12
Susanne rutscht nach vorn und zupft mich am Ärmel: »Jetzt will ich aber endlich wissen, was mit dem Kurt und der Frau war!«
Die Mama, die bei den Erzählungen von Steffi und Erika sichtlich gerührt war, wird unruhig. Aber ich besänftige sie mit einer Handbewegung: »Ja, also mit dem Kurt war das so: Ich fand erst zwei Jahre später heraus, was es mit der Frau und ihm auf sich hatte.«
Ich verstumme, denn die Erinnerung kommt mit fast lähmender Kraft über mich. Mit Gewalt muß ich mich zwingen, sie für meine beiden hier in Worte zu fassen.
»Wir waren ein Dreierklub, der Kurt, mein Freund Max Bernstein und ich. Max komponierte, ich dichtete Lyrik, und Kurt schrieb an einem unendlich langen und wehmütigen Roman, den er >Das Leid< nannte. Der Hauptheld war ein Mann, der langsam an Lungentuberkulose dahinsiechte, dabei sehr zahlreiche und meist sehr wehmütige Liebschaften hatte und sein Schicksal in sehr langen und noch wehmütigeren Monologen sezierte.
Wir waren fast Tag für Tag zusammen, am liebsten bei Mäxchen Bernsteins Eltern. Sein Vater war Generalkonsul und hatte eine große Wohnung im Westen. Dort hockten wir in Mäxchens Zimmer. Derjenige, der vorlas — und das war meist Kurt —, saß mit dem Rücken zum Flügel, weil er dort das Licht von der Klavierlampe hatte. Max lag auf dem alten Kanapee, und ich hatte meinen Stammplatz auf dem Boden neben Max.
Zu einem dieser Abende nun holte ich Kurt ab. Während er sich noch seine gute Jacke anzog, wurde draußen ein Schlüssel umgedreht, und die Mutter kam, eine ganz kleine Frau mit zotteligen grauen Locken und merkwürdig großen Schuhen, die mich immer an eine Sorte von Hühnern erinnerten, die so eine Perücke über dem Schnabel und dicke Federfächer über den Krallen haben. — Normalerweise standen Kurt und seine Mutter sehr nett miteinander. Der Vater war lange tot, und sie sparte sich sein Schulgeld von ihrer kleinen Pension ab. Diesmal aber war sie fuchsteufelswild, und ich war dem Lachen nahe, als ich sah, wie dieses kleine Wesen auf den großen, schweren Kerl losfuhr. Er nahm schweigend einen Stuhl, stellte ihn vor sie hin und sagte: >Ich weiß zwar nicht, worum sich’s handelt, aber wenn du mir eine ‘runterhauen willst — bitte schön. Soll ich dich ‘raufheben?<
Da mußte sie wieder lachen und wandte sich an mich: >Ideen habt ihr manchmal, ihr Bengels! Heute morgen kommen die Kohlen, und was finde ich nicht? Den Kohlenkellerschlüssel. Ich suche die ganze Wohnung ab — nichts. Schließlich fiel mir ein, daß Kurt ihn ein paarmal hatte. Und tatsächlich, in der Hosentasche von seinem anderen Anzug — da war er!< Sie warf den Schlüssel auf den Tisch. Es war der Hausschlüssel der verheirateten Frau!
>Das nächstemal hängst du ihn an den Haken, wo er hingehört, da wünsche ich ihn von jetzt an zu sehen!< sagte sie und fegte hinaus.
Ich konnte Kurt gar nicht ansehen und sagte nach einer Weile bloß: >Na, dann wollen wir mal gehen.<
Er begann wieder zu husten: >Geh du nur allein. Ich glaube nicht, daß ich heute in Stimmung bin zum Lesen.««
Ich schweige und grübele, und ein leiser Schmerz nistet in meiner Brust. »Ach, der arme Kerl«, sagt Susanne. »Was ist aus ihm geworden?«
Kurt — da war wieder sein rundes Gesicht mit den roten Flecken auf den Backenknochen.
»Ich glaubte«, höre ich mich sagen, »daß er diese Flecke hatte, weil ihm mal im Winter das Gesicht erfroren war. Bis das Abitur kam. An sich ging es überraschend gut, so ähnlich wie bei einer Zahnoperation, die man sich so grauenvoll vorstellt, daß man von der Wirklichkeit angenehm überrascht wird.
Bis auf die Mathematik. Sie wurde von einem Professor Wackel zelebriert, einem gewaltigen, auf O-Beinen watschelnden Etwas. Drei Aufgaben wurden uns gestellt, und mit keiner wußte ich etwas anzufangen. Die einzige Chance blieb, eine Hilfe zugesteckt zu bekommen. Aber man hatte uns weit auseinandergesetzt, der nächste war Max, der selber hart an den Dingern kaute, obwohl ihm Mathematik sonst doch besser lag. Wackel obendrein watschelte unentwegt zwischen den Bänken auf und ab. Manchmal lehnte er sich auch mit einem bösen Lächeln zurück und sah auf diese Weise halb unter die Tische, ob wir nicht vielleicht doch von einem Zettel abschrieben.
>Nur ruhig, meine Herren«, sagte er, >nur ruhig!< So, als ob der Scharfrichter sagte: Bitte, den Kopf etwas mehr nach links und schön das Hälschen stillhalten! — Zweimal schon hatte er mir mit Genuß über die Schulter gesehen und gesagt: >Na, Bentz? Noch nicht viel, was? Nachdenken, nur nachdenken, sich immer schön konzentrieren!< Dann war er wieder an mir vorbei, und ich sah nur seinen breiten Rücken mit dem Gummikragen und dem unordentlichen Zottelhaar darüber, rechts und links von dem verhaßten, breitgequetschten Hinterkopf die Bartspitzen.
Max blickte zu mir herüber. Ich rang die Hände. Er zuckte die Achseln, sah dann mit wütendem Gesicht auf Dombrowski. Das war unser Primus, ein schüchterner Junge mit großen Antilopenaugen. Kein Stänker, aber ziemlich feige. Nun, man hat ja auch mehr zu verlieren als Primus! Die ganze Klasse begann sich zu räuspern, alles sah zu ihm hin. Aber auch Wackel sah auf Dombrowski, der sich unter all diesen Blicken wand wie auf einem Rost. Etwas hatten wir uns alle durch Zeichensprache klargemacht: Die dritte Aufgabe konnte keiner. Die Lösung der ersten hatte ich inzwischen von Max mit einem kleinen Ball zugeworfen bekommen, aber es war nur die Lösung, die Rechnung selbst fehlte mir! Da machte Kurt, der zwei Bänke vor mir saß, etwas Großartiges: Während Wackel gerade wieder auf Drombrowski starrte und uns für einen Moment den Rücken wandte, reichte er mir mit einer blitzschnellen Bewegung sein Heft nach hinten. Ich reagierte ebenso rasch und gab ihm meines. Wackel hatte irgendwas gehört und fuhr herum, aber schon saßen wir beide wieder über einem Heft. Ich schrieb die ganze Sache ab und dann, während uns die Blicke der Klasse mit angehaltenem Atem verfolgten, praktizierten wir alles noch einmal. Jetzt hatte ich also Aufgabe eins, aber das genügte noch nicht.
>Scheißkerl!< zischte einer zu Dombrowski hinüber. Der wurde bleich, biß die Zähne in die Lippen, richtete sich dann auf und hob den Arm: >Ich möchte bitte austreten.<
Alles atmete auf. Wackel war zuckersüß: >Bitte sehr, lieber Dombrowski, selbstverständlich! Übrigens, erschrecken Sie nicht, wenn Sie unten Herrn Assessor Schmitt sehen, er paßt auf, daß nichts in den Kabinen liegenbleibt... Vor ein paar Jahren war mal so eine häßliche Geschichte, und wir wollen die Herren gar nicht erst in Versuchung führen.<
Dombrowski errötete wie ein Mädchen und ging.
Wir verfielen wieder in Trübsinn und glühenden Haß gegen dieses watschelnde Walroß. Nach fünf Minuten kam Dombrowski zurück. Er sah jetzt blaß aus wie Marmor, um seinen Mund aber war ein ungewöhnlich entschlossener Zug. An der vordersten Bank, auf der Kurt saß, stolperte er, fiel krachend hin, sein Kopf schlug gegen die Bank. Kurt sprang sofort auf, half ihm hoch, auch Wackel war gleich da: >Haben Sie sich was getan, Dombrowski?<
Der stammelte: >Nein — nicht viel — entschuldigen Sie bitte, diese Eisenschiene...< Er hinkte auf seinen Platz. Bevor er sich setzte, blieb er noch eine Sekunde stehen und bewegte prüfend seinen Knöchel. Und während Wackel ihn dabei fasziniert beobachtete, warf mir Kurt eine Papierkugel zu. Es war die Lösung der dritten Aufgabe, die ihm Dombrowski zugesteckt hatte! Ich schrieb sie schnell ab, aber während der ganzen Zeit fühlte ich die hungrigen Blicke der anderen auf mir. Und noch einer fühlte sie, nämlich Wackel. Auf Katzensohlen kam er mir näher. Ich griff in meine Tasche, wo ich eine Rolle mit Pfefferminztabletten hatte, und steckte eine Tablette in den Mund. Aber vor der Tablette die kleine Papierkugel mit der Lösung. Ich schluckte sie hinunter, Pfefferminz samt Kugel. Es tat in der Gurgel weh, aber dann war beides weg. Da kam Wackel schon heran: >Darf ich mal sehen?<
>Selbstverständlich, Herr Professors
Er nahm die Glasröhre, sah sie von allen Seiten an, schüttete sie sogar in seine Hand aus.
>Sehr erfrischend<, sagte ich.
Er sah mich starr mit glitzernden Augen an: >Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mal aus Ihrer Bank herausträten?<
Ich setzte eine tief gekränkte Miene auf: >Nicht im geringsten, Herr Professor!<
Er bückte sich und fuhr mit der Hand unter die Bank: >Autsch!< machte er, und in einem seiner dicken Finger steckte eine Nadel. Eine Nadel! Plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich packte sein breites Handgelenk, zog die Nadel heraus, riß mein Taschentuch vor, betupfte seinen Finger: >Das kann leicht eine Blutvergiftung geben, Herr Professor!<
Jemand kicherte nervös. Er sah mich wütend an: >Ach, Unsinn! Seien Sie nicht albern!< steckte den Finger in den Mund und ging weiter.
Eine Nadel! Gute, kleine Nadel! Ich mußte es riskieren, das war ich all diesen braven Kerlen schuldig. Ich schrieb die Lösung auf einen kleinen Zettel, und als Wackel das nächstemal an mir vorbeikam, heftete ich den Zettel mit der Nadel hinten auf seinen Rock.
Schlagartig änderte sich das Verhalten der Klasse. Man war ungeheuer freundlich zu ihm, verwickelte ihn in kleine Gespräche: Ob man nicht jetzt ein Fenster öffnen könne, ob es noch ein paar Minuten Zugabe gäbe. Manche machten auch verdächtige Bewegungen unter ihren Tischen, so daß er länger bei ihnen stehenblieb. Und die, denen er dabei den Rücken zuwandte, schrieben rasch die Lösung ab. Die Klasse siedete in diabolischer Freude. Er, dieser Schinder, trug selbst die Lösung spazieren! Dann aber kam das große Problem: Sie mußte ihm ja wieder abgerissen werden, denn sie trug meine Handschrift. Wilde Telefonie hin und her, Kurt gab ein Zeichen — er wollte es tun. Und er tat es! Meisterhaft! Mit einem einzigen scharfen Ruck. Aber trotzdem hatte Wackel irgend etwas gemerkt und fuhr zu ihm herum. Kurt riß schnell sein Taschentuch heraus und mimte einen Hustenanfall.
>Zeigen Sie mir Ihre linke Hand!< brüllte Wackel. Kurt schüttelte den Kopf und hustete. Es war ein prachtvoller Anfall, er hörte überhaupt nicht mehr auf.
>Ihre Hand!< zischte Wackel und riß sie Kurt mit dem Taschentuch vom Mund. Wir waren alle zu Eis erstarrt. Jetzt mußte alles herauskommen, und ich war erledigt. Aber dann merkten wir, daß sich irgend etwas Besonderes ereignet hatte, etwas Unerwartetes. Wackel starrte auf das Taschentuch, auch Kurt starrte darauf. Dann sahen er und Wackel sich an, und plötzlich legte Wackel ihm ganz vorsichtig die Hand auf die Schulter: >Gehen Sie ‘raus, Kurt. Ich würde mitkommen — aber, na, Sie verstehen! Unten ist Assessor Schmitt, werden Sie es schaffen bis dahin?<
Kurt nickte, stand wie im Traum, das Tuch noch immer in der Hand. Und dann sahen wir es: ein roter Fleck war darin, ein großer roter Blutfleck! —
Nach dem Abitur verreiste ich für ein paar Wochen, bevor ich meine erste Stellung bei einer Zeitung antrat. Meine Offizierspläne hatte ich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches aufgeben müssen. Als ich wiederkam und der Mama und den Großeltern meine Ferienerlebnisse geschildert hatte, verließen die beiden Frauen mit etwas auffälliger Hast das Zimmer. Ich blieb mit Opapa allein. Er paffte nervös. Endlich sagte er: >Da ist noch eine Sache — mit deinem Freund Kurt...<
>Wieso — was meinst du?<
>Er ist im Krankenhaus, und ich glaube, es wäre vielleicht ganz gut, wenn du gleich mal hinfahren würdest.<
Mir wurde ganz kalt: >Ist es... ist es...?<
>Du wolltest doch Soldat werden, nicht wahr?<
>Ja.<
>Ein Soldat muß allem ins Auge sehen, besonders diesem!<
Ich sprang auf, zog mich wieder an, raste die Treppen hinunter. Die Trambahn, die Menschen — Straßen — es war wie ein Traum, ein häßlicher Traum. Dann das Krankenhaus, Gänge mit vielen Türen, Linoleumboden, eine Schwester, die leise sprach und mich bat, ihn nicht aufzuregen. Er hatte ein Einzelzimmer und viele, viele Blumen. Aber er — war das Kurt? Diese gelbe Haut, diese riesigen Augen, dieser wissende, alte Ausdruck im Gesicht —. Er winkte mir mühsam zu: >Komm mir nicht zu nah!<
>Kurt!<
Er warf einen Blick zur Seite, dort lag ein dickes Bündel Papiere. Darauf mit Rotstift: >Das Leid.< Er hustete. Als der Anfall vorüber war, flüsterte er: >Pech, Hannes. Es ist beinahe fertig. Ich schenk’ dir’s. Vielleicht — wenn du mal sehr viel Geld hast — du könntest es vielleicht zu Ende schreiben und... und drucken lassen! Und — heul bloß nicht, hörst du! Heul nicht, es ist gar nicht schlimm. <
>Aber du wirst sicher wieder...<
>Unsinn.<
Die großen, glänzenden Augen wichen nicht einen Moment von mir: >Ich danke dir auch noch...<
>Wofür denn?< stammelte ich, während es wieder in meiner Kehle würgte.
Abermals ein Hustenanfall, und dann lächelte er mich an und sah ganz jung aus, so — gespenstisch jung.
>Ich danke dir<, sagte er, >daß du den anderen nie was erzählt hast von dem Hausschlüssel...<
>Na, das war doch selbstverständlich!<
>Nein, nein — das war es gar nicht. Das wäre eine großartige Anekdote für dich gewesen zum Weitererzählen. Aber so haben sie mich für einen tollen Kerl gehalten — bis — zum — bis zum Schluß.< Er hustete erbärmlich, fing sich aber wieder. Sein Lächeln war etwas verblichen, aber immer noch deutlich: >Ich hätt’s ja gern erlebt, wie das ist — so in Wirklichkeit, mit einer Frau. Aber vielleicht ist es gar nicht so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht ist’s gut so — wie es gekommen ist.< Er sah mich lange an, und mir war, als triebe sein Gesicht dabei von mir fort, in unendliche Ferne. >Du wirst es ja erleben. Und wenn’s die Richtige ist — halt sie fest!<
Die Schwester sah zur Tür herein: >Sie müssen jetzt gehen!<
>Ich komm’ morgen wieder!< sagte ich.
>Nimm das Buch mit.<
>Aber das kann doch noch...<
>Nimm das Buch mit!«
>Na schön. Also — bis morgen!<
>Leb wohl!< Er winkte mir nach.
In dieser Nacht starb er...«
Ich fahre zusammen. Susanne lacht hysterisch, mit aufgerissenen Augen und zuckendem Mund. Sie reißt ihrer Schwester das Taschentuch aus der Hand, schnaubt sich gewaltig — und dann kommen ihr die Tränen und laufen ihr die Wangen hinunter, als seien zwei Wasserhähne aufgedreht worden. Ihre Schultern zucken.
»Du erzählst aber den Kindern auch Geschichten!« sagt die Mama empört. »Du bringst sie ja völlig durcheinander mit diesen schaurigen Sachen!«
»Wieso«, murmelte ich, »da, nimm lieber mein Taschentuch, Susanne. Es ist ja schon so lange vorbei...«
Die Mama sieht mich noch immer an: »Das hast du mir noch nie so erzählt, so im Zusammenhang. Ich meine — so, wie du das empfunden hast. Damals, als du aus dem Krankenhaus kamst, hast du dich eingeschlossen bis in die Nacht. Das weiß ich noch...« Sie reißt sich zusammen: »Jetzt werde ich mal eine Geschichte erzählen.«
Margot schielt verstohlen auf ihre Uhr.
»Ist deine Geschichte auch so traurig?« schluchzt Susanne.
»Nein, die ist lustig.«
»Wann spielt sie denn?« fragt Margot.
»Als meine jüngere Schwester Braut war.«
»Braut?« rufen beide im Chor, und ihre Augen glitzern. Susanne schnieft entschlossen durch die Nase und gibt ihrer Schwester das Tuch zurück. Ich bin ärgerlich. Natürlich, wenn eine Braut auftaucht, sind sie Feuer und Fett, die Gören. Tut mir eigentlich leid, daß ich ihnen die beiden Sachen erzählt habe von Steffi und Erika.
Etwas schiebt sich in meine Hand, eine dicke Pfote. Als habe er meine Enttäuschung gefühlt, der Cocki. Seine goldenen Augen sehen mich liebeheischend an. Ich streiche über seine glatte Stirn: >Hast recht, Dicker<, sage ich in mich hinein, >wir Hunde sind doch bessere Menschen.< Jetzt möchte ich bloß wissen, was das für eine lustige Geschichte aus der Brautzeit ist, die das Mulleken da verzapfen will.
»Wie alt warst du denn damals?« fragt Margot gerade.
»Fünfundzwanzig«, sagt die Mama.
Susanne ist ganz erschrocken: »Fünfundzwanzig? Wie alt warst du denn dann, als du geheiratet hast?«
»Achtundzwanzig!« erklärt die Mama und richtet sich auf. »Wie du siehst, hat es mir nicht geschadet, daß ich wartete, bis der Richtige kam.«
Susanne blickt hilfesuchend ihre Schwester an: »Ei je, ei je!«
Margot wirft die Lippen auf: »Du wartest sicher nicht so lange.«
Die Mama schließt betäubt die Augen, schluckt, öffnet die Augen wieder: »Als meine Schwester schon verlobt war und ich noch nicht...«
»Entschuldige, Omi, daß Susanne dich unterbrochen hat«, sagt Margot.
»Ja, entschuldige bitte«, murmelt Susanne. »Was war denn der Bräutigam von deiner Schwester?«
»Forststudent! (Strenger Blick auf Susanne.) Damals fuhr ich mit ihr nach Tharandt, dort war die Forstakademie. Es waren sehr viele Studenten da, mit Mützen und Bändern, und wir waren jeden Tag auf irgendeinen Ball oder zu einer der vielen Verbindungen eingeladen.«
»Ach, himmlisch«, seufzt Susanne und sieht aus unbekannten Gründen ihre Schwester vorwurfsvoll an, als könne diese dafür, daß sie nicht auf den Wellen einer solch wildbewegten Männersee herumrudern kann.
»Es war sehr streng«, erklärt die Mama mit unüberhörbarem pädagogischem Unterton. »Die Herren waren sehr eifersüchtig auf die Ehre ihrer Damen. Wenn wir zum Beispiel von anderen Studenten etwas länger angeguckt wurden, stand der eigene Student auf, ging zu dem anderen ‘rüber, verbeugte sich steif und sagte: >Sie haben meine Dame fixiert, mein Herr!< Dann stand der andere Student auch auf und sagte: >Ich stehe zu Ihrer Verfügung!<
Und dann gingen sie ‘raus und tauschten ihre Visitenkarten aus, und manchmal ohrfeigte der eigene Student auch den anderen noch — und dann duellierten sie sich, manchmal sogar sine-sine.«
Susanne ist bis an den äußersten Stuhlrand gerutscht, ihre Augen erscheinen noch größer als gewöhnlich: »Sine-sine — was ist das?«
»Latein, du Rindvieh«, sagt Margot. »Das solltest du in den vier Jahren gelernt haben.«
»Ich kann mir mein Latein selber übersetzen, dazu brauche ich dich nicht. Ohne-ohne heißt es, aber was bedeutet es?«
»Ich werde mir merken, daß du dir dein Latein selber übersetzen kannst«, erklärt Margot giftig, worüber Susanne in sich zusammensinkt wie ein angeschossener Luftballon.
»Sine-sine«, erläutert die Mama, »bedeutet, daß sie sich ohne Schutzbandagen um den Hals und so mit ihren Säbeln schlugen, bis der eine umfiel oder sogar tot war.«
»Mein Gott, ist das aufregend!« seufzt Susanne.
»Es ist idiotisch«, meint Margot. »Wenn ich mit einem Mann auf einen Ball gehe, sollte er doch froh sein, wenn mich die anderen Männer auch nett finden und ansehen.«
Die Mama, durch Margots gesellschaftskritische Anmerkungen aus dem Konzept gekommen, bemüht sich, schleunigst weiterzuerzählen:
»Also, wir beiden Mädels hatten ein Zimmer im Hotel, hinten nach dem Hof ‘raus, und morgens kamen immer die Studenten und brachten uns Ständchen mit Gitarren und sangen dazu und manchmal auch abends. Dann schimpfte allerdings die Nebenmieterin, besonders weil Poldi dazu heulte.«
»Wer war Poldi?« will Margot wissen.
»Das war unser Dackel, den wir mitbekommen hatten, weil unsere Eltern nach Kissingen zur Kur fuhren, während wir die Studenten besuchten. Ein scheußlicher Hund. Er übergab sich aus reiner Bosheit und zu den unpassendsten Augenblicken. Zum Beispiel einmal, als unsere Tanzstundenherren bei unseren Eltern Besuch machten. Damals war das so Sitte (strenger Blick auf beide Mädchen). Die Herren kamen im Cut, mit Handschuhen und Zylinder. Die Zylinder stellten sie unter ihre Stühle und bekamen Vermouth mit Keksen. Während sie so saßen und tranken und die Großmama herauszufinden versuchte, ob vielleicht einer von ihnen eine gute Partie wäre, übergab sich Poldi unten in die Zylinder. In beide — er teilte sich’s ganz genau ein. Alle merkten es natürlich, aber keiner wollte es wahrhaben. Poldi, der ganz beleidigt war, weil niemand schimpfte, nahm sich noch einen der Handschuhe, verkroch sich unter die Kommode und geiferte von da vor. Die Herren zogen sich bald zurück, mit drei Handschuhen und zwei gefüllten Zylindern.«
Die beiden Mädchen quietschten vor Vergnügen, und die Mama sieht mich triumphierend an. Darm, als das Gelächter sich gelegt hat, fährt sie fort:
»An einem Abend nun, als wir dort in Tharandt schon im Bett waren, fiel es Poldi ein, groß ins Zimmer zu machen, obwohl wir vorher drei Stunden unterwegs gewesen waren — mit ihm und den Studenten. Wir hörten irgendwelche Geräusche, waren aber zu müde. Am nächsten Morgen merkten wir es dann. Gott sei Dank waren es ziemlich harte Kullern, weil er wieder so viele alte Knochen gefressen hatte. >Was machen wir nun damit?< fragte meine Schwester. >Wir packen sie in eine Zeitung und tragen sie weg<, sagte ich. Es stellte sich aber heraus, daß wir keine Zeitung hatten. Da kam meine Schwester auf eine Idee: >Weißt du was, wir pieken es auf Haarnadeln und werfen es aus dem Fenster. Es ist ja noch dunkel draußen!< Wir piekten also die Kötel auf und warfen sie aus dem Fenster. Dann haute ich Poldi die Jacke voll, er schnappte nach mir, und dann schliefen wir noch mal ein. Wir wachten erst auf, als unten das übliche Morgenständchen der Studenten ertönte, aber es brach schnell ab, und statt dessen hörten wir ein furchtbares Gejohle und Gelächter. Es stellte sich heraus, daß unsere Haarnadeln alle in einer kleinen Tanne hängengeblieben waren, die unter unserem Fenster stand. Der Verlobte kam herauf und sagte, er hätte so was noch nie erlebt. Es sehe fast so aus wie ‘n Weihnachtsbaum.«
Erneutes stürmisches Gelächter. Die Mama sieht mich wieder triumphierend an.
»Wie lange war denn deine Schwester mit ihrem Mann verlobt?« fragt Margot.
»Sieben Jahre«, erklärt die Mama stolz. »Bis er ausstudiert hatte und junger Förster war.«
»Aha«, meint Margot und sieht mich bedeutungsvoll an. »Das ist ja interessant!«
Die Mama, ohne zu merken, daß da irgendeine Panne passiert ist, gießt sich ein weiteres Glas Vermouth ein. Susanne kommt mir — ebenso ahnungslos — zu Hilfe: »Bilde dir nur ja nicht ein, daß dein Buddy so lange auf dich wartet! Du vielleicht auf ihn...«
»Na, dein Fred vielleicht auf dich? Dieser picklige Brillenhering?«
Susanne schmeißt das Kinn hoch: »Braucht er gar nicht. Er kriegt ja bald die Fabrik, dann kann er heiraten.«
Ich stehe auf: »Kinder, darf ich vorschlagen, das Match zu vertagen? Ich glaube, ihr müßt noch Schularbeiten machen.«
»Ja«, sagt Margot, »darauf freue ich mich direkt.«
»Das ist brav, Kind«, meint die Mama mit schwimmenden Augen.
Margot sieht sie verdutzt an: »Brav? Ich meine doch, weil Susanne ihre Lateinübersetzung ohne mich machen wird. Sie braucht mich ja nicht, hat sie doch vorhin bei sine-sine gesagt! Nicht wahr, mein liebes, kleines Schwesterchen?«
Susanne holt tief Atem und will etwas Ungeheuerliches erwidern. Ich aber halte ihr den Schnabel zu: »Seid friedlich, Gören. War so ‘n netter Nachmittag. Ihr hattet, glaube ich, nicht mal eure Boys vermißt.«
»Ja«, sagt Margot, ihren Groll im Augenblick vergessend, »es war wirklich prima!«
»Und vielen Dank, Omi«, sagt Susanne, »für die Hundewürste auf Haarnadeln! Hach, wenn ich das morgen in der Schule erzähle...«
Ich schiebe sie beide aus dem Zimmer, helfe ihnen in die Mäntel, bekomme von jeder einen Kuß, und dann huschen sie zu sich hinüber. Es ist schon ganz dunkel draußen und die Kälte schon so wild, daß einem der Atem wegbleibt. Der Schnee quietscht unter den Schuhen der Mädchen. Eine funkelnde Milchstraße glänzt erbarmungslos über der erstarrten Erde.
Als ich wieder nach oben komme, ist die Mama beim Abräumen: »Siehst du«, sagt sie, »so was muß man den Kindern erzählen, einfache, heitere Begebenheiten, ohne Erotik.«