18

Mit einem Ruck bin ich wach. Warum bin ich eigentlich so kribbelig? Wieder mal Föhn? Buddy!

Im nächsten Augenblick bin ich auch schon neben dem Telefon, läute die Mädchen an, da ich schlecht im Pyjama zu ihnen hinüberlaufen kann. Da ist Margots Stimme. Auch noch ziemlich verschlafen.

»Was ist mit Buddy?«

»Ach du, Colonel... Buddy? Was soll denn mit ihm sein?«

»Hat er sich nicht... ich meine — du könntest doch wenigstens...«

Ihre Stimme ist plötzlich ganz wach: »Du glaubst doch nicht etwa... du hast doch gesagt... Ich rufe gleich bei ihm an und sag’ dir Bescheid!«

Fünf endlose Minuten sitze ich auf dem Couchrand, friere und starre aufs Telefon. Das Weffchen, das sich schüchtern wedelnd an mir aufrichtet, stoße ich nervös zurück. Dann sehe ich den ratlosen Schmerz in seinen stillen, braunen Augen und nehme ihn auf den Schoß. Und dann schnarrt das Telefon. Margot: »Alles in Ordnung, Colonel! Buddy war ganz gerührt, als er hörte, daß du dir Sorgen gemacht hast — und ich hab’ ihm gesagt, daß ich mir auch Sorgen gemacht hab’.«

»Gut, nachher schaue ich zu euch ‘rüber.«

Als ich nach dem Frühstück drüben auftauche, werde ich von den beiden Hühnern phänomenal umflattert. Ich fühle mich wie neugeboren und genieße den Reiz junger Weiblichkeit. Wie ein Pascha komme ich mir vor, und außerdem bin ich schon wieder leicht gerührt. Ist doch nett von den beiden, daß sie meine Besorgnis so anerkennen.

Bemerkenswerterweise ist nicht nur Margot, sondern auch Susanne so fürsorglich. Offenbar hat ihr Margot meine Ängste erzählt. Susanne besteht jedenfalls darauf, daß ich von Freds abermals neu aufgefülltem Konfekt nehme, holt dann eine Bürste, setzt sich auf die Sessellehne und bürstet mir die Glatze zu: »Direkt hübsch siehst du jetzt aus, Colonel!«

Das scheint mir etwas zu dick aufgetragen, und mein in den letzten Wochen hart trainiertes Mißtrauen spitzt die Ohren.

In diesem Augenblick tönt draußen eine Hupe.

»Das ist Fred!« sagt Susanne, macht auf der Hinterhand kehrt und verschwindet. Draußen fällt ein Schlag zu, und ich sehe Fred am Fenster vorbeikommen, im Anorak mit einem gelben Schal, kühn um den Hals gewunden, eine Schirmkappe aufs Ohr gestülpt. Er dreht sich zum Wagen um: »Schmeiß das Zeug von den Hintersitzen, da kommen die Puppen drauf!« Ganz offenbar wird der Versuch unternommen, mich zu überrollen. Ich höre Susanne die Tür öffnen: »Wir kommen gleich!«

»Aber ‘n bißchen fix!«

Darauf Susanne: »Bin ja schon fertig!« Tür zu. Ich in die Diele, mich schnell angezogen, hinterher. Draußen steht ein Kabriolett mit Biedersteiner Nummer, und aus ihm steigt gerade der Gorilla. Er hat einen offensichtlich neuen Wintermantel an und einen grauen Hut auf, wirkt aber dadurch noch mehr als beim Maskenball wie verkleidet. Fast hätte ich ihn übrigens gar nicht erkannt, denn unter dem Hut quillt eine schwarze Haarlocke vor, die ich bisher nicht an ihm bemerkte, und außerdem hat er sich einen Schnurrbart wachsen lassen.

»Augenblick mal!« sage ich. Alles dreht sich nach mir um. Fred nimmt mit ironischer Höflichkeit die Mütze ab: »Guten Tag!«

»Guten Tag.«

»Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen«, sagt er mit gleichbleibender ironischer Höflichkeit, »daß ich mit den Mädchen ein bißchen ausfahre!«

»Die beiden jungen Damen«, erkläre ich sehr betont, »sind mir von ihren Eltern anvertraut worden, wie Sie wissen. Und ich muß Ihnen leider sagen, daß aus dieser Fahrt nichts werden kann.«

»Aber Colonel!« ruft Margot. »Wir sind doch abends wieder hier!«

»Ich bin ganz gerührt darüber, mein Kind, aber es geht trotzdem nicht. Die Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Wenn eure Eltern es euch gestatten — bitte sehr. Aber ich kann’s nicht. Das müßt ihr einsehen.«

Margot schiebt die Unterlippe vor. Susanne versucht eine andere Taktik. Sie wirft mir die Arme um den Hals: »Ach Colonel — bitte, bitte!« Dabei gibt sie mir einen so stürmischen Kuß, daß mein Hut in den Schnee fällt. Sie hebt ihn gleich auf und putzt ihn ab, und dabei sehe ich zufällig auf den Gorilla. Seine Augen sind wie fasziniert auf das Armband gerichtet, das Susanne beim Hantieren aus dem Ärmel aufs Handgelenk gerutscht ist.

»Aber das können Sie doch nicht machen!« sagt Fred. Er ist ganz bleich.

Ich setze meinen Hut wieder auf: »Glauben Sie?« Dann sehe ich mich plötzlich durch seine Augen: einen widerspenstigen älteren Mann, der sich für zwei Mädchen, die gar nicht seine Töchter sind, wichtig macht. Ich räuspere mich: »Sie müssen das verstehen, Fred. Ich weiß ja zum Beispiel gar nicht, wie Sie fahren. Sie sind noch sehr jung.«

Er zeigt auf den Gorilla: »Der fährt ja! Und der fährt prima!«

Der Gorilla starrt immer noch auf das Armband.

»Darf ich mal Ihren Führerschein sehen?« frage ich ihn. Ich muß es wiederholen, bis er mich hört. Dann sehe ich wieder jenes merkwürdige Erschrecken in seinen Augen — wann habe ich das eigentlich schon mal bemerkt? Er kramt in seiner Brieftasche und holt einen Führerschein heraus, ein ziemlich abgegriffenes Gebilde, innen ist auch noch Tinte über das Bild gelaufen. >Walter Dengler<, entziffere ich. Ich mustere den Gorilla, während ich ihm den Schein zurückgebe: »Mein Kompliment Sie haben sich gut gehalten.«

Seine Augen gehen unsicher hin und her: »Wieso?«

»Na, für einundvierzig Jahre sehen Sie noch recht jung aus!«

»Sie auch«, sagt er hastig. »Sie auch, Herr!«

»Herr!« Merkwürdig. Was ist das bloß für ein Mensch. Benimmt sich wie ein Kammerdiener. Nein, eigentlich auch nicht. Diese Mischung aus Brutalität und Scheu — auf jeden Fall sehr unsympathisch.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Dengler«, sage ich kühl, »aber in die Fahrt kann ich trotzdem nicht einwilligen. Vielleicht sehen Sie das wenigstens ein. Sie sind ja ein reifer Mann.« Er scheint schon wieder völlig abwesend, seine Augen gleiten erneut auf das Armband und von dort zu Fred. Dabei ziehen sie sich zu Schlitzen zusammen und sehen sehr böse und grausam aus. Dann wandern diese Augen über Fred hinweg die Straße entlang, und plötzlich geschieht etwas Überraschendes: Er geht auf Fred zu, der noch immer ratlos und beleidigt dasteht, und packt ihn am Arm: »Komm, du Idiot!« Und sich dann mit einem schiefen Lächeln zu mir wendend: »Der Herr hat ganz recht!«

»Aber erlaube mal...«, fängt Fred an, gleich darauf verzieht er schmerzhaft das Gesicht, so hart ist der Griff geworden. Der Gorilla steigt in den Wagen, ihn mit sich ziehend. Er tut es so heftig, daß Freds Kopf an den Türrahmen stößt. Tür zu, starten und ab, daß der Kies unter dem Schnee wegfliegt.

Ich erhole mich als erster von der allgemeinen Verblüffung. Die Mädchen stehen noch immer mit offenem Mund da. Ihr Traum ist zerplatzt wie eine Seifenblase.

»Na, das ging ja kurz und schmerzlos«, meine ich.

Susanne stampft mit dem Fuß auf und heult wie ein kleines Mädchen: »Pfui, Colonel, das hast du uns verdorben! Warum hast du’s uns nicht gegönnt? Wir haben uns so gefreut.«

Ich lege ihr die Hand tröstend auf die Schulter, aber sie stößt sie weg: »Ach, laß das!«

Margot sieht nachdenklich hinter dem Wagen her. Schließlich nimmt sie den Arm ihrer Schwester: »Komm ‘rein und gib nicht so an.«

Ich schaue ihnen nach und bin ärgerlich, über sie, über die beiden abgebrausten Kavaliere und über mich selbst. Vielleicht bin ich übertimpelig gewesen, hätte ihnen doch das Vergnügen gönnen sollen. Die Straßen sind schließlich voll von Autos mit jungen Leuten...

»Na?« sagt eine Stimme hinter mir, »Vatersorgen?«

Ich drehe mich um, es ist der Mühlner-Schorsch, diesmal in Uniform.

Ich seufze: »Es ist zum Kotzen, mein Lieber. Ich muß sagen, ich bewundere den Teddy und die Addi, meine Freunde hier. So ein ganzes Leben lang ununterbrochen Eltern zu sein...«

»Worum ging’s denn?« erkundigt er sich sanft.

»Ach, sie wollten mit zwei Kavalieren wegfahren, und ich hab’s ihnen verboten.«

»Mit dem Fred Frankenfeld aus dem Internat und diesem... diesem... wie heißt er denn?«

»Sie meinen den Gorilla? Dengler heißt er, Sherlock Holmes.«

Mühlner lacht: »Weil ich den Frankenfeld kenne? Na, allmählich kennt man doch die Typen. Aber daß Sie den Namen von dem anderen wissen!«

»Hat sich mein schlechtes Namensgedächtnis auch schon bis zu Ihnen ‘rumgesprochen? Ich kann Sie beruhigen, er hat mir seinen Führerschein gezeigt.«

Er hebt die Augenbrauen: »Soso. Führerschein hat er auch!«

»Na ja, natürlich, sonst dürfte er doch nicht den Wagen fahren, Sie Schlaumeier. Übrigens, ich war ganz erstaunt, der Mann sieht aus wie höchstens dreißig, und in Wirklichkeit ist er schon einundvierzig. Aus Biederstein. Walter Dengler.«

»Ja, da schau her«, meint der Mühlner ironisch. »Der Walter Dengler.«

»Kennen Sie ihn?«

»O ja, ich kenne ihn — den Walter Dengler.«

Was hat er denn, denke ich, warum tut er bloß so ironisch, das dumme Luder? Er scheint in irgendeinem geheimen Triumph zu schwelgen. Na, soll er. Dann fällt mir etwas anderes ein: »Wissen Sie, Mühlner, finden Sie es nicht auch etwas eigenartig, daß dieser Fred da dauernd mit so einem älteren Mann ‘rumläuft?«

»Ja, ziemlich.«

»Ich hab’ immer ein unangenehmes Gefühl, wenn ich so was sehe. Das sind eben diese Jüngelchen aus der Industrie, denen die Eltern viel zuviel Geld in die Tasche stecken. Dann geht’s los mit Konfekt für die Mädchen, Armband für die Mädchen, mit Auto — er soll ja sogar seinen eigenen Wagen hier ‘runtergeschickt kriegen. Vater ist tot, und Söhnchen erbt dann gleich, wenn er mit der Schule fertig ist, die Fabrik. Ich dachte überhaupt, das wäre schon der eigene Wagen, aber der hier hatte ja ‘ne Biedersteiner Nummer.«

»Selbstfahrerzentrale Schmidt, der Wagen für jeden Geschmack«, sagt Mühlner.

Ich lache: »Sie sind wirklich großartig! Viel zu schade für dieses Dorf.«

Er legt sein verpickeltes Gesicht schief: »Na, vielleicht bring’ ich’s auch weiter, wenn ich hier mal einen Erfolg habe. Sie können mich ja dann in die Zeitung bringen, Sie haben doch Beziehungen zur Presse!«

»Darauf können Sie sich verlassen«, sage ich mit Überzeugung. Ein eigentümlicher Ausdruck tritt in sein Gesicht, den ich im Moment nicht deuten kann: »Na schön«, sagt er. »Nett von Ihnen!« Und dann gibt er mir die Hand.

Ich sehe ihm nach, wie er den Weg zum See hinunterstampft. Komischer Kerl.

Was soll ich mit diesem angebrochenen Nachmittag machen? Hm. Ich bleibe im Garten stehen und polke nachdenklich an der Lippe. Plötzlich habe ich eine Idee: Ich werde versuchen, an der Saubucht Wild zu schießen — natürlich nur mit dem Teleobjektiv —, solange noch Schnee liegt. Über Nacht hat sich nämlich der Föhn gewaltig betätigt, und überall tropft und rinnt es. Von den Dächern hängen Eiszapfen, an denen die Tropfen mit der Regelmäßigkeit kleiner Uhrwerke zur feuchtschwarzen Erde rollen.

Zunächst stöbere ich die beiden Hunde auf und sperre sie in der Bibliothek ein, mit der strengen Order an die Mama, sie keinesfalls aus dem Haus zu lassen. Man ist nämlich vor dem kleinen Löwen niemals sicher. Er kann noch so maulen und anschließend verschwunden sein — aus irgendeinem Dickicht sind zwei goldene Augen bestimmt auf Herrchen gerichtet, und die großen Ohren registrieren jeden seiner Schritte. Wie oft habe ich mir schon eingebildet, ihn abgehängt zu haben, und dann kam er nach einer halben Stunde angerast, mit den Riesenohren, die wie Windmühlenflügel um seine Schläfen rotieren.

Dann suche ich mir meinen Fotokram zusammen, ziehe mir zwei Paar Unterhosen an — für den Hochsitz — und stampfe los. Als ich am Ende des Dorfes ankomme, dort, wo die Wiesen gegen den Wald ansteigen, sehe ich doch tatsächlich im Garten der Weißgerbers schon ein Bündel Schneeglöckchen. Sie machen ihrem Namen Ehre, indem sie den Schnee hochgestemmt haben und nun unter einer Kappe von gefrorenen Diamantspitzen hocken wie eine Kurkapelle unter dem Muschelbaldachin.

Ich gehe den Hügel hinauf. Es ist gut, daß ich die Keilhosen anhabe, denn dort liegt noch viel Schnee, manchmal sinke ich bis an die Knie ein. Oben allerdings, auf der Hochfläche und am Anfang des Waldes, gibt’s nur wenig Schnee. Fraglich, ob ich das Wild noch an der Saubucht-Raufe >schießen< kann, es findet vielleicht schon allerhand im Wald. Mal sehen. Ich wende mich, ehe ich in den Wald tauche, noch einmal dem Dorf zu. Es liegt in der Tiefe wie ein Häufchen bunter Würfel, die ein Riese auf ein weißes Tischtuch geschüttet hat. Unter mir, am Fuß des Hügels, wo der Weg zwischen der Schreinerei und der Schmiede endet, steht Karl-Friedrich. Er hat einen langen Stock in der Hand. Jetzt kommen noch zwei Mädels und dann ein Junge und umringen ihn. Weiß der Himmel, was für ein Streich da wieder ausgeheckt wird. Diese ewig brodelnde, unruhegetriebene Jugend! Na, für eine Weile wenigstens bin ich sie jetzt los.

Ich tauche in den Wald ein, und wie immer strömen mir aus seinem weiten grünen Atem neue Kräfte zu. Immer wieder bleibe ich stehen, immer wieder trinken meine Augen die dunklen Behänge der Tannen an den Rändern, immer wieder lausche ich dem leisen Rascheln und Knarren der Wipfel, dem dumpfen Plumpsen, mit dem der tauende Schnee auf das Moos fällt, dem keckernden Schrei des Hähers. Ich schleiche mich gegen den Wind an und untersuche dann die Umgebung der Raufe mit dem Glas. Nichts. So gehe ich denn im Baumschatten weiter, bis ich an die Wildkanzel komme. Ich klettere hinauf, vorsichtig, weil man nie weiß, wie weit die Leiter im Winter morsch geworden ist. Oben fege ich den Schnee leise vom Sitzbrett, lege die Decke darüber, die ich mitgenommen habe, und fixiere dann das Teleobjektiv auf die Futterraufe. Wieder Stille. Ich kann jetzt, über die Schonung hinweg, die faserigen weißen Wolken sehen, die durch den blaßblauen Himmel ziehen. Auf den Wiesen draußen bellt ein Hund, ein Volk Rebhühner, offenbar von ihm aufgescheucht, purrt auf die kleine Lichtung und läßt sich für ein paar Minuten nieder. Nach einer Weile steuert mit singenden Schwingen ein Schwanenpaar über die Wipfel, wahrscheinlich auf dem Wege zum Nachbarsee.

Ein Knacken in der Schonung! Sofort versteinern meine Muskeln. Mit den Zähnen reiße ich den Handschuh von den Fingern, klappe den Lichtmesser auf, kontrolliere noch Belichtung und Blende — da bewegt sich ein Schatten in Richtung auf die Raufe. Ein Böckchen! Deutlich sehe ich die beiden Hörner. Zwei Ricken dahinter. Wenn sie jetzt auf die Lichtung treten, habe ich sie! Und sie kommen, zuerst das Böckchen. Die Ricken stecken schon hinter ihm die Köpfe durch den Tannenbehang, als der Bock die Lauscher hochstellt. Und dann höre ich es auch: Gesang! Ausgerechnet! Mein Finger drückt den Auslöser. Wenigstens das Böckchen habe ich erwischt. Da macht er auch schon auf der Hinterhand kehrt, und das Trio stiebt durch die Bäume davon. Noch ein paarmal sehe ich ihre weißen Blumen aufleuchten, dann sind sie weg. Himmel-Herrgott-Flitzebogen — daß diese verdammten Schweißfuß-Indianer das Grölen nicht lassen können!

Ich will schon von der Kanzel klettern und grob werden, als die Spitze des Vereins auf die Lichtung tritt. Und wer führt sie an? Karl-Friedrich mit seinen vorstehenden Zähnen und einem Wimpel in der Hand. Das ist also der Stock, den ich vorhin gesehen habe. Und auch Thomas ist dabei, und ungefähr fünfundzwanzig kleinere Mädels und Buben und ganz zuletzt Sophie, die Augen auf den Boden gesenkt und ein Manuskript unter dem Arm!

Ja, da schau her! Ich ziehe mich tiefer hinter die Tarnung des Hochsitzes zurück. Der Augenblick zum Auftauchen scheint mir ungeeignet. Karl-Friedrich stößt den Wimpel in den Schnee, die anderen treten im Halbkreis um ihn herum.

Karl-Friedrich sagt: »Liebe Brüder und Schwestern, an diesem schönen Frühlingstag wollen wir dessen gedenken, der...« Und dann hält er eine kleine Predigt, an deren Schluß er heftig niesen muß. »Wir wollen unsere Andacht«, so endet er, »nicht zu lange ausdehnen, unsere Schwester Sophie hat das Wort.« Und plötzlich in treuherzigen Dialekt fallend: »Du machst a net z’lang, gell, Sopherl?«

Sophie sieht ihn über ihre Brille hinweg an: »Ich werde mich auf das Wesentliche beschränken, Bruder Karl-Friedrich. Immerhin bleibt einiges zu sagen.« Und sie sagt das Einige eine gute Viertelstunde lang. Ich wage mich nicht zu rühren, obwohl mir allmählich die Füße kalt werden und es anfängt, in den Mandeln zu pieken. Trotzdem bleibe ich hocken. Nach der ersten Verblüffung hat mich ein brennendes Interesse an diesem kleinen Verein gepackt. Ich betrachte die ernsten und hingegebenen Gesichter. Nur zwei oder drei von den älteren scheinen sich nicht ganz wohl zu fühlen, gucken die übrigen an und grinsen ab und zu. Die halb verschneite Lichtung, der blaßblaue Himmel, die feierlichen dunkelgrünen Wände der Tannen und die kleine Schar hier um den Wimpel, der sich leicht im Frühlingswind bewegt — eine ganz neue Facette dieser Jugend ist da aufgeleuchtet, und ich muß daran denken, wie ich neulich beim Kramen ein kleines Heftchen gefunden habe, das ich mit zehn Jahren vollgeschrieben hatte und das den Titel trägt >Meine Weltanschauung<. Es ist eben nicht alles Jazz und Motorrad und Auto und Flugzeug und Fußball, es gibt auch dies hier.

Ich schrecke wieder auf, sie fangen erneut an zu singen. Diesmal ärgert es mich nicht. Ich ziehe die Decke fester um die Schultern und rede mir ein, daß die Feuchtigkeit in meinen Augen ein Vorbote des Schnupfens sei.

Als der Gesang beendet ist, gehen sie schweigend weg, zuletzt Sophie und Karl-Friedrich.

Mit steifen Gliedern klettere ich von der Kanzel, verstaue mein Fotogerät und mache dann einen Dauerlauf nach Haus, damit ich wieder warm werde. Der Dauerlauf reicht aber nur über hundert Meter, dann muß ich in Schritt fallen. Die Sonne ist jetzt hell heraus, der See in der Tiefe und die Ufer jenseits wirken, als seien sie eben erst erschaffen worden. Das Erlebnis geht mit mir wie ein Schein, der heller ist als die Sonne. Ich sehe die Jugend jetzt, wie sie wirklich ist, als unendliche Vielfalt, in der einfach alles enthalten ist und in der meine Mädels mit ihren Stifteköppen, in der diese ganze unruhige >Blase< nur ein Bläschen ist, ein ganz kleines Bläschen, das unter dem Anhauch des Lebens schnell zerplatzen wird. Soll ich es wünschen — dieses schnelle Zerplatzen? Immerhin spiegeln sich Himmel und Erde auch in diesem Bläschen.

Daheim finde ich zwei Briefe, einen von Addi und einen vom Frauchen. Addi fragt, ob denn die Mädels wirklich so brav seien, wie wir sie ihr immer schildern, und daß sie sich jetzt Gewissensbisse mache, uns so überrumpelt zu haben. Im übrigen sei es himmlisch, alles blühe schon, und Teddy sei endlich, nach Jahren, mal richtig entspannt und glücklich. Ich grinse über diese propagandistische Vorbereitung ihrer Heimkehr. Na ja — Hauptsache, sie erholen sich mal, die beiden.

Im Brief vom Frauchen liegt ein weiteres Foto, und zwar wieder eins mit diesem albernen Kerl von Schilehrer. Der Brief selbst ist mit riesengroßen Buchstaben geschrieben, offenbar um den Raum zu füllen. Scheint ja ziemlich abgelenkt zu sein, die Dame. Bei Linsen und Würstchen (mein Lieblingsgericht, aber nach dem Diätzettel streng verboten) teile ich der Mama diese meine Ansicht mit, worauf sie natürlich sofort das Frauchen in Schutz nimmt.

Bis zum Abend wühle ich in Arbeit, schreibe weiter an dem Jugendartikel und entwerfe die Disposition eines Kriminalromans. Dann fällt mir die Decke auf den Kopf, und ich beschließe, ins Kino zu gehen. Der Mama erkläre ich, daß ich das zu Studienzwecken tun müsse, weil es einen Kriminalfilm gäbe und ich doch, wenn mein Kriminalroman mal verfilmt würde... Ob sie nicht mitkommen wollte. Sie lehnt — was ich erwartete — ab, weil sie nichts für Leichen und Gangster übrig hat und sich lieber k. und k. Kavallerieleutnants ansieht, die in Wirklichkeit verkleidete Kaiser sind und zum Schluß von ihren bürgerlichen Geliebten tränenreichen Abschied nehmen, weil sie irgendeinen dürren, aber »ebenbürtigem Stecken heiraten müssen.

Das Kino (gleich neben dem Übungsturm der Feuerwehr) hat durchlaufende harte Sitzbänke und einen großen Eisenofen, in den der Billettabreißer Erich an den dramatischsten Stellen mit Donnergepolter neue Preßkohlen kippt. Ein richtiges >Flohkino<, wie man in meiner Jugend zu sagen pflegte. Ich liebe es, weil es mich an die >Biophon-Lichtspiele< in Berlin vor einem halben Jahrhundert erinnert. Dort roch es ganz ähnlich, und dort sah ich meine ersten Filme mit dem Lindner-Max und der Asta Nielsen. Alle Augenblicke waren die Billetts abgelaufen, und man mußte auf allen vieren unter den Bänken herumkriechen, damit man von dem Platzanweiser, der gleichzeitig das Klavier spielte, nicht an die Luft gesetzt wurde. Später sah ich dort auch die ersten Chaplin-Filme, und bei der >Chaplin-Quelle< mußte ich so lachen, daß ich die Lehne der Vorderbank abbrach und alle nach hinten umfielen. Man machte Licht, erwischte mich, und ich mußte sieben Mark achtzig für eine neue Lehne zahlen.

An all das muß ich denken, während die Reklame läuft. Dann wird es für einen Augenblick hell, und ich sehe schräg vor mir Buddy und Luzie. Sie grüßen und lächeln mir reichlich gequält zu. Scheint verschiedenes nicht zu stimmen, auch zwischen den beiden. Tut mir leid, besonders auch für Luzie, die es doch so gut mit uns Männern meint. Ich vergesse dieses Problem jedoch schnell, weil jetzt der Hauptfilm beginnt. Er reißt bloß zweimal und ist so zusammengeschnitten, daß man die Haupthandlung kaum noch verfolgen kann. Was aber davon übrigblieb, ist ausgesprochen gut und spannend. Ein ganz hervorragender Film, der mich bis in mein einsames Bettchen verfolgt. Vielleicht habe ich etwas Schnupfenfieber, daß er mich so gar nicht losläßt. Ich erwäge, die Temperatur zu messen, bin aber zu faul, noch mal aufzustehen, knipse das Licht aus und gleite durch einen Taumel von Leichen, Pistolen und Zimmern voll lauernden Grauens in den Schlaf.