, der dummen Gans!«

Margot beobachtet mich nachdenklich: »Ich an ihrer Stelle hätte es mir nicht verbieten lassen«, sagt sie.