9
Am See ist es noch immer grimmig kalt, obwohl der Wind völlig eingeschlafen ist. Das Eis auf dem See schimmert unter den Dampf säulen wie ein harter Panzer, grau und erbarmungslos. Wie Dämonen stehen diese Säulen auf der riesigen Fläche. Oben sind sie durchscheinend silbrig von der Sonne, und noch höher darüber schweben die Häupter der schneebedeckten Bergriesen.
Ich stehe mit Margot am Ufer, und mein Herz klopft so stark, daß ich glaube, ich würde es durch den dicken Wintermantel fühlen, wenn ich die Hand daraufhielte. Warten, sie kommen lassen. Das gibt gleichzeitig noch einen kleinen Aufschub. Lieber Gott, laß mich keinen Fehler machen!
»Die ist bald hin!« sagt Margot und zeigt auf die Landungsbrücke. Der Eisdruck, unmerklich, aber stetig, hat mit schweigender Riesenkraft die mächtigen Stämme wie Streichhölzer geknickt und den Kopf der Brücke um Meter verschoben, so daß sie ganz krumm ist.
»Tut mir so leid«, sagt sie leise, als ich nur schweigend nicke. »Du hast Wichtigeres zu tun als dich um unsere Weiberaffären zu kümmern.«
Ich nehme ihren Arm: »Ich weiß nicht mal genau, ob das, was ich zu tun habe, wichtiger ist.«
Sie drückt meinen Arm, sagt aber nichts weiter.
Wir halten uns von den Ufersteinen fern, die mit dickem Eis glasiert sind, und stampfen immer am Ufer entlang durch den Schnee.
Margot holt tief Atem und sagt:
»Du mußt mir helfen, Colonel. Die Luzie nämlich, die Luzie Moosmüller — ach, du weißt wieder nicht, welche ich meine. Die Blonde, Große, die im schwarzen Trikot als Krampus ‘rumgegangen ist und sich so an dich drängelte, als du bei Rauschbachers zur Kinderbescherung warst!«
»Ach, die — ja, erinnere mich. Sie drängelte übrigens sehr gekonnt.«
»Eben. Ihr Vater ist Lehrer in Biederstein, und die Mutter ist so ‘ne unruhige Hummel, dauernd auf der Walze. Und sobald beide weg sind, hängt die Luzie ein Tuch ins Fenster, und dann kommen die Jungens — wie die Bienen.«
Die Sonne hat die Nebel überwunden und flammt in dem Eis vor unseren Füßen. Vor den Ufersteinen steht abgebrochenes zerzaustes Rohr, und um jeden Halm hat sich ein Kristallfüßchen aufgebaut, daß es wie tausend Brillanten sprüht. Jedes der Füßchen ist anders zusammengesetzt, aber im Stil sind alle gleich.
»Siehst du diesen Naturbarock?« frage ich. Und als sie nur stumm nickt: »Na, das ist doch nun nicht weiter tragisch. Ich denke da an zwei junge Damen, um die die Jungen auch wie die Bienen schwärmen.«
Sie sieht mich immer noch an. Ihre Augen unter den langen, dunklen Wimpern sind riesengroß, das Stupsnäschen, der herzförmige Mund, die Wangen wie Pfirsiche und unter der Mütze ein paar widerspenstige braune Haarzotteln. In seiner blühenden Unschuld ein bezauberndes Bild.
»Der Unterschied ist aber«, sagt die blühende Unschuld, »daß sie mit den Bengels schläft. Und neuerdings besonders gern mit Buddy. Seitdem sie weiß, daß ich ihn habe. Die pure Niedertracht von dem Biest. Als ob sie nicht genug Exemplare in ihrer Käfersammlung hat!«
Sie merkt gar nicht, daß ich innerlich nach Luft schnappe, sondern starrt nur nachdenklich auf die Kristallränder vor unseren Füßen.
»Ich bin nicht albern, Colonel. Selbstverständlich weiß ich, daß ihr anders konstruiert seid als wir. Buddy ist ein ausgewachsener Mann von neunzehn. Ich fürchte nun, daß ich ihn auf die Dauer verliere. Er neigt nämlich zur Dankbarkeit. Was soll ich tun?«
Ich räuspere mich: »Muß ich mir erst überlegen. Laß uns da ‘raufgehen, den Bach entlang.«
Oben am Bach sitzen Eichelhäher, die sich sonst scheu in den Wäldern bergen, und hacken im Schnee herum. »Die müssen ja einen barbarischen Hunger haben«, meine ich. »Sieh mal, sie fliegen kaum zur Seite, wenn wir Vorbeigehen.«
»Die haben’s trotzdem gut«, erklärt sie düster. »Die haben keine Zeit für Gedanken. Aber ich...« Sie bleibt stehen, preßt die Faust im roten Strickhandschuh gegen die Brust: »Wenn ich nachts so daliege und mir vorstelle, jetzt ist er bei der — und nur, weil ich zu feige bin —, soll ich’s ihm geben, was er braucht, Colonel? Ich liebe ihn doch so furchtbar, Colonel, habe ich denn ein Recht...« Und dann liegt sie mit dem Gesicht in meinem Pelzkragen und schluchzt, daß es sie schüttelt. Ihre Hände krampfen sich so in meine Arme, daß es durch den Stoff hindurch noch weh tut. Ich lege einen Arm um sie und streichele ihre Schultern. Welche furchtbare Verantwortung hat da nach mir gegriffen! Ich ahnte ja, daß da etwas ganz Schweres kommen würde. Meine Skrupel in der vergangenen Nacht waren eine Kleinigkeit gegenüber dieser Wirklichkeit. Was mache ich nur mit diesem kleinen Kerl?
An meiner Brust rührt es sich. Sie wischt sich die Nase an meinem Pelzkragen ab, stemmt sich von mir fort, lächelt. Ich gebe ihr mein Taschentuch, sie putzt sich die Tränen ab, schnaubt sich gewaltig, gibt mir das Tuch wieder: »Das stinkt ja wieder so nach Auto! Gib’s mir, ich wasch’s mit durch.«
»Gut, hier hast du’s. Tja, und nun zu deinen Problemen. Das kann man natürlich nicht im Handumdrehen mit ja oder nein entscheiden. Das bedeutet keineswegs...«, füge ich hastig hinzu, als ich Enttäuschung und Mißtrauen in ihren Augen sehe, »... daß ich mich um eine klare Antwort drücken will. Aber sie muß doch Hand und Fuß haben. Dazu ist mir die ganze Sache viel zu ernst.«
Sie drückt wieder meinen Arm: »Danke, Colonel! Ist es vielleicht leichter für dich, wenn ich frage?«
»Frag.«
Sie holt abermals tief Atem, und ich fühle, wie schwer ihr trotz aller Vertrautheit zwischen uns die Offenbarung fällt: »Also — glaubst du, daß es Menschen gibt, die füreinander bestimmt sind? Oder ist das alles nur Einbildung? Fred sagt, die Liebe ist eine Zwangsvorstellung.«
»Hm.« In mir ist die Versuchung, einen Vortrag mit >einerseits und andererseits< zu halten und mich damit aus der Schlinge zu ziehen. Aber ich reiße mich zusammen: »Ja, ich glaube, daß es Menschen gibt, die füreinander bestimmt sind. Die Sache mit der Zwangsvorstellung ist Geschwätz.«
»Woran erkennt man nun«, fragt sie, »daß man füreinander bestimmt ist? Wenn ich an ihn denke, wird mir ganz eng ums Herz, so, als ob’s platzt. Ist es das?«
»Es ist jedenfalls ein Zeichen dafür, daß du verliebt bist«, sage ich vorsichtig.
»Aber Susanne sagt, ihr ist auch schon so eng gewesen — bei Verschiedenen!« (Oho, so weit bist du schon von deinem Thron herabgestiegen, daß du Susannchen um Rat fragst!) »Man kann doch nicht für mehrere bestimmt sein — oder?«
Und da entschlüpft es mir: »Man kann im Grunde nur für einen einzigen bestimmt sein.«
Sie bleibt erschrocken stehen: »Und wenn man den nun nicht findet?«
»Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Es ist so selten, daß man ihn findet — es ist ein Wunder.«
Ich fühle mich mit fast angstvoller Aufmerksamkeit gemustert. »Glaubst du — daß es so ein Wunder sein könnte — mit Buddy und mir? Woran erkennt man es? Du hast mir keine Antwort gegeben!«
Wie leer es um uns ist. Als ob der Natur vor lauter Kälte der Atem stockt. »Man erkennt es zum Beispiel daran«, sage ich, jedes Wort überlegend, »daß zwischen den beiden nie ein böses Wort fällt. Das kann es gar nicht geben, wenn man den findet, der gewissermaßen unser zweites Ich ist.«
Ihre Augen sind vor Verwunderung weit aufgerissen: »Glaubst du, daß es so was gibt? Hast du schon mal so was getroffen?«
»Ja, einmal — bei einem Ehepaar. Meine Freunde. Ich glaube es jedenfalls.«
»Leben sie noch?«
»Nein, sie sind tot. Er starb zuerst. Als er tot war, aß sie nichts mehr, bis sie auch tot war.«
Aus dem Gesicht neben mir verschwindet die Röte des Frostes: »Und woran erkennt man es noch?« fragt sie sehr leise.
Das Wasser neben uns scheint kohlschwarz, und ein seltsames Schneegebilde, wie ein großer Raubtierschnabel, hängt darüber.
»Kannst du dir vorstellen«, frage ich, »daß du mit Buddy glücklich verheiratet bist?«
Die Röte schießt wieder in ihr Gesicht: »Na, klar! Ganz genau sogar!«
Muß ich es wirklich sagen — jetzt? Ich fürchte, ich muß: »Und nun stell dir vor, man bringt ihn dir eines Tages — Verkehrsunfall. Beide Beine abgefahren. Den Rest deines Lebens, nein, den Hauptteil deines Lebens mußt du mit einem Krüppel verbringen, mit einem Krüppel, der durch sein Unglück und seine Schmerzen launisch ist, der dich mit seiner Eifersucht verfolgt. Wie würde es dann mit dir aussehen?«
Sie wirft den Kopf zurück: »Ich würde bei ihm bleiben! Selbstverständlich! Und wenn man mir sagte, daß eine Bluttransfusion gemacht werden müßte, bei der ich aber mein Leben riskieren würde — ich würd’s für ihn riskieren. Sofort! Im übrigen, Colonel, das mit den Beinen — wenn man an solche Ausnahmefälle denkt, würde ja kein Mensch heiraten!«
»Hm. Also, das mit der Bluttransfusion glaube ich dir. Jetzt im Augenblick würdest du’s vielleicht tun. Aber in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren? Nimm mal an, du heiratest nächstes Jahr. Du bist dann achtzehn und er zwanzig. Ihr könntet also ohne weiteres fünfzig Jahre und mehr verheiratet sein. Ich weiß nicht, wieviel fünfzig Jahre mal dreihundertfünfundsechzig ist, so ungefähr achtzehntausend, glaube ich. Achtzehntausendmal miteinander aufstehen und zu Bett gehen, Geschirr abwaschen, Zimmer machen, seine Reden anhören, die ja meist dieselben sind, weil niemand achtzehntausendmal originell sein kann, seine Launen ertragen...«
Sie reißt ihren Arm aus meinem, hält sich die Ohren zu und stampft auf, daß der Schnee stiebt: »Hör auf! Ich kann es nicht hören!« Und dann fallen die Hände herunter, ihre Lippen zittern: »Ihr seid furchtbar, ihr Erwachsenen. Fred hat recht — man soll euch nichts erzählen.«
Das ist wie eine Ohrfeige. Ich zucke die Achseln und wende mich zum Gehen. Eine ganze Weile laufe ich und bin schon fast am Strandkiosk, dessen Fenster vernagelt sind und der unter seiner riesigen Schneehaube beinahe zusammenbricht. Da schiebt sich eine Hand unter meinen Arm: »Du mußt doch zugeben, Colonel, daß die Sache mit den Beinen ein Ausnahmefall ist!«
»Wir sprechen ja auch von einem Ausnahmefall, nämlich daß du den einen, dir Bestimmten triffst.«
Ihre Hand fingert an meinem Ärmel: »Und wenn man nun diesen einen nicht trifft? Das ist doch das Wahrscheinliche?«
»Dann trifft man mit etwas Glück einen, der diesem inneren Bild oder der gleichen Wellenlänge — oder wie du das nun nennst — ziemlich nahekommt. Das kann dann auch noch sehr schön werden.«
In ihren Augen wird es wieder hell: »Und glaubst du, das mit Buddy könnte so was — so was beinahe Richtiges sein, das auch noch sehr schön ist?«
Ich lache nervös: »Wie soll ich das wissen, du Kindskopf? Ich kenne die Geschichte ja erst seit gestern.«
»Aber du kennst doch uns beide schon so lange. Findest du, daß wir zueinander passen?«
Das ist eine unangenehme Frage. Ich finde nämlich so ganz im Innersten, daß etwas — wie soll ich sagen — etwas Schicksalhaftes die beiden miteinander verbindet — nein, verbinden könnte. Ich muß mich sehr vorsehen, daß meine Phantasie nicht mal wieder mit mir durchgeht. Das ist keine Literatur, das ist das Leben! Muß ich mir immer wieder klarmachen. »Ich könnte mir schon denken, daß ihr zueinander paßt. Aber...«
»Aber?«
»Aber sicher bin ich mir nicht. Und vor allem, Kerlchen, habe ich den Eindruck, daß du selbst dir noch nicht im Letzten sicher bist. Deshalb...«, ich bleibe stehen, nehme sie an den Schultern und drehe sie zu mir um: »... deshalb würde ich es mir sehr, sehr überlegen, ihm jetzt schon etwas zu geben, was du nie wieder zurückbekommst. Wenn du dich nun geirrt hast...?«
Ihr Blick gleitet ab. Sie schiebt wieder die Unterlippe vor: »Wenn ich es nun täte...«
»Und wenn du dann später den Richtigen triffst?«
Sie sieht mich sachlich fragend an: »Meinst du, es würde ihn stören?«
Ich lasse ihre Schultern los und nehme sie unter den Arm, damit sie nicht merkt, wie albernerweise diesmal ich erröte. Addi, Teddy — vergebt mir, daß ich euch so oft vorwarf, eure Kinder nicht genügend aufgeklärt zu haben! Laut sage ich: »Menschenskind, du kannst einem aber auch zusetzen! Also, ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß es ihn stört.«
»Aber es gibt doch so viele Männer, die heiraten sogar Frauen mit Kindern von anderen und...«
»Aber...«
»...und bei den Eskimos muß man sogar mit der Frau des Hauses ins Bett gehen, sonst ist es eine Beleidigung!«
»Und vielleicht hat es mein Zukünftiger gern, wenn ich nicht mehr so ‘ne dumme Gans bin, und wenn er wirklich was sagt, werde ich ihn fragen: Und dein Vorleben??? Und was macht er dann?«
»Dann gibt er dir recht, nimmt seinen Hut und geht.«
»Hach, dann ist er ja schon mit mir verheiratet!«
»So! Du willst den armen Kerl also auf den Leim locken, du kleines Biest.«
Wir sehen uns an, und die fast unerträgliche Spannung löst sich in Gelächter. Wir kehren um und gehen den Uferweg zurück. Die Bergkette liegt jetzt wieder vor uns. Der Sonnspitz hat sich eine riesige Krone aus lila Föhnfahnen aufgesetzt wie einen Damenhut um die Jahrhundertwende.
Margot nimmt meine Hand: »Wenn du nun an seiner Stelle wärest — würde es dich stören, wenn ich — wenn ich schon vorher jemanden...«
»Es würde mich ganz entschieden stören, besonders bei einem so jungen Ding wie dir, und das halte ich für normal.«
»Wenn du mich aber so richtig liebhättest, würdest du es übersehen — ich meine, würdest du mich trotzdem heiraten?«
»Vielleicht, aber ich würde mein Leben lang darunter leiden.«
»Aus Eifersucht?«
»Aus Eifersucht.«
»Auch schick!«
Worauf ich nur noch ächzen kann. Sie quietscht darüber vor Vergnügen, aber das Gequietsche ist gespielt. Dann nimmt sie einen neuen Anlauf: »Wenn ich nun aber — wenn ich mich trotzdem entschließen würde... Glaubst du, daß es Buddy an mich binden könnte?«
»Sehr ungewiß. Kann sein, kann nicht sein.«
»Und wenn ich es nun so einrichte, daß ich — daß ich ein Kind von ihm bekomme?«
»Mein Gott, Mädel!«
Sie schaut mich groß an und sieht dabei erschreckend unreif aus: »Wieso? Der Lofer Sepp und die Anni haben auch heiraten müssen, als es soweit war, und die Resl vom Hackerhof hat ihren Loisl auch auf die Weise gekriegt.«
»Du vergißt, daß beides Heiraten waren, mit denen die Eltern im Grunde einverstanden waren, weil Besitz zusammenkam. Was bringst du schon mit? Nichts. Willst du dein Abitur mit einem Säugling an der Brust machen? Und selbst wenn du’s tust, was fängst du mit dem Abitur in Buddys Sägewerk an? Und glaubst du, daß er dir je verzeiht, daß du dir die Ehe mit ihm auf diese Weise erschlichen hast? Und was, glaubst du, machen die anderen Weiber in der Familie mit dir, seine Mutter, die Schwestern, die Frauen seiner Brüder? Sie würden dich zwischen sich in kleine Stücke zerhacken und dich im Handumdrehen so weit haben, daß du dich scheiden läßt oder in den Mühlbach gehst. Und wofür das alles? Für ein paar Wochen eines triebhaften Glücks — bestenfalls! Und was gibst du für dieses Elend auf, das sicher danach kommt? Ein schönes Elternhaus, dein Studium, deine Freiheit. Was du damit verloren hast, würdest du sehr bald merken. Aber dann wär’s zu spät. Mußt du diesen Blödsinn unbedingt durchexerzieren?« Sie nagt an der Unterlippe: »Wenn er die Luzie wenigstens neben vielen anderen hätte, aber so — als einzige — ich glaube, ich werde noch verrückt darüber! Ich...«
Sie bricht plötzlich ab. Ich blicke auf und sehe, warum: Vom Bach her kommt Buddy auf uns zu. Jetzt stutzt er, geht nach einem Augenblick beschleunigt weiter in unserer Richtung. Ich spüre ihr Zittern. Als er heran ist und grüßt, läßt sie mich los: »Es ist ja schon halb zwölf! Ich muß noch was zum Mittag holen. Ihr beide könnt ja zusammen gehen. Tschüs!«
Sie saust davon, als sei der Teufel hinter ihr her.
Wir sehen ihr nach und dann uns gegenseitig an. Beide wenden wir den Blick schnell wieder ab. Ich schaue auf die Uhr: »Ja, ich werde mich auch heimwärts wälzen. Muß noch mal beim >Königsbräu< vorbei.« Ich sage es nur, um ihn loszuwerden. Im Moment fühle ich mich einfach nicht imstande, nun auch noch den Kampf mit ihm aufzunehmen. Erst mal nach Hause und überlegen. Vielleicht doch mit der Mama sprechen. Buddy aber nimmt meine Ausrede für wahr: »Darf ich Sie begleiten, Colonel?«
»Hm. — Wie ist denn das Fest bekommen?«
»Danke. Und Ihnen?«
»Na, ich hatte ja nicht viel davon — außer Sorgen um die Mädchen.«
»Ja, ich weiß, und — und es tut mir leid, daß wir Ihnen nun auch noch Sorgen machen.«
»Nicht zu ändern, Buddy. Wir müssen halt sehen, daß wir alle einen klaren Kopf behalten.«
»Sie können sich auf mich verlassen. Tut mir sehr leid, das mit Margot, aber was soll ich machen?«
»Eben einen klaren Kopf behalten. Wenn Margot so zu Ihnen steht, wie Sie zu ihr, wird sie es Ihnen früher oder später danken, daß Sie sie — hm — geschont haben.«
Wir gehen weiter. Ich blicke ihn von der Seite an. Seine Stirn ist grüblerisch in Falten gezogen. Vielleicht ist es mir gelungen, einen Damm aufzuwerfen vor der Lawine dieser Leidenschaft. Darm sagt er: »Sie ist kein schlechtes Mädel, ich meine die Luzie. Und wissen Sie auch, warum?«
»Na?«
»Weil sie aus Überzeugung handelt. Sie sagt, daß sie die blöden Puten verachtet, die Limonade in den Adern haben und sich aus Berechnung aufsparen. Ich glaube, daß jeder, der aus Überzeugung handelt, unschuldig ist — wenigstens in einem höheren Sinn.«
»Von Schuld kann man in dem Fall überhaupt nicht reden. Das Mädel kann einem nur leid tun.«
»Warum?« Es ist eine gute Portion Trotz in seiner Frage.
»Weil so ein Mensch, besonders, wenn es ein Mädel ist, früher oder später gegen die Mauer rennt. Schließlich sind uns in diesem Leben Aufgaben gestellt worden. Eine davon ist, sich zu beherrschen, seine Gedanken und seine Gefühle. Man soll seine Gefühle keineswegs verleugnen, aber — wie gesagt — beherrschen.«
Er schüttelt den Kopf wie ein kleiner Büffel: »Ich glaube nicht, daß uns im Leben Aufgaben gestellt sind. Fred sagt, das projizieren wir einfach in die Natur hinein. In Wirklichkeit ist alles ganz anders. Aufgaben — Sinn des Lebens — Entwicklung — das besteht alles nur in unserer Einbildung, sagt er.«
»Die ganze Welt besteht nur in unserer Einbildung, wenn Sie so wollen, Buddy. Auch Ihre oder vielmehr Freds Anschauung von der Sinnlosigkeit der Natur ist dann nur ein Teil unserer Einbildung. So kommen wir nicht weiter, und so ist es auch nicht. Übrigens — dieser Fred, wie heißt er eigentlich?«
»Ferdinand Frankenfeld, Sie mögen ihn nicht?«
»Nicht sehr. Das heißt, ich kenne ihn ja kaum. Scheint etwas zuviel Geld von den Eltern zu bekommen.«
»Halb so wild.«
»Na, er kriegt doch jetzt sogar einen eigenen Wagen! Meine beiden Hühner sind schon ganz verrückt.«
»Ich glaub’ nicht an den eigenen Wagen. Überhaupt...«
»Überhaupt was?«
»Ach...« i
»Hm. Und dieser merkwürdige Mensch, den er da bei sich hat, dieser Gorilla? Der ist doch kein Mitschüler von euch!«
»Nein.«
Ich spüre deutlich eine Abwehr und schweige. Der >Königsbräu< taucht vor uns auf, die großen, schneebeladenen Dächer tief ins Gesicht gezogen, von den Riesensäulen der Eichen umstanden.
»Ich weiß auch nicht, was die beiden aneinander haben«, meint Buddy. Und das bleibt alles, was er zu diesem Fall zu sagen hat.
Der >Königsbräu< zeigt noch Spuren des Rummels in der vergangenen Nacht.
In der Müllschütte zerbrochene Flaschen, Gläser, Stuhlbeine, Pappnasen, Papierschlangen und ein zerfetztes Korsett. »Da hat’s einer wissen wollen«, meint Buddy sachverständig.
Im Bräustüberl finden wir die letzten Überlebenden der tollen Nacht. Sie halten sich am Stammtisch fest und versuchen mit Hilfe kleiner Heller jenen lichten Augenblick des Hartsäufers zu erhaschen, in dem allein er den Weg ins Bett finden kann. Der Wirt, ein dunkler Mann mit schweren Augenlidern, traurigem Schnurrbart, Kehlbraten und roten Riesenpratzen, bedient sie in der unbegreiflichen Lebenszähigkeit des echten Gastwirts. Ehe ich den Mund aufbekomme, hat er für mich und Buddy zwei halbe Maß hingestellt und uns mit liebevollem Prankendruck auf die Bank gequetscht.
Mir gegenüber sitzt mit völlig verdüstertem Gesicht, die grüne Hausdienerschürze umgebunden, der Seiler-Max. Als er mich erkennt, reißt er die unrasierten Nußknacker-Kinnladen auf und entblößt eine Reihe gelber Zahnstummel: »Prosit, Herr Dokta!«
Der Wurzelsepp, neben den ich zu sitzen gekommen bin, stößt mich in die Seite: »Er woaß net g’nau, aber er glaubt, daß er verlobt is!«
»Ist er«, sage ich, »mit der Frau Bachmeier. Gratuliere, Max, kriegst eine gute Frau!«
Maxi richtet sich auf und sieht sich im Kreise um: »Alsdann stimmt’s! Der Herr Dokta hat’s g’sagt. Gregor — (das ist sein Chef, der Wirt), die Maß vom Herrn Dokta und vom Hackl-Buam zahl’ i!« Hackl-Bub — das ist Buddy bei den erwachsenen Einheimischen, die noch die alten Geschlechternamen der Höfe kennen. Der Hackl-Hof, der bleibt der Hackl-Hof, auch wenn er längst kein Hof mehr ist, sondern ein Sägewerk, und vier Besitzer mit ganz anderen Namen darüber hingestorben sind.
»Is scho recht«, der Wirt hockt sich neben mich: »Die wird ihn schon hinbiegen, die Bachmeier-Luise.« Und zum Max: »Aber deine alten Pferdezähn’ tät ich mir reißen lassen und ein schönes neues Gebiß anschaffen vor der Hochzeit!«
»Da gibt’s jetzt so was zum Festpicken«, erklärt der Mühlner-Schorsch, der Dorfpolizist. Ich habe ihn noch gar nicht bemerkt mit seinem blassen Pickelgesicht, zumal er in Zivil ist. »Damit’s dir net außifliagt, wann’s >ja< sagst auf ‘m Standesamt!« Er lacht so über seinen eigenen Witz, daß ein semmelblonder, dicker, verkaterter Pierrot, der an seiner Seite klebt, erschrocken auf fährt: »Was denn — was denn — nicht doch, Mutti!« Er mustert uns argwöhnisch mit knallblauen kurzsichtigen Augen, fällt dann nach hinten gegen die Banklehne und beginnt zu schnarchen, während sich an seiner Nasenspitze ein heller Tropfen bildet, den wir alle fasziniert beobachten.
»Was ist denn das für’n Vogel?« frage ich.
»Der ist von Köln«, sagt der Polizist.
»Die Brieftaschen haben s’ ihm g’nomma mit hundertfuffzig Markeln! Nix mehr hat er g’habt, wie er hat zahl’n woll’n. Jetzt kann er net heim, und ganz bei sich is er a no net.«
Ich habe mich der Stimmung des Stammtischs ganz anheimgegeben. Diese so wohlbekannte Männerrunde, in der man sein Bier trinkt, ab und zu ein Wort sagt, dem Rauch nachschaut und sich gut ist, übt immer wieder einen unwiderstehlichen mollig-einschläfernden Magnetismus auf mich aus. Jetzt aber bin ich plötzlich munter: »Brieftasche genommen? Das ist ja interessant!«
»Hat’s dir a dei Brieftasch’n zog’n, des schwarze Luada, mit der du an der Bar g’hockt bist?« fragt der Wurzelsepp.
»Nein, aber dem Brandt, dem Bildhauer.«
Der Haber-Leo, der neben dem Seiler-Max sitzt, reißt das Maul auf, daß man den Radi sieht, den er eben zerkracht hat: »Der — der Buidhauer, der wo immer die nackerten Weibsleut in seim Atiiliö hat?« Er ist noch nicht fünfzig, der Haber-Leo, sieht aber aus wie sechzig und läuft herum, daß es Gott erbarmen könnte, mit geflickten Hosenträgern und grauen Hemden. Dabei ist er ein Millionär mit einem großen Hof und noch viel größeren Wäldern. Aus irgendeinem Grunde, den niemand kennt, ist er bei seiner Frau nicht gut angeschrieben und träumt seit zehn Jahren davon, die jeweilige Kellnerin des >Königsbräus< zu verführen.
»Ja, der«, antworte ich.
Worauf der Mühlner-Schorsch aufspringt, daß der Pierrot ins Wanken kommt: »Sie — dös is fei intressant, Herr Dokta! I hock mi mal z’ Eahna!« Er lehnt seinen röchelnden Schützling dem Haber-Leo an die Schulter, setzt sich mir gegenüber und holt das Notizbuch heraus. Ich erzähle, was ich weiß, und er schreibt es unter allgemeiner Spannung auf, wobei er die Zunge in der Backe bewegt und ab und zu leise ächzt. Dann blickt er auf und mißt mich mit einem triumphierenden Blick: »Irgendwelcher Verdacht?«
»Keine Ahnung.« Dann aber fällt mir etwas ein: »Er hat nur gesagt, der Brandt, daß ihn ungefähr um die Zeit, als das passiert sein könnte, einer an der Bar angerempelt hat, einer mit enorm breiten Schultern.«
Der Mühlner hebt seinen abgeknabberten Bleistift vors Gesicht: »Sie — dös is sehr wichtig, Herr Dokta! Dös is nämli des erschte Indiz, versteh’n S’ mi?«
Wieder sieht er sich triumphierend im Kreise um und beginnt dann erneut zu schreiben. Neben mir trinkt Buddy, der bis dahin schweigend in der Erwachsenen-Runde gesessen hat, sein Bier aus: »Ich muß heim, entschuldigen Sie mich, Colonel? Dank dir schön, Max, und viel Glück!«
»Dem pressiert’s aber plötzlich!« staunt der Mühlner und blickt ihm durchbohrend nach.
Der Wurzelsepp lacht: »Na, so breite Schultern hat der net, daß du ihm so nachschaugst, du bieder Hund!« Und zu mir: »Die werd’n fei streng g’halt’n, die Hackl-Buam! Die wann a paar Minut’n z’ spat zum Ess’n kommen, gibt’s nix mehr! Die müass’n d’ Erschtn und d Letztn sein im Betrieb, und fuffzig Markl Taschngeld und sonst nix mehr! Der Vatter sogt, wann ihr mehra hab’n wollts, sehgst zua, wo ihr nach Feirabnd was verdients. Und neuli«, fügt er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu, »neuli, auf Kirchweih, hat er d’ ganz’ Famili verdrosch’n, der olte Hackl, d’ Alt und alle drei Buam.«
»Da legst di nieda!« meint der Seiler-Maxl anerkennend.
Der Mühlner aber, offenbar gekränkt darüber, daß ihn der Hackl aus dem Mittelpunkt des Interesses gedrängt hat, packt mein Handgelenk: »Sie, Herr Dokta — dös war a ganze Band’n, dös sag ich Eahna!«
»Eine Bande? Ja, ist denn überhaupt was gestohlen worden? Haben die beiden ihr Geld nicht vielleicht im Suff verloren?«
Er läßt mich los und ist ganz entsetzt, daß ich ihm seinen Fall nehmen könnte: »Nix da! Die beiden? Fünfe, sag ich Eahna, fünfe hab’n sich g’meld’ bisher! Die Band’ muß über zwölfhundert Mark g’stohl’n hab’n!«
Ich fühle den Wunsch, ihn zu trösten: »So, na, das klingt allerdings ziemlich ernst. Berufsverbrecher von außerhalb, könnte ich mir denken.«
Mühlner steht auf und ist ganz Würde: »Ich geh’ jetzt aufs Revier und mach’ ein Protokoll. Wenn S’ vielleicht am Nachmittag umikommen täten und unterschreiben, Herr Dokta? Sonst kann ich a bei Eahna vorsprechen!«
»Ach ja, kommen Sie lieber zu mir«, sage ich, der ich Mühlners Vorliebe für meine Zigarren und Schnäpse kenne. Außerdem weiß man ja nie, wozu man die Polizei mal braucht.
Mühlner wendet sich an den Wirt: »Den...«, er zeigt auf den Pierrot, der friedlich an Habers Schulter schnarcht: »...den schaffst auf a Zimmer und laßt ihn net furt, Gregor!«
Der lacht, daß ihm das Doppelkinn wackelt: »Da brauchst ka Angst net hab’n — bis’s Göld da is!«
Ich sehe auf die Uhr: »Ja — nun muß ich aber auch schleunigst!«
Es sind nur ein paar Hundert Meter bis zu meinem Haus. Und ich wandere sie mit Genuß. Die Sorge um Margot und Buddy hat nachgelassen. Scheinen ja beide vernünftig zu sein. Und im übrigen ist alles hundsgemütlich! Die Tafelrunde war doch wieder ganz groß.
Jetzt tauchen schon unsere beiden Häuser auf. Im Feld hinter dem Garten pflügt Cocki mit wehenden Ohren durch den Schnee und stößt jappende Hetzlaute aus. Was hat er denn — eine Hasenspur? Nein, da schwirrt es dicht vor seiner Nase auf, ein Schwarm brauner Vögel. Das ist ja das Rebhuhnvolk, das seit Wochen immer an der gleichen Stelle einfällt. Wovon sie leben mögen, die kleinen Kerle? Als ich in unseren Weg einbiege, kommen mir der Reiserer-Franz und Thomas entgegen. »Alles aufgeräumt, Colonel!« meldet Thomas. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, weil er meinen alten Mantel trägt. Der ist ihm an den Schultern etwas weit und unten viel zu lang. Aber er marschiert daher wie ein General. Der Franz, Hände in den Taschen und den Rücken in seiner kurzen Jacke krummgezogen, grinst mich an: »Kalt, wenn man wieder ‘rauskommt!« Und als es bei mir sichtbar nicht ganz zündet: »Susanne hat mich ‘reingeholt und mir einen Wein gegeben. Und getanzt haben wir auch. Ich bring’ ihr wieder Platten von mir, heute nachmittag.«
So heftig hätte der von mir anbefohlene Dank ja nun gar nicht ausfallen sollen. Dieses Susannchen!
Dann erscheint der Kopf der Mama am Fenster: »Ja, kommst du endlich? Es ist bald alles verbrannt, und der Magen hängt mir bis auf die Knie!«