15

Mein Zorn übersteht auch die Kälte, die mich draußen überfällt. Ich habe mich viel zu sehr hineinziehen lassen in diesen Rummel. Den Gören macht er nichts aus. Sie haben ja außer dem bißchen Schule nichts zu tun, und vor allem haben sie nicht für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Lebensunterhalt — scheußliches Wort! Aber unsereiner... Einen Moment fällt mir mein mit Unerledigtem beladener Schreibtisch ein. Statt dessen beschließe ich, nach meinem Wagen zu sehen, den ich zum Chassissäubern und Absprühen gegeben habe.

Also gehe ich durch den Garten auf die Straße zum Dorf. Plötzlich sind zwei Schatten an meiner Seite: Cocki und Weffi. Cocki wirft mir nur einen kurzen Blick zu. Er ist sehr beschäftigt, denn er hat sich aus dem Abfallhaufen vom Wurzelsepp einen Knochen organisiert, an dem er fast die Maulsperre kriegt. Dieses Stück soll offenbar vergraben werden, denn der Schritt der zotteligen O-Beine wird gewichtig und gewissermaßen amtlich, während er mit gerunzelter Stirn um sich blickt. Ich beuge mich zu ihm hinunter und zeige auf einen frischen Maulwurfshaufen, der sich durch den Schnee gebohrt hat: »Wie wär’s denn damit, Dicker?«

Er sieht mich nur empört an: >Wie kannst du nur so die Spielregeln vergessen! Du weißt doch, daß es sich um eine streng geheime Sache ohne Herrchen handelt!<

Weffi dagegen, die Plusterschnute ganz voll Eis, steckt den Kopf in den Maulwurfshaufen, er beginnt auf seine amateurisch-gezierte Weise zu graben, während der Dicke den Kiesberg an der Kurve unter dem Schnee ausgräbt, vorsichtig den Knochen deponiert und dann mit der Nase wieder Kies darüberschiebt. Einen Moment pausiert er und mustert sein Werk: stimmt noch nicht ganz. Es wird weiter Kies darübergeschoben.

Zu meinen Füßen mauzt etwas. Es ist Weffchen, der zitternd auf seinen Fellhosen hockt und mir die Pfote hinhält. Ich sehe sie mir an: »Ist beim Buddeln wieder was kaputtgegangen? Na, zeig mal her. Ach, ist ja fürchterlich! (Ich sehe überhaupt nichts außer ein paar Erdkrümeln zwischen den Ballen!) Herrchen macht’s!« Ich polke ihm die Erde weg, er sieht mich aus seinen stillen Augen dankbar an und hoppelt dann zu Cocki hinüber, der gerade seinen Knochen endgültig bestattet hat und weiterwatschelt.

»Grüß Gott!« sagt es neben mir. Es ist die Anneliese vom Wurzelsepp. Einziges Kind. Ich kannte sie noch als einen dicken, blonden Stoppen, der dauernd mit Küken und jungen Katzen herumzog. Dann als Backfisch, der ganz auf Hof-Erbin machte und die Nase vor lauter Stolz nicht herunterbekam. Jetzt hat sie sich gestreckt und sieht mit ihren siebzehn Jahren aus wie eine junge Frau. Auffallend ernst jedenfalls.

Sie bleibt an meiner Seite: »Gehen Sie ins Dorf?«

»Ja, muß mal nach meinem Wagen schauen. Wie geht’s denn bei euch?«

»Ach, immer dasselbe.«

»Freut mich. Was Besseres kann euch gar nicht passieren.«

»Finden Sie?«

»Ja. Ich finde, daß die Veränderungen meist zum Schlechten sind.«

»Finde ich nicht«, sagt sie, und in ihren großen, etwas harten Augen ist ein Schimmer. »Es ist doch so viel los, und es gibt so viel Neues — schönes Neues —, nur für mich nicht.«

Ich nehme ihren Arm. Er ist fest und rund: »Nanu, was ist los, Bäuerin?«

Sie sieht krampfhaft geradeaus: »Ich will nicht Bäuerin werden.«

»Plötzlich?«

»Schon ‘ne ganze Weile. Es ist mir so eingefallen, nach und nach. Mutter ist vierzig Jahre alt — Sie wissen ja, wie sie aussieht. Wie sechzig. Und Vater? Ganz krumm. Mit den Nieren hat er’s auch. Und was haben sie vom Leben? Von morgens bis in die Nacht geht’s, bei Wind und Wetter. Und nie können wir zusammen weg, weil immer einer beim Vieh bleiben muß, und Hilfe bekommt man ja nicht mehr, weil keiner die Arbeit machen will.«

»Aber du warst doch so stolz auf euren Hof? Was soll denn aus dem werden?«

Sie zuckt die Achseln: »Können sie ja verkaufen. Als Bauland. Und in die Stadt ziehen. Da hätten sie noch was vom Leben.«

»Und du?«

Abermals zuckt sie die Achseln: »Sekretärin oder Verkäuferin. Vielleicht lieber Verkäuferin. Später heiraten.«

»Hast du denn schon mit den Eltern gesprochen?«

Sie nickt und sieht gequält aus.

»Na, und was sagen sie dazu?«

»Sie wollen mich nicht zwingen. Wenn ich in der Stellung glücklicher bin — aber hart ist es schon für sie...« Plötzlich nimmt sie den Finger aus dem Mund und streicht sich das Haar aus dem frostroten Gesicht: »Vielleicht bleib’ ich ja auch. Es kommt einen halt manchmal so an. Pfüat di Gott!«

Und damit zieht sie die Strickjacke enger um sich und geht. Ich sehe ihr nach, und das Herz ist mir schwer. Was soll man dazu sagen? Wenn man den Landarbeitern bessere Wohnungen böte und dieselbe Arbeitszeit wie in der Stadt? Dann wären die Bauern, so, wie es jetzt steht, in einem Jahr pleite. Oder man müßte fürs Pfund Butter zehn Mark zahlen. Da würde aber die ausländische Konkurrenz... Na, jedenfalls ein Glück, daß ich nicht Landwirtschaftsminister bin, sondern hier an der Tankstelle stehe und — da ist ja der Erich!

Er geht gerade von den Zapfsäulen zu den Waschboxen. Seine Uniform ist ihm viel zu weit, und es ist ein Glück, daß er so abstehende Ohren hat, sonst würde ihm sicher die Mütze über die Augen rutschen. Als er die eine Waschbox öffnet, sieht er mich, grüßt, nimmt die Mütze ab und läßt mich ein. Drinnen ist es so warm, daß meine Brillengläser beschlagen. Ich hole das Taschentuch heraus und putze sie.

»Na, ist das Wasser vom Chassis abgetropft?« frage ich derweilen.

»Alles abgetropft. Ich habe noch mit ‘nem Tuch nachgeputzt.«

»Sehr gut, Erich. Du weißt, es hat keinen Zweck zu nebeln, bevor das Chassis nicht trocken ist.« Im Augenblick, als ich es sage, fällt mir ein, daß ich ihm das schon mindestens ein dutzendmal auseinandergesetzt habe. Aber er läßt sich nichts anmerken, nickt nur höflich: »Jawohl! Soll ich den Wagen jetzt hochfahren?«

»Bitte, sei so gut.«

Er öffnet das Ventil, und die ölschimmernde dicke Stahlsäule hebt Boxi ächzend in die Höhe. Das ist für mich immer ein erregender Moment. Mit einem Ruck hält die Bühne an, und mein Vehikel schwebt nun über uns. Was ist es doch für eine gewaltige, interessante Maschine! Ich könnte stundenlang stehen und sie begaffen.

»Wollen Sie sich nicht den Kittel vom Paul überziehen? Wär’ schad’ um Ihren Mantel!«

»Gute Idee.«

Er hilft mir in den Kittel, greift dann nach der Spritzpistole. Zielbewußt und ohne zu knausern sprüht er, und bald glänzt die ganze Wagenunterseite mit dem Gestänge im Schimmer des Kriechöls. Ach, tut das dem Boxi gut! Besonders wenn es bald taut und das Schmelzwasser überall herumspritzt und Rost erzeugen will.

»Ich glaub’, das genügt«, sagt Erich. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Nein, danke, sehr schön so.« Es tut mir leid, daß er den Wagen nun herunterläßt. War eine friedliche Viertelstunde, so, als hätte ich ein lauwarmes Bad genommen.

Ich drücke Erich eine Mark in die Hand: »Wie geht’s denn zu Hause?«

Er stammt aus einer glücklosen Familie. Die Mutter ist tot, die ältere Schwester vor kurzem mit einem unehelichen Kind heimgekommen. Der Vater, ein nörgelnder, aufbrausender Besserwisser, ist Vertreter für Kurzwaren und hat neulich ausgerechnet den Pfarrer des Nachbardorfes über den Haufen gefahren. Ging gerade noch haarscharf am Gefängnis vorbei. Hauptsächlich, weil der verletzte Pfarrer sich für ihn einsetzte. Den Führerschein haben sie ihm aber entzogen, und jetzt muß er seine Kurzwaren mit dem Rad ausfahren.

»Nicht sehr gut«, sagt Erich. »Der Vater kann ja nicht mehr Auto fahren, Sie wissen doch...«

»Ja, ich weiß. Schafft er’s denn per Rad, jetzt im Winter?«

»Warm halten muß er sich halt sehr, wegen der Nieren. Am liebsten möchte er, daß ich meinen Job hier aufgebe und ihn fahre. Hat aber keinen Zweck, denn soviel verdient er nicht damit.«

»Na, und Elfie, deine Schwester? Könnte sie nicht Aufwartungen annehmen oder überhaupt als Mädchen gehen? Wird doch gut bezahlt heutzutage!«

Er putzt sich die Hände ab und blickt dabei in die graue Helle, die durch die Scheiben strömt. Mit den Linien, die von der Nase zum Mund laufen, und den hohlen Wangen, sieht er nicht wie achtzehn, sondern wie vierzig aus. »Geht leider nicht. Wo soll sie mit dem Kind hin? Das nimmt ja keiner derweil.«

»Hm.«

»Ich hab’ Vater eine Torpedodreigangschaltung in sein Rad eingebaut, damit tut er sich wenigstens etwas leichter.«

Ich weiß, was ihn das gekostet hat, bei seinem kleinen Lohn.

»Nebenbei mache ich jetzt abends im Kino den Platzanweiser«, sagt er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Das bringt was ein — und die Filme sehe ich umsonst.«

»Na, großartig!« meine ich ohne jede Überzeugung. Was sind diese Internatslümmel, diese Tunichtgute reicher Eltern gegen so einen kleinen Kerl! Wie furchtbar muß es sein, wie entsetzlich trostlos, wenn er von der schweren Arbeit hier heimkommt, zu dem ewig schimpfenden, verbitterten Vater und der unglücklichen Schwester. Was für ein wunderbares Leben haben doch meine Mädels dagegen! Muß doch mal sehen, was man da tun kann... wäre eigentlich gar nicht schlecht, wenn sie mal was für das Baby stricken würden! Ja, sie sollten überhaupt hingehen und sich anschauen, wie das so ist, wenn man mit einem Kind ohne Vater dasitzt!

Ich rutsche hinters Steuer: »Also, dann wollen wir mal wieder — und schönen Dank, Erich!«

»Ich sag’ auch danke schön — und gute Fahrt!«

Vorsichtig fahre ich heim.

Als ich in meine Einfahrt biege, sehe ich Susanne auf dem Balkon drüben. Sie nimmt etwas Weißes von der Wäscheleine, das steifgefroren wie ein Brett ist. Sie winkt mir zu.

Oben finde ich die Mama über einem Brief vom Frauchen. »Das war auch drin«, sagt sie und gibt mir eine Fotografie. Sie zeigt Frauchen und Tante Lola mit einem Haufen anderer Leute auf Schiern. Auf Frauchens anderer Seite steht ein sehr professionellsportlich aussehendes Mannsbild, das sie angrinst. Offenbar der Schilehrer. Hol ihn der Teufel.

»Wer ist denn der Fatzke?« frage ich und zeige auf ihn.

»Der Schilehrer«, erklärt die Mama. »Scheint ein fescher Kerl zu sein. Aber hast du denn Tante Lola gesehen, daneben? In dem Alter und noch so ‘ne Keilhose über dem Hintern! Sie sollte sich was schämen! Wenn die alten Weiber noch wild werden — das sollten sie den jungen überlassen. Apropos junge Weiber — weißt du, daß Susanne übermorgen Geburtstag hat?«

»Auch das noch! Woher weißt du denn das?«

»Sie war hier und hat so um drei Ecken ’rum das Gespräch darauf gebracht. Natürlich will sie ‘nen Haufen Jungens einladen, und ein Kuchenrezept wollte sie auch. Na ja, schließlich hat man nur einmal Geburtstag.«

»Aha, deshalb hat sie mir eben so zugewinkt.«

Die Mama mustert mich prüfend: »Nanu, was ist denn dir über die Leber gelaufen? Ich habe mir gedacht, daß ich ihr einen Kuchen backe, und du kannst vielleicht eine Flasche Schnaps stiften, dann brauchen sie nicht so ans Wirtschaftsgeld zu gehen, wenn sie die Lümmels einladen.«

»Die werden sie nur einladen, wenn ich es gestatte.«

»Also — da ist doch was los! Worüber hast du dich geärgert? Möchtest du mir das nicht mal ausnahmsweise sagen?«

»Ach — gar nichts. Ich habe nur ein paar von den anderen jungen Leuten getroffen, im Dorf. Wie die sich schinden müssen...«

»Unsere können nichts dafür, daß es ihnen besser geht. Nimm dich gefälligst zusammen.«

Einen Moment bin ich versucht, ihr die Sache mit dem Armband zu erzählen, schlucke es aber wieder hinunter. Ich will kein Geratsche wegen der Gören mehr.

So gebe ich ihr einfach einen Kuß: »Du hast ja vollkommen recht, Mulleken!«

In ihren Augen leuchtet es, als ich sie küsse. Aber gleich darauf wird ihre Nase wieder spitz vor Mißtrauen: »Da ist doch was faul, wenn du mir so plötzlich recht gibst!«