3

Beim Mittagessen genießen wir zunächst unsere Freiheit. Die Mama hat das alte, angeschlagene Geschirr gedeckt (verboten) und setzt sich mit der feuchten Schürze an den Tisch (besonders streng verboten!). Ich schmökere einen Detektiv-Schinken, habe den Schlips abgebunden und den obersten Hemdknopf offen (noch strenger verboten: »Du siehst aus wie ein Straßenarbeiter!«). Draußen schneit es wieder seit Stunden unentwegt.

Plötzlich blicke ich auf: etwas ist verändert und hat mich aus meiner mit unterbewußtem Essen verbundenen Lektüre geschreckt. Dann merke ich, was es ist: die Mama hat aufgehört zu schmatzen und starrt mit erhobener spaghettiumwickelter Gabel ins Leere: »Wer weiß, wo sie jetzt ist!« sagt sie dumpf.

Ich lege das Buch zur Seite: »Wahrscheinlich an der Schweizer Grenze.«

»Oder in irgendeinem Abgrund!« Und übergangslos fügt sie hinzu: »Sieh mal, du Ferkel, was du da gemacht hast — der schmutzige Suppenlöffel als Lesezeichen! Das geht wirklich zu weit!«

Die Tür springt auf, und herein marschieren Cocki und Weffi. Beide haben dicke Eisklumpen im Fell, und mit ihnen marschiert ein unverkennbarer Geruch.

Die Mama schweigt erstarrt, nur ihre Nasenflügel wackeln.

»Ich habe mich immer gefragt«, sage ich hastig, »warum die Bauern den Dung auf den Schnee streuen. Bis mir der Wurzel-Sepp mal erklärt hat, daß der Dung in den schmelzenden Schnee eindringt und dadurch gewissermaßen in den Boden hineingezogen wird.« Zwei alte, blaßblaue Augen sehen mich an: »Du hast die Terrassentür aufgelassen! Da sind sie ‘raus!«

Cocki hat sich auf den Teppich geschmissen und beginnt sich das Eis aus den Pfoten zu knackern. Weffi steht über ihm, riecht an einer verklebten Stelle in seinem Fell und schlottert mit den dicken Vorderbeinen. Dann beginnt er sich mit dem Hinterbein unter dem Bauch zu kratzen und zieht die Lefzen bis an die Ohren.

»Und Flöhe haben sie auch!« sagt die Mama. »Die haben sie sich sicher von dem weißen Spitz geholt. Wenn du nicht die Terrassentür aufgelassen hättest...«

»Es können auch Flöhe aus dem Dung sein«, versuche ich sie zu trösten. »Der Wurzel-Sepp hat gesagt, daß Flöhe interessanterweise...«

»Dung!« Sie wirft die Gabel hin: »Jetzt kann ich mitten im Essen aufstehen und diese Strolche sauber machen! Wenn du nicht die Terrassentür...«

»Bleib sitzen, ich mach’s nach dem Essen.«

»Ja, glaubst du denn, ich kann in diesem Gestank...«

»Also gut«, sage ich, stehe auf, packe Cocki am Kragen und schleppe ihn die Treppe hinunter ins Bad: »Unter uns«, sage ich, während ich ihn verarzte, »die Mama hat recht, du Stinkfetzen! Pfui Teufel!«

Zehn Minuten später liegt er, eingepackt in ein altes Handtuch, oben an der Heizung und schielt mich verächtlich an. Weitere zehn Minuten später liegt Weffi daneben. Sie beriechen sich gegenseitig und wenden sich voll Abscheu voneinander ab.

Die Mama kommt mit meinem Teller aus der Küche: »Ich hab’ dir das Essen warmgestellt.«

Der Tisch ist abgeräumt. Es gibt nichts Melancholischeres als einen leeren Tisch und einen Teller Spaghetti darauf. Ich esse und fühle mich verlassen. Die Mama spült nebenan in der Küche das Geschirr.

Dann macht unten Addi »Huhu!«

Ich hole sie herauf und küsse sie ausführlich. Sie stemmt sich von mir ab: »Na, sage mal, ist das dein Abschiedsschmerz?«

»Weiß ich, was ich in meinem Schmerz tu’? Habe ich dir eigentlich den Witz schon erzählt? Kohns Frau ist gestorben und...«

»Du hast ihn mir sogar schon dreimal erzählt. Und ich wollte dir nur sagen, ihr sollt doch abends zu uns kommen, wenn ihr euch einsam fühlt.«

»Ach, Addi, ich fühle mich jetzt schon so einsam!«

»Pfoten weg! Teddy und ich fahren jetzt erst mal in die Stadt, Winterschlußverkauf. Wiedersehen.« Als sie die Tür schließt, braust Cocki an ihr vorbei wieder ins Freie. Unten entfernt sich das Wagengeräusch. Die Mama kommt wieder aus der Küche: »Du kannst allein gehen, ich bleibe hier. Ich bin vollkommen fertig.«

Nachdem sie verschwunden ist, gehe ich hinunter ins Arbeitszimmer, zu meiner Cognacflasche.

»Konzentrierter Alkohol«, hat Dr. Bichler gesagt, »ist das schlimmste, was Sie Ihrer Leber antun können.«

Ich setze schnell die Flasche an den Hals und ziehe einen Doppelten heraus.

Ulkiger Kerl, der Bichler. Spinnt etwas, wie alle Landärzte. Und manchmal bin ich nicht ganz sicher, ob er nicht mehr auf der Seite der Bakterien steht als auf unserer. Seine Augen leuchten, wenn er mir schildert, wie sie sich an das Penicillin angepaßt haben. »An irgend etwas muß man ja schließlich sterben«, pflegt er seine Diagnosen abzuschließen. Aber er steht nachts um drei Uhr auf und quält sich mit seiner klapprigen Karre zwölf Kilometer durch den tiefen Schnee, um einem alten Einödbauern zu helfen, der keine Luft mehr bekommt und in drei Monaten ohnedies sterben muß. Den Besuch liquidiert er erst gar nicht, weil er sowieso kein Geld sieht. Verrücktes Huhn! Und so herrlich inkonsequent. Gerade deshalb habe ich ihn gern.

Ich stelle die Flasche weg, schließe den Schrank und recke die Arme: allein! Alleinsein ist auch schön. Es ist so still, daß ich das Blut in meinen Ohren singen höre.

Ich seufze und schieße einen schiefen Blick zum Schreibtisch, wo ein angefangener Artikel für einen Jugendalmanach liegt. Seitdem ich im Herbst den Boys im Verlag von meinen Studien an Susanne und Margot berichtete, halten sie mich dort anscheinend für einen Jugendexperten. Ich darf es ihnen aber nicht übelnehmen, denn ich halte mich ja selbst dafür. Nur daß das Ganze in Arbeit ausartet... Andererseits, wenn man nichts zu tun hat, ist es auch nicht recht. Also los, keine Müdigkeit vorschützen.

In diesem Augenblick tauchen vier igelhaarige Jünglinge in Anoraks und Röhrenhosen auf und steuern Teddys Haus an. Gleichzeitig erscheinen oben am Fenster zwei Köpfe, ein blonder und ein brauner. Die Haustür geht auf, und die vier Musketiere schieben sich hinein. Sie haben jeder eine Zigarette im Mundwinkel hängen und mindestens eine Hand in der Tasche. Ich höre, wie sie sich die schneebedeckten Schuhe abkratzen, wie die Mädchen zwitschern und gleich darauf das Grammophon südamerikanisch zu stottern beginnt. Ich grinse einsam in mich hinein. Großartigen Nachrichtendienst hat der Verein! Kaum sind die Eltern um die Ecke, sind die Bürstenköpfe da.

Ja, wer kommt denn da? Ein Nachzügler? Nein, es ist der Reiserer-Franz mit einem Schneeschieber über der Schulter. Er wohnt mit seiner Mutter im Haus oben am Hang. Die Mutter betreibt ein Seifengeschäft, er arbeitet in der Möbeltischlerei. Jetzt, im Winter, wo die Leute keine Möbel kaufen, hat er manchmal etwas Zeit. Franzi ist schon zweiundzwanzig Jahre alt, athletisch gebaut und seit einer Woche schnurrbärtig. Vielleicht hofft er damit Eindruck auf Susanne zu machen. Susanne ist seine große Liebe, seit jeher. Er hat sie schon geliebt, als sie erst vierzehn Jahre zählte. Damals war seine große Zeit. Er durfte für sie Kirschen klauen und sie spazierenrudern. Auch tischlerte er ihr einen Schuhschrank und einen Arbeitstisch und holte für sie ein, wenn sie von Addi abends noch weggeschickt wurde. Und er legte ihr jeden Morgen, ehe er zur Arbeit ging, ein Blumensträußchen aufs Fensterbrett.

Als Susanne vor einem Jahr ihre Weiblichkeit zu entdecken begann, übte sie sich an ihrem treuen Knappen im Blickewerfen und wahrscheinlich auch im Küssen. Der Knappe verstand das miß und stieg nach alter bayerischer Art eines Abends in Susannes Fenster, obwohl er doch wußte, daß hinter diesem Fenster auch Margot schlief. Vielleicht dachte er, daß sie einen besonders tiefen Schlaf habe. Vielleicht dachte er sich in diesem Augenblick auch gar nichts. Um so mehr dachten sich die beiden Mädchen und handelten danach. Sie teilten sich schwesterlich in die Backpfeifen und streichelten ihn mit Kleiderbügeln, bis er wieder zum Fenster hinaus war. Die Mädchen wurden von den Eltern belobt und Teddy zu Franzis Mutter geschickt, um dort auf den Tisch zu schlagen. Er kehrte sehr heiter zurück, und es stellte sich bei längerem Fragen heraus, daß er zwar nicht auf den Tisch geschlagen, dafür aber der Mutter eine Waschmaschine verkauft hatte.

Seitdem jedoch ist Franzi bei Susanne unten durch, und zwar, wie ich fürchte, weniger aus Keuschheit als deshalb, weil sie indessen die Insassen des vornehmen Internats jenseits des Sees getroffen und über soziale Unterschiede nachgedacht hat. All das aber schreckt den Franzi nicht. Er spielt seitdem die Rolle des treuen Hundes, der das verlorene Paradies umstreicht. Er bildet sich ein, daß es für ihn außer Susanne keine andere gäbe, der unglücklichselige Irre. Vielleicht glaubt er auch, daß Hartnäckigkeit zum Ziele führt.

Was macht er denn da? Er beginnt doch tatsächlich mit dem Schneeschieber den Gartenweg zu räumen. Er weiß, daß das Susannes Aufgabe ist, wie er alles weiß, was in diesem Hause vorgeht. In dem wüsten Schneegestöber hat er nur ein Wollhemd an, und ich sehe, wie seine starken Schultermuskeln darunter spielen. Ab und zu hält er inne und lauscht der Tanzmusik. Sein Gesicht ist traurig und wie aus Holz. Eine besondere Pikanterie der Situation besteht darin, daß die Musik, die da von drinnen herausdringt, auf seinen Platten erzeugt wird. Neulich wurde er von Susanne in einer ihrer vielen Launen halb und halb in Gnaden wieder aufgenommen. Plötzlich tauchte sie bei ihm und seiner Mutter auf, plauderte wie in alten Zeiten und pumpte sich Schallplatten von ihm. Er durfte sie ihr sogar Vorspielen. Dann aber war plötzlich Schluß. »Der Kerl starrte mich an, daß mir direkt unheimlich wurde«, erzählte sie mir später. Sie ging — aber mit den Platten unter dem Arm. Und seitdem werden sie von ihr gespielt. Als ich sie fragte, ob sie sich nicht schäme, sah sie mich völlig verständnislos an: »Ja, wieso, Colonel? Glaubst du denn, daß er sie mir nicht gern geliehen hat?«

»Ja, aber... wenn ein Mann so was tut, dann erwartet er doch, daß...« Ich schaute in diese großen, blauen, unschuldig aufgerissenen Augen und versuchte zu ergründen, was dahinter vorging. Dann gab ich es auf. »Du bist ein Biest!« erklärte ich abschließend. »Wenn ich an Franzis Stelle gewesen wäre, ich hätte dich übergelegt und dann ‘rausgeschmissen — ohne Platten.« Ihre Augen waren plötzlich sehr interessiert gewesen: »Wahrscheinlich wäre ich dann wiedergekommen«, meinte sie, »brutale Männer sind himmlisch.«

Na, was soll man dazu sagen?

Ich seufze und gehe an meine Arbeit. Bald habe ich alles vergessen. Die Stunden verrinnen ungezählt, als tropften sie lautlos in den Abgrund. Einmal höre ich im Unterbewußtsein die Haustür klappen und eilige Schritte. Kurz darauf fällt ein Wagenschlag zu. Die beiden sind anscheinend aus der Stadt zurück. Ich benutze die Störung, um Licht anzuknipsen, und versinke dann wieder in meine Arbeit. Und dann, als ich gerade fertig bin und mir die Brille müde auf die Stirn geschoben habe, tut sich die Tür auf. Ich lasse die Brille wieder herunterfallen und erblicke die Mama in ihrem guten schwarzen Kleid mit dem alten goldenen Halsband, das bei uns die >Gänsegurgel< heißt. Darunter trägt sie die große Brosche mit dem heiligen Georg, und darüber ist das Gesicht ein einziger Vorwurf:

»Es ist halb sieben!« sagt sie. »Die beiden drüben sind schon seit fünf Uhr zurück, und du sitzt immer noch im Räuberzivil!«

»Ja — ich denke, du willst nicht mitkommen?«

»Nicht mitkommen! Schließlich sind es doch unsere Nachbarn, und wir sind auf sie angewiesen. Wenn ich mit meinen zweiundachtzig Jahren...«

»Na schön«, sage ich, »gehen wir.«

Als wir drüben ankommen, ist dicke Luft. Addi steht mit gerunzelter Stirn in der Küche neben ihrem Mix, der auf vollen Touren läuft, aber offenbar schon seit längerer Zeit nichts Flüssiges mehr von sich gibt, ohne daß sie es bemerkt. Als wir den Kopf in die Küche stecken, wacht sie auf, stellt den Mixer ab: »‘n Abend, Mami, ‘n Abend, Hannes.« Ihr Gesicht belebt sich: »Ach, wir haben ja so schön eingekauft, ihr werdet staunen!«

Hinter meinem Rücken, im Mädchenzimmer, ist die ziemlich laute Stimme Teddys vernehmbar. Gleich darauf fährt er mit hochrotem Gesicht aus der Tür: »Da seid ihr ja! Entschuldigt. Ich hab’ den beiden jungen Damen da drin mal die Meinung gesagt. Wir kommen vorhin nach Hause — alle Fenster auf, daß uns die Zähne klappern! Und stinkt trotzdem noch nach kaltem Rauch! Hat wieder der Verein getagt! Haben uns anscheinend zu spät gehört, die Herren, und sind hinten zum Fenster Taus. Fensterbretter zerkratzt, Zigarettenstummel in die Blumentöpfe gedrückt — und sieh dir nur den Teppich im Wohnzimmer an! Und den Fußboden nebenan im Büro! Die Lauser haben es anscheinend nicht nötig, sich die Füße abzukratzen, ehe sie ‘reinkommen.«

Die Mädchenzimmertür öffnet sich abermals, und es erscheinen tief gekränkt die jungen Damen. »Sie haben sich die Füße sehr wohl abgekratzt«, sagen sie im Chor.

»Und wenn ihr glaubt«, donnert Teddy, »daß ihr noch obendrein die Lippen bis auf die Knie hängen lassen müßt, dann werde ich euch mal zeigen, daß ihr noch dumme Jören seid, indem ich euch nämlich beide übers Knie lege!«

Die Sünderinnen klappern hoheitsvoll mit den Augendeckeln, schießen hilfesuchende und empörte Blicke teils auf mich, teils auf Addi, die in die Küchentür getreten ist und sich die Hände abtrocknet, beschließen dann aber doch, die Lippen vorsichtshalber wieder hochzuraffen. Addi betrachtet sie ohne wesentliche Sympathie: »Margot, hast du schon Vatis Schuhe geputzt? Dann aber schnell! Und du, Susanne, gehst ‘runter in die Heizung und schüttest noch tüchtig nach, daß es schnell wieder warm wird.« Und zu uns: »Kommt ins Wohnzimmer.«

Wir wandern zu viert ins Wohnzimmer. Dort lassen die Mama, Teddy und ich uns nieder. Addi verschwindet im Schlafzimmer und raschelt dort mit Papier. Teddy gießt der Mami einen Vermouth ein und macht für uns beide eine Cognacflasche auf. Dann stellt er Teegebäck, Nüsse, Salzstangen und Konfekt auf den Tisch.

»Danke«, sagt die Mama, »wir haben schon gegessen.« Worauf sie das Schüsselchen mit dem Konfekt in Angriff nimmt. Teddy schenkt mir einen Cognac ein und grinst mich an: »Hast du gesehen, wie schnell die beiden jungen Damen ihre Gesichtszüge wieder umrangiert haben? Wie viele von den Bürstenköpfen waren’s denn diesmal?«

»Vier!« sagt die Mama.

»Das langt ja.«

»Besser als zwei«, sage ich. »Bei vieren passiert bestimmt nichts.«

»Und warum soll man ihnen nicht das bescheidene Vergnügen gönnen, mal ‘n bißchen zu tanzen und ‘n paar Glimmstengel zu rauchen? Besser, sie treffen sich in ‘ner netten Häuslichkeit, als daß sie auf den Straßen ‘rumstehen und dumme Streiche machen.«

»Harmes hat ganz recht«, sagt Addi von der Tür her. »Im Grunde sind es zwei liebe und leicht zu lenkende Kinder.«

Ich wundere mich einen Augenblick über die nachdrückliche Betonung in ihren Worten und den bedeutsamen Blick, den sie dabei auf Teddy wirft, vergesse es aber sofort wieder, denn sie steht da in einem feschen Wintermantel, Kragen hochgeklappt, schön wie ein Bild. Die Mama ist sofort auf den Beinen und befühlt den Stoff. Dann knöpft sie ihr den Mantel auf und untersucht das Futter. »Das Kleid ist ja auch neu!« schreit sie.

»Ist es auch!« sagt Teddy und wirft sich in die Brust. Die Mami hebt ihr das Kleid hoch und befühlt auch diesen Stoff. Ich stehe auf, hebe die andere Seite vom Kleid in die Höhe und bekomme von Addi eins auf die Finger. Ein paar Beine hat das Kind!

»Erlaube mal«, sage ich, »es hätte ja sein können, daß das Unterkleid auch neu ist!«

Teddy wiehert wieder, und die Mama macht »Psst«, weil Margot nach auffallend schneller Beendigung des Schuhputzens eintritt. Kurz danach erscheint auch der Heizer Susanne. Beide stehen in der Tür und sehen die Mutter an, die sich den Mantel wieder zugeknöpft hat und sich im Kreise dreht. Ich reiße mich mit Mühe von Addis hübschen Beinen los: »Na, was sagt ihr zu eurer Mutter?«

Margot schiebt die Unterlippe vor: »Wenn du nicht so alt wärst, Mutti, könntest du, glaube ich, heute noch den Männern den Kopf verdrehen.«

»Alt!« Teddy schnappt nach Luft. »Alt sagst du zu deiner Mutter, du — du Embryo! Deine Mutter fängt ja gerade erst an zu leben!«

»Ja, das merkt man«, sagt Susanne spitz.

»Was heißt das?« fragt Addi heftig. Sie tauscht einen beunruhigten Blick mit Teddy, und beide schauen drohend auf ihre Brut. Aber sie fühlen sich offenbar in der Verteidigung.

»Na, das Kleid...«, erklärt Susanne und läßt sich mit einer katzenhaft geschmeidigen Bewegung auf der Couch nieder.

Addis Augen sind hart: »Was ist mit dem Kleid?«

Margot setzt sich neben die Schwester, zieht die Beine hoch und faltet die Hände davor: »Würde uns auch stehen.«

»Wenn ich mich nicht irre«, sagt Teddy bedrohlich leise, »habt ihr beide in diesem Winter neue Mäntel, Schuhe und Tanzkleider bekommen!«

»Und wenn ich mich nicht irre«, sagt Addi, »hat euer Vater, der jeden Pfennig schwer verdienen muß, immer noch keinen Wintermantel!«

Teddy wird rot. »Das steht nicht zur Debatte, Addi. Das kannst du nicht so sagen. Du weißt, mir wird immer im Wintermantel zu heiß. Außerdem ist der Wagen ja geheizt, und wenn ich auf Tour bin, husche ich nur so über die Straßen in die Geschäfte.«

»Und wenn du mal spazierengehst?« fragt die Mama.

»Wenn ich spazierengehe, ziehe ich mir eben ein paar Pullover unter, da kann man sich immer noch besser bewegen als im Mantel.« Er wendet sich hilfesuchend an mich: »Du solltest auch nicht in so dicken Mänteln herumlaufen.«

»Ja«, erwidere ich mechanisch. »Ich bin nur nicht so abgehärtet wie du.« Dabei fixiere ich die beiden Mädchen. Das Aufsässige in ihren Blicken verschwindet, und beide werden wie auf Kommando rot.

»So!« sagt Addi. »Und jetzt geht ihr in euer Zimmer. Für diesen Abend haben wir genug von euch.«

Margot steht als erste auf, wendet sich hoheitsvoll an der Tür um: »Come on, Susan!«

Da erhebt sich auch Susanne. Sie hat gar nicht mehr das Katzenhafte, sondern bewegt sich hölzern und sieht vor Verwirrung ganz dumm aus. Addi reißt hinter ihnen die Tür noch mal auf und ruft in die Diele: »Und Schlag neun Uhr wird das Licht ausgemacht. Ich sehe nach! Schimpfen könnt ihr über uns auch im Dunkeln.« Sie schmeißt die Tür zu, geht erregt auf und ab, bleibt vor Teddy stehen: »Morgen fahren wir noch mal ‘rein und kaufen einen Wintermantel für dich!«

Teddy öffnet den Mund, aber sie macht eine wilde Bewegung: »Keine Widerrede! Ich hatte mir was gespart für meinen Fahrkurs, aber das ist ja lächerlich.« Sie zieht den Mantel aus, wirft ihn über die Couchlehne und sieht plötzlich darauf wie auf etwas Giftiges: »Es ist ja eine Schande! Wie komme ich mir denn vor? Teddy, der arme Kerl, muß sich abstrampeln, um das Geld ‘ranzuschaffen, und wir Weiber hängen uns alles auf den Leib und sagen nicht mal danke dafür! Habe ich recht, Mami?«

»Das finde ich auch, mein Kind«, sagt die Mama. »Ich wollte mich nur nicht einmischen.«

Addi kann sich noch immer nicht beruhigen: »Das Kleid! Im Grunde stehen sie auf dem Standpunkt: Was braucht die Alte noch schicke Kleider? Die hat ja ihren Mann und uns und den Kochtopf.« Sie bleibt vor mir stehen und funkelt mich an. »Warum sagst du gar nichts? Findest du das vielleicht auch in der Ordnung?«

Ich versuche ein Grinsen: »Wenn du die Wut hast, bist du noch hübscher!«

»Ich habe dich gefragt, ob du ihnen recht gibst?«

»Das nicht — aber — ich finde es verständlich.«

»Verständlich!«

Teddy macht sein Verkaufsgesicht, diplomatische Ausgabe: »Aber laß ihn doch ausreden! Warum verständlich, Hans?«

»Nun — erstens: wir waren genauso. Für uns waren in dem Alter alle Menschen über Dreißig alte Leute. Vor allem aber vergeßt ihr immer wieder, daß so ein Kind wie ein kleines Tier ist, unverstellt egoistisch.«

»Nenn es lieber brutal«, meint Addi und setzt sich.

Die Mama hat eben den dritten Vermouth erledigt und sagt mit etwas schwimmenden Augen: »Als Kinder mußten wir immer die abgelegten Kleider unserer Mutter tragen. Sie waren für unsere Begriffe viel zu fesch und bunt, und in der Schule verspottete man uns, wenn wir in den bunten umgeänderten Kleidern kamen. Wir haben Qualen gelitten.«

Niemand von uns weiß mit dieser Reminiszenz etwas anzufangen. Teddy gießt ihr einen weiteren Vermouth ein: »Schön, daß du solches Verständnis für kleine Mädels hast, Mami!«

Sie sieht ihn etwas über Kreuz an, wird dann unruhig und steht auf: »Jetzt muß ich gehen!« Und als wir sie alle verblüfft wegen dieses zarten Übergangs ansehen: »Wenn ich noch kann!« Teddy ist sofort auf den Beinen: »Wir beide bringen dich ‘rüber, Mami, du brauchst keine Angst zu haben!«

Sie schüttelt hartnäckig den Kopf. »Nein. Mein Hannes genügt mir. Schlaft schön.«

Ich zucke die Achseln, verabschiede mich und bugsiere sie über den Trampelpfad bis zu unserm Haus hinüber. Dort bringe ich sie vorsichtshalber bis in ihr Zimmer. Sie dreht sich um und gibt mir einen Kuß: »Du mußt noch mit den Hunden ‘raus!«

»Mach’ ich, mach’ ich. Und im übrigen, ich finde es auch sehr nett, daß du soviel Verständnis für die Mädels hast!«

»Du bist ja nicht bei Trost! Wahrscheinlich ha... hast du wieder zuviel getrunken. Nicht geschenkt möchte ich die Jören...«