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Luzie ist nicht allein. Es ist noch eine zweite neben ihr, die ich nicht erkenne, obwohl mir ihr Gang bekannt vorkommt. Unglaublich übrigens, daß Margot auf diese Entfernung die Luzie ausgemacht hat. Die Eifersucht muß ihren Blick beinahe ins Übersinnliche geschärft haben. Buddy beißt sich nervös auf die Lippen und wirft einen schnellen Blick hinter Margot her, die in gespielter Lässigkeit entschreitet. Ihr ganzer Rücken scheint eine Frage zu sein: Kommt er mir nach?

Offenbar kommt er ihr nicht nach. Er runzelt unwillig die Stirn, schießt mir einen kurzen, ratlos-forschenden Blick zu und dreht sich dann, wie das Stahlspänchen unter dem Zug des Magneten, den beiden anderen Gestalten zu. Jetzt erkenne ich auch die andere. Mein Gott, das ist ja die Sophie — aber was ist denn bloß mit dem Mädel geschehen?

Sie ist ein gutgewachsener, netter Kerl von einer sozusagen normalen Hübschheit. Mit Jungens hatte sie bisher wenig im Sinn und ist statt dessen fieberhaft beschäftigt, sich für eine Reihe ausgesprochen männlicher Berufe zu begeistern.

»Das kommt davon«, hat mir ihre Mutter mal gesagt, »wenn man sich einen Jungen und nur einen Jungen wünscht. Dann kriegt man eine Tochter, die sich benimmt, als wäre sie ein Bub.«

Ich habe bei Sophie schon die verschiedensten Stadien miterlebt: Lokomotivführer, Testpilot, Kriminalkommissar, Ozeandampferkapitän. Sie versteht es, ihre ganze äußere und innere Erscheinung chamäleonhaft dem jeweiligen Beruf anzupassen und sich in kürzester Zeit die erstaunlichsten Kenntnisse auf dem jeweiligen Berufssektor zu erwerben. Im Rahmen ihrer Laufbahn als Kapitän war sie zum Beispiel dem hiesigen Segelklub beigetreten und hatte eine Matrosenuniform getragen, die ihre jungen, weiblichen Formen überraschend gut herausarbeitete. Sie jedoch war sich dieser günstigen Nebenwirkung offenbar gänzlich unbewußt geblieben und hatte nur alle, die ihr in den Weg liefen und angesichts ihrer Kurven nach Haltung rangen, über die Begriffe Luv und Lee und Backbord und Steuerbord examiniert. Ich hatte ihr Foresters See-Romane mit dem unvergeßlichen Kapitän Hornblower zum Geburtstag geschenkt und dafür einen Kuß von engelhafter Neutralität erhalten.

Jetzt aber ist der nette Matrose mit der weiten Hose verschwunden, und ein blasses, breites Gesicht mit Pickeln und randloser Brille blickt mich streng an. Ehe ich mich aber sozusagen zu Ende gewundert habe, wird meine Aufmerksamkeit durch Luzie abgelenkt. Bisher habe ich sie kaum gekannt. Sie ist rothaarig, ein tiefes Kupferrot, mit großen, graugrünen Augen und einem vollen Mund. Der Teint zart, ausgesprochen irischer Typ. Mit einer geschmeidigen Bewegung gleitet sie an Buddy heran und zupft besitzerisch seinen Schal zurecht. Er wird rot und dreht sie an den Schultern herum: »Du kennst den Colonel?«

Auch Luzie errötet einen Augenblick, als sie meinen Augen begegnet. Dann streckt sie mir die Hand hin: »Ich kenne Sie natürlich, aber Sie mich wahrscheinlich nicht.«

»Ich... hm...«

»Jedenfalls tun Sie immer sehr erstaunt, wenn ich Sie grüße.«

»Das dürfen Sie mir nicht übelnehmen, ich... hm...«

»Nein, das darfst du ihm wirklich nicht übelnehmen«, sagt Buddy eifrig, »er denkt meist an seine Bücher, der Colonel, und...«

Ihre Augen sind voll eines gleißenden Lichts, wie die Ränder der Eisscholle zu unseren Füßen: »Aber wer sagt denn, daß ich es ihm übelnehme?« >Und wenn ich es wollte, würdest du genauso, nach meiner Pfeife tanzen wie die anderen!< fügen diese Augen hinzu.

Das bringt mich wieder zur Besinnung, reizt meinen Widerstand. Dies letzte um so mehr, als ich fühle, daß ihr Blick eine schwache Stelle in mir gefunden hat. Meine Phantasie beginnt schon zu rotieren. Ich wette, daß ich — wenn ich Luzie nur den kleinen Finger gäbe... Vielleicht wäre es sogar in Margots Interesse gar keine schlechte Idee... Ja, was sind denn das plötzlich für Raupen in meinem Gehirn? Bin ich denn schon so verkalkt, daß ich auf kleine Mädchen reagiere? Jetzt aber Schluß!

»Basta!«

»Wieso >basta<?«

»Hm?« Ach so, es ist Sophie, die mich gefragt hat. Neugierig sieht sie mich an: »Was ist denn mit Ihnen, Colonel?«

»Wieso?«

»Sie haben mich angestarrt und plötzlich laut >basta< gesagt!«

»Er war sicher schon wieder bei seinen Büchern«, lacht Buddy. »Wahrscheinlich hat er dich gar nicht gesehen.«

Luzie lächelt nur — wie Mona Lisa.

Endlich bin ich wieder etwas bei Besinnung: »Tja, also, Kinder, ich muß heim.«

»Ich komme mit!« erklärt Sophie und hakt mich ein. An der nächsten Ecke, außer Sicht der anderen, komme ich dann schließlich wieder ganz zu mir. Ich bleibe stehen und mustere sie von oben bis unten. Besonders diese Brille mißfällt mir: »Ahoi, Kapitän«, sage ich, »was ist denn los? Plötzlich kurzsichtig? Kurzsichtige Kapitäne gibt’s aber nicht.«

»Sie irren sich, Colonel<, erwidert sie mit einer leicht brüchigen Baßstimme, »ich bin weitsichtig geworden.«

»Weitsichtig? Täuschst du dich auch nicht? Normalerweise hast du damit noch vierzig bis fünfzig Jahre Zeit, Sopherl.«

Sie betrachtet mich mit der Hoheit einer Gouvernante: »Ich irre mich nicht. Ich meine >weitsichtig< im geistigen Sinn. Und ich habe auch keine Zeit mehr. Niemand hat genug Zeit, in sich zu gehen, zu bereuen und umzukehren.«

Ich hole kurz, aber heftig Atem: »Das klingt ja, als ob du Pfarrer werden wolltest!«

»Ich werde Pfarrer!« Und dabei wackelt sie vor Würde mit den Nasenflügeln wie ein Kaninchen.

»Verzeihung, Hochwürden«, sage ich, »manchmal ist es etwas schwierig, mit Ihren Berufswechseln Schritt zu halten. Man kommt direkt außer Atem.«

Eine Weile geht sie schweigend neben mir her. Es ist so kalt, daß der Schnee bei jedem Schritt knirscht. Dieses Geräusch lenkt meine Augen auf ihre Füße. Sie stecken in schwarzen Halbschuhen und schwarzen Strümpfen und sehen ganz außerordentlich melancholisch aus. Erstaunlich, wie konsequent ihre Verwandlungen auch in die Details gehen.

»So«, sage ich schließlich, »du willst also Pfarrer werden.«

»Ja. Sie sollten mich mal predigen hören. Ich predige immer zu Hause. Soll ich vielleicht morgen mal zu Ihnen kommen und predigen? Sie können mir sicher sagen, was ich noch besser machen kann.«

»Hm — gelegentlich. Weißt du, Kind, augenblicklich habe ich allerhand um den Kopf. Aber — was mich interessiert, gibt es denn weibliche Pfarrer? Ich hab’ noch nie was davon gehört.«

»Doch, es gibt einige. Besonders in Amerika und Kanada.« Es ist etwas von dem Feuer des Testpiloten in ihrem Blick, als sie hinzufügt: »Und auch wenn es keine gäbe, dann würde ich eben der erste sein! Warum sollt nur ihr Männer predigen?«

»Ich finde, die meisten Predigten werden von Frauen gehalten, besonders von Ehefrauen.«

Sie lacht und sieht direkt wieder ein bißchen hübsch aus: »Ach, mit Ihnen kann man ja nicht reden, Colonel, Sie sind genau wie mein Vater.«

»Was sagt denn der, wenn du ihm eine Predigt hältst?«

»Er versucht auszurücken, aber ich lasse ihn nicht. Es tut ihm gut, und außerdem ist es eine gerechte Strafe für ihn.«

»Gerechte Strafe — wofür?«

»Dafür, daß er sich so sehr einen Jungen gewünscht hat. Jetzt bin ich zwar ein Mädel geworden, aber doch ein Junge. Mir macht nur Spaß, was Männern Spaß macht. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ich so wäre wie Luzie, die ist wenigstens wirklich ein Weib mit allem Drum und Dran.« Ich spüre ihren Arm an meinem: »Was denken Sie, Colonel?«

»Ich dachte gerade, ob wohl mal ein Mann kommt, der dir diese Flausen austreibt?«

»Dazu ist es zu spät!«

Ich bleibe stehen: »Zu spät —? Ach, du lieber Himmel. Allerdings wäre es notwendig, daß du dafür eine andere Verkleidung wählst.«

»Wieso — andere Verkleidung?«

»Na, du bist doch ein hübsches Mädel! Aber im Augenblick merkt man nichts davon. Wo hast du denn bloß diese schwarzen Latschen aufgetrieben und diese scheußlichen Strümpfe? Und woher hast du die greuliche Brille — und überhaupt eine Brille?«

Sie richtet sich auf: »Geben Sie sich keine Mühe, Colonel, mein Entschluß ist gefaßt! Und mein Weg führt hinweg von dieser Welt.«

Ich wende mich zum Gehen, sie hakt mich wieder ein: »Haben Sie was gesagt?«

»Nein.«

Sie seufzt. »Es ist natürlich schwer für einen Menschen Ihrer Generation, so was zu begreifen.«

Eine Weile schweigt sie, und dann sagt sie, offenbar nach Abschluß einer langen Gedankenkette: »Sehe ich wirklich so häßlich

aus?«

»Viel schlimmer — unpassend.«

»Unpassend?«

»Ja, unpassend. Jeder hat seinen Stil, und alles, was nicht dazu paßt, ist unpassend.«

»Diesen Begriff«, erklärt sie, »muß ich erst analysieren.«

»Tu das, mein Kind, dann wirst du deinem Vater die Wollstrümpfe als Polierlappen fürs Auto schenken. Männer freuen sich immer über Polierlappen.«

Sie hat die Stirn grüblerisch in Falten gezogen, unter der grauen Pelzkappe kriecht eine dicke Locke vor, die sich sehr nett gegen den weißen Hals abhebt.

»Meinen Sie«, fragt sie dann, »daß es etwas gibt, das zu mir genauso paßt wie zu Luzie der Mann?«

»Ja.«

»Was denn?«

»Auch ‘n Mann. Apropos Luzie: Glaubst du, daß sie den Bud-dy liebt? Oder ist er nur so Nummer fünfzehn für sie?«

»Ich glaube, sie liebt ihn.«

»Hm. Die Margot liebt ihn doch auch!«

»Nicht so sehr.«

Jetzt bin ich es, der stehenbleibt: »Nicht so sehr? Warum nicht? Weil sie nicht mit ihm...« Ich zögere, weiß nicht, wie deutlich ich werden darf.

Sie wirft mir einen durchaus sachlichen Blick zu: »Nein, das ist es nicht. Das heißt, es hat schon was damit zu tun, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.«

»Und was ist die ganze Wahrheit?«

»Daß Margot sich ihm nicht ganz geben kann, ich meine, innerlich. Sie wird nie in der Lage sein, sich selbst aufzuopfern, so — so gar nicht mehr an sich selber zu denken. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Was gucken Sie mich denn so an?«

»Du bist ein so gescheiter, lieber und netter Kerl, Sophie, und du weißt, trotz deiner Jugend, so viel von anderen und — was noch viel schwieriger ist — über dich selbst, daß ich jetzt wirklich im Zweifel bin, ob du nicht doch Pfarrer werden solltest!«

»Sehen Sie, was habe ich Ihnen gesagt!« Aber es klingt nicht sehr überzeugt.

»Trotzdem«, sage ich, »würde ich es an deiner Stelle doch den Männern überlassen. So, da wären wir. Ich dank’ dir schön für deine Begleitung.«

»Bitte sehr«, murmelt sie, schon wieder tief in Gedanken. Ich biege in den Bentlerschen Weg ein und drehe mich vor der Tür noch einmal nach ihr um. Sie ist an der Ecke stehengeblieben, dort, wo die große Tanne ihre dicken, weißen Pelzpfoten im leisen Wind bewegt, und besieht sich ihre Strümpfe.

Am Bentler-Haus bemerke ich, daß im Wohnzimmer die Gardine gehoben und wieder heruntergelassen wird, während ich vor dem Haus stehe. In der Diele stürzt mir Susanne entgegen, fliegt mir um den Hals und küßt mich! »Ich bin ja so glücklich! Sieh mal, was er mir geschenkt hat!« Sie hat irgend etwas Blinkendes am Arm. »Und Haufen von .Konfekt«, fügt sie hinzu.

Drinnen im Wohnzimmer sitzt Margot, zerwühlten Haares, die Beine über die Sessellehne gehängt, Zigarette in der Hand und einen halbvollen Konfektkasten neben sich. Sie spart sich die Begrüßung und sagt nur: »Dem werd’ ich’s zeigen!«

»Sieh mal, ist das nicht wunderbar?« fragt Susanne vom Fenster her. Sie steht dort und spielt ganz unbeteiligt mit einem Armband. Ich nehme es mechanisch, während ich Margot im Auge behalte: »Wem wirst du was zeigen?«

»Buddy, diesem Weiberknecht, diesem Schlappschwanz, dem herzlosen Kerl!«

»Soll das heißen, daß du Buddy ‘rausschmeißen wirst?«

»Genau das! Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, das siehst du doch selbst! Er ist am See geblieben und hat auf dieses Weibsbild gewartet, diese Nutte, statt hinter mir herzukommen!«

Ich nehme mir eine Cognackirsche: »Mm, prima. Hattest du auch schon eine?«

»Schon drei. Und jetzt ist mir übel.« Dabei betrachtet sie mich aus den Augenwinkeln. Offenbar wartet sie nur darauf, von ihrem Vorhaben entbunden zu werden. Ich schweige, nehme statt dessen ein Stück Krokant. Als sich nichts weiter ereignet, greift sie sich das ganze Konfekt, wirft den Kopf in den Nacken und verläßt die Bühne. Diese Launenhaftigkeit sollte man ihr austreiben. Das ist so typisch: Wenn man ihnen ihren Willen läßt und auf ihre Launen eingeht, ist man >Colonel< und >Onkel Hansi<. Wenn man aber mal nicht mitspielt, ist alles vergessen, was man ein Dutzend Jahre lang für sie getan hat. So, als sei’s nie gewesen.

»Friß nicht alles auf!« ruft Susanne hinter ihr her. Dann wendet sie sich an mich: »Na, und was sagst du zu dem Armband?«

»Ach so«, sage ich, immer noch in Gedanken bei Margot. »Ich werd’s mir mal ansehen. Meinst du, Margot macht Dummheiten?«

»Die? Keine Rede. Nun sieh dir doch das Armband an, bitte, bitte!«

Ich sehe. Und mir wird plötzlich ganz anders. Das ist ja ein wunderbares Ding! Eine alte Arbeit von herrlicher Zartheit, Dukatengold mit zwanzig kleinen, aber sehr guten Brillanten. Merkwürdig bekannt kommt es mir vor, als hätte ich es schon irgendwo gesehen. Aber wahrscheinlich täuscht mich da mein Gedächtnis. Es geht einem ja bei wirklich schönen alten Sachen oft so, daß sie einem bekannt vorkommen. Vermutlich, weil ihre Schönheit so selbstverständlich ist.

»Hm, das ist ja ganz wunderbar, hör mal! Das hat einen Wert von — na, von fünf- bis sechstausend, schätze ich. Wo hat denn der Bengel das her?«

Sie lehnt sich in den Sessel zurück, räkelt sich wie eine junge Katze und legt die Beine übereinander: »Von seiner Mutter!«

»Von seiner Mutter? Wieso schickt ihm seine Mutter ein so kostbares Armband?«

Sie zieht die Augenbrauen hoch und stößt den Zigarettenrauch durch die Nase: »Verlobungsgeschenk! Wie gefalle ich dir als Textilfabrikbesitzerin-Juniorin? Du kannst deine Hemden bis an dein Lebensende umsonst von mir beziehen!«

Ich starre noch immer auf das Armband: »Also, paß mal auf, mein Kind. Das mit der Verlobung — dazu kann man schwer was sagen. Aber daß die Mutter, die dich gar nicht kennt, ihm für dich so ein Armband schickt, das glaube ich einfach nicht. Da ist was faul. Das muß die Mutter erst mal mir oder deinen Eltern bestätigen. Du gibst ihm das Ding zurück, oder...«

»Ich — zurückgeben?«

»Oder ich beschlagnahme es vorläufig. Und wenn deine Eltern wieder hier sind, soll er bei ihnen offiziell Besuch machen. Und dann werden sich deine Eltern mit seinen in Verbindung setzen, und wenn das alles in Ordnung ist, kann er dieses Ding hier meinetwegen als Verlobungsgeschenk abgeben und noch ‘nen Rolls-Royce obendrauf. Aber so, auf die Tour — kommt nicht in Frage.«

Sie schnappt sich das Armband vom Tisch und legt es wieder um. In mir steigt Wut auf, meine Geduld geht zu Ende: »Gibst du’s ihm zurück, ja oder nein?« sage ich scharf.

Sie mustert mich mit einem orientalisch verschleierten Blick: »Wenn du durchaus willst...«

»Ja, ich will! Und im übrigen habe ich wirklich was Besseres zu tun als dauernd Kindermädchen zu spielen! Wenn ihr so weitermacht, telegrafiere ich einfach euren Eltern!« Und damit bin ich aus der Tür und knalle sie hinter mir zu.