10

Nach einem stumm verlaufenen Mittagessen erhebt sich die Mama in feuchter Küchenschürze vom Tisch: »Mahlzeit — Mönch!«

»Wieso Mönch?« fahre ich aus meinen Gedanken hoch. »Haben sich vielleicht einige Damen vom Kostümball über mich beschwert?«

»Das wohl kaum — aber ich komme mir vor wie im Trappistenkloster. Darf man vielleicht erfahren, worüber der Herr derart nachgrübeln, daß er sich den Himbeersaft vom Pudding auf den Leberkäse gegossen und das gar nicht bemerkt hat?«

»Doch, doch — gemerkt schon — es ist wegen der Sache mit Margot.« Verflixt noch mal, da habe ich es ja doch gesagt!

»Mit Margot?« Sie setzt sich wieder hin.

»Na, weil sie doch fest mit dem Buddy geht. Das ist erst gestern ‘rausgekommen...«

»...‘rausgekommen...«

»Ja, als ich Susanne zurückholte, die aus dem Fenster geklettert war.« (Nun ist schon alles egal!)

Ich blicke auf und sehe sie sitzen, die Augen aufgerissen, die Hand vor den Mund geschlagen: »Das ist ja entsetzlich!« In ihrer Stimme schwingt unhörbar die tiefe Genugtuung, daß nun endlich doch eine Katastrophe eingetreten ist, angesichts derer man in den düstersten Prognosen schwelgen kann. Sie steht abermals auf und nimmt Kurs auf ihr Zimmer.

»Die ganze Sache ist natürlich halb so wild«, sage ich lahm hinter ihr her. Sie antwortet nicht und erscheint dafür nach einigen Minuten heftigem Kramens und Stöhnens mit einem Telegrammformular, legt es vor mich hin: »Ich habe ungefähr gedacht: Sofort zurückkommen, beide Töchter gefährdet!«

»Du bist wahnsinnig. Ich will nicht, daß den beiden die paar Urlaubstage versaut werden. Außerdem müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht mit den Gören fertig würden, und drittens glaube ich, daß weder Margot noch Susanne ernsthaft gefährdet sind. Schließlich sind’s ja noch halbe Kinder.«

»Halbe Kinder! Heutzutage, mit siebzehn und achtzehn Jahren! Wo sie schon mit fünfzehn ausgewachsene Frauen sind, körperlich wenigstens! Dafür fehlt’s oben im Dachstübchen um so mehr.«

»Soll ich dir was sagen, Mulleken?«

»Na?«

»Ich glaube, daß im Grunde zwischen uns als Jugend und dieser hier nicht viel Unterschied ist. So — und nun sag mir, wie wir die beiden am besten bändigen.«

»Hm... ich würde sie ablenken. Mit irgendwelchen anderen Themen. Wir sollten sie zum Beispiel heute nachmittag einladen, damit sie mal einen Augenblick von den Bengels weg sind. Vielleicht kommen sie dann zum Nachdenken.«

»Gar nicht schlecht, Mulleken, gar nicht schlecht. Ich werde sie einladen.«

Sie lächelt befriedigt über das Lob und ist dann sofort wieder in ihrer Lieblingsrolle: »Na, dann werde ich meine mürben Knochen in Bewegung setzen und einen Kuchen für diese Wänste backen. Die futtern ja wie die Heuschrecken. Wenn man das vom Konditor holen würde, gingen wir pleite.« Sie erhebt sich stöhnend: »Das hat mir gerade noch gefehlt! Als ob wir keine anderen Sorgen hätten.«

»Ich wüßte nicht, was ich ohne dich täte, mein Goldstück. Du solltest Jugendpsychologin werden!«

Sie schlägt mir die Küchentür vor der Nase zu und murmelt drinnen mit Lautstärke zehn, daß man es bis in den Keller hätte hören können: »Wüßte nicht, was ich täte! Psychologin — Goldstück — auch noch Ironie —, da schuftet man und schuftet von früh bis spät, was die alten Knochen nur hergeben...«

Ich steige lächelnd die Treppe hinunter: Sie wenigstens ist glücklich!

Meine Einladung wird von den beiden Mädchen mit beklommener Artigkeit entgegengenommen. Sie fletschen die Zähne wie zwei Gäule, was offenbar freudige Überraschung ausdrücken soll. Unmittelbar nachdem ich wieder in mein Haus zurückkomme, setzt drüben lebhafter Stafettenverkehr der Stifteköppe ein. Anscheinend wird eine ganze Reihe von verabredeten Rendezvous umgeschaltet.

Kurz bevor sie kommen, fällt mir auf, daß beide Hunde verschwunden sind. Weffi finde ich oben unter dem Eßtisch. Er liegt vor einer toten und inzwischen aufgetauten Maus und wedelt schüchtern. Rund um ihn herum lösen sich mehr oder minder große Eisstücke auf, die er sich aus den Pfoten geknackert hat. Ich nehme ihm die Maus weg, gebe ihm dafür sein Bällchen, streichele ihm das Köpfchen, und dann gehe ich hinaus, um die Maus vom Balkon in den Garten zu werfen. Dabei pfeife ich dem kleinen Löwen. Eine Weile ereignet sich gar nichts, dann taucht er aus einem Gebüsch in der entferntesten Ecke des Gartens auf. Er ist über und über mit Schnee bekleistert und sieht mich traurig an. Ich gehe hinunter und lasse ihn durch die Terrassentür ein. Er watschelt an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und steuert die Küche an. In Anbetracht der Schneeklunkern dirigiere ich ihn auf das Badezimmer um, er gehorcht mürrisch: >Du kümmerst dich ja doch nicht mehr um uns!<

Es gibt mir einen Stich. Ich sehe mich um. Da liegt meine Arbeit auf dem Schreibtisch, steht mein neuer Radioapparat, über den ich mich zu Weihnachten so gefreut, meine Bücher, unten in der Garage mein Boxie, an dem ich normalerweise um diese Zeit bestimmt die Stoßstange neu eingefettet und die Batterie kontrolliert hätte. Alles weit weg. Die alten Möbel, meine lebenslangen Freunde, sind plötzlich nur hölzerne Kisten und mein Boxie ein Stahlbehälter mit Rädern. Das Leben und die Jugend haben sie entwertet. Durch eine schmale, unendlich tiefe Kluft fühle ich mich von ihnen getrennt, als ob sie einer anderen Dimension angehörten.

Dann sehe ich, wie die Mädchen drüben das Haus abschließen und auf dem schmalen Trampelpfad durch den fast hüfthohen Schnee herüberkommen. Da weiß ich, daß Leben und Jugend wichtiger für mich sind. Wenigstens im Augenblick. Und dieser Augenblick scheint mir — trotz allem — schön.

Eine halbe Stunde später sind wir im wesentlichen mit Kaffee und Kuchen fertig. Mamachen greift zum Vermouth, und ich gieße den jungen Damen und mir selbst einen Cognac ein. Junge Damen —ja, das sind sie ganz und gar, wie sie da nebeneinander am runden Tisch sitzen. Ihr Benehmen ist ausgesprochen vorsichtig. Die Mama, die das erste Glas ziemlich hastig geleert hat, geht zum Angriff über: »Ich habe da eben die Jungens bei euch gesehen. Die sind doch eigentlich alle viel zu jung für euch!«

»Ja, wo sollen wir denn ältere hernehmen?« fragt Susanne düster, und dann mit einem neckisch herausfordernden Aufflammen in den Augen: »Wie war denn das bei dir, Colonel? Als du so siebzehn, achtzehn warst?«

»Ach, Colonel<, sagt Margot, »erzähl uns doch mal, wann hast du eigentlich angefangen, mit Mädchen zu poussieren?«

Ich durchschaue diese Frage als Ablenkungsmanöver, aber sie kitzelt meine männliche Eitelkeit: »Wann? Na, wartet mal — ja, mit vierzehn Jahren, knapp fünfzehn.«

»So früh schon?« Susanne klatscht in die Hände: »Hach, das mußt du uns erzählen, unbedingt!«

Margot lehnt sich vor und stützt das Gesicht in die Hand: »Ach ja, erzähl!«

Ich werfe einen kurzen Blick auf die Mama, sie sieht besorgt aus. Dann lehne ich mich in den Sessel zurück. Ja, wie war denn das eigentlich —? »Also, meine erste Freundin hieß Erika. Halt, nein, das stimmt nicht. Davor war ja noch die Steffi.«

»Ach, richtig«, sagt die Mama. »Dieser dicke Stoppen von dem Missionar mit den vielen Kindern.«

»Ja, wie hieß er denn nur — weißt du’s noch?«

»Nein.«

»Na, ist ja auch egal. Jedenfalls hatte er in seiner Wohnung sehr wenig Möbel, ich entsinne mich im wesentlichen überhaupt nur an eiserne Betten, weiß gestrichen, und an ein Eßzimmer mit einem großen Tisch und einem Dutzend Stühle. Er war ein ziemlich kleiner Mann mit Spitzbart, hatte eine ebenso kleine, ungesund aussehende Frau, die kränkelte...«

»Kein Wunder, nach den vielen Kindern«, meint Margot.

»Wieviel waren’s denn eigentlich?«

»Das kriege ich heute nicht mehr richtig zusammen, jedenfalls bestimmt zwei Söhne und vier Töchter. Der älteste Sohn ging in meine Klasse, war also, wie ich, ungefähr fünfzehn Jahre. Er hatte ein ganz rundes Gesicht und erfrorene Hände. Und dann war noch eine ältere Schwester da, an die erinnere ich mich, ein hübsches Mädel, aber schon sechzehn. Sie hatte einen festen Freund. Wenn sie von dem erst bei Dunkelheit zurückkam, wurde sie von den Geschwistern über eine Ziegelmauer gehievt, die Glasscherben obendrauf hatte. Von da ging’s durch den Garten in den Hintereingang und oben noch über einen Balkon in ihr Zimmer. Es war sehr kompliziert. Tja, und dann war da noch die Zweitälteste Tochter, Steffi, ein Jahr jünger als wir. Sie hatte dasselbe runde Gesicht wie ihr Bruder, zwei große, veilchenblaue Augen und lange dicke braune Zöpfe, die ihr fast bis in die Kniekehlen hingen, so richtige starke Pferdehaare.

Eigentlich war ich ja noch ein Kind um diese Zeit. Meine ganze Leidenschaft war Soldatenspielen. Ich hatte eine große Armee und Kriegsschiffe und Holzhäuser und Brücken und Bäume und zusammensetzbare Papptafeln, die dann Flüsse und Wiesen und Hügel ergaben, auf denen ich meine Indianerschlachten oder meine Kämpfe aus Napoleons Zeit ausfocht. Mein Großvater, bei dem ich nach dem frühen Tod meines Vaters mit der Mama lebte, brachte mir von seinen Dienstreisen immer neue Schachteln voll Soldaten mit. Während ich meine Phantasieschlachten schlug, tobte draußen von Galizien bis nach Flandern, von der Nordsee bis zu den Dardanellen in furchtbarer Wirklichkeit der Erste Weltkrieg. Aber davon merkten wir Kinder nichts oder nur sehr wenig. Es gab zwar schlecht zu essen, das war schlimm. Andererseits aber wurden viele Lehrer eingezogen, und das war fein, denn mit dem Ersatz konnten wir machen, was wir wollten. Manche unserer Mitschüler erschienen mit schwarzen Armbinden, dann war draußen ein Bruder gefallen oder vielleicht auch der Vater. Aber uns focht das nicht an. Ich hatte weder Bruder noch Vater, und von den Missionskindern war auch keines im Feld, und Bombenangriffe erreichten damals das Hinterland noch nicht. Der Krieg war irgendwo ganz weit weg, nur in den Zeitungen und Verlustlisten.

In unserer Klasse nun gab es ein paar ältere, die schon mehrmals sitzengeblieben waren, und einer davon hieß Reubling, Kurt Reubling, ein massiver Bursche mit Kneifer, der einen kleinen Schnurrbart trug und eine tiefe Stimme hatte. Sein Gesicht war oval und groß und wäre eigentlich ganz hübsch gewesen, wenn er nicht immer so merkwürdige rote Flecke auf den Backenknochen gehabt hätte wie aus Schminke. Kurt Reubling also zeigte immer einen Schlüssel herum und erklärte, das sei der Hausschlüssel einer verheirateten Frau, mit der er ein Verhältnis habe.«

Die Mama räuspert sich, aber die beiden Mädchen schlagen die Hände zusammen und amüsieren sich: »Weiter, Colonel, ist ja himmlisch!«

»Na ja, also — der Reubling, der stach mir in die Nase. Ich war nämlich sehr ehrgeizig und wollte immer die erste Geige spielen. Kurt mit seinem Schlüssel zur verheirateten Frau hatte mich total ausgestochen. Darum fühlte ich mich verpflichtet, unbedingt auch eine Freundin zu besitzen. Ich fragte den Missionarssohn — wie hieß der denn bloß —, ach ja, Ottfried Weber! Weißt du noch, Mulleken?

Wenn er zu uns kam, war immer seine erste Frage: >Gibt’s heute Eier?< Eier gab es nämlich bei Missionars selten, weil die zu teuer waren. Er bekam auch abgelegte Sachen von mir und ab und zu nicht mehr ganz standfeste Soldaten und Trainwagen mit drei Rädern und verbogenen Deichseln, die er sich selbst reparierte. Ich ließ ihn auch immer von mir abschreiben, weil er sich in der Schule sehr schwer tat. Als ich ihm nun erklärte, ich brauchte unbedingt eine Freundin, zog er pflichtgemäß die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.

>Was willste denn mit so ‘ner blöden Gans?< fragte er schließlich.

>Ich werd’ schon sehen, was ich damit mache. Man muß eben so was haben, das verstehst du nicht.<

>Nee, das verstehe ich bestimmt nicht!< sagte er. >Das gackert doch nur durch die Gegend, und frech sind sie wie Affendreck, und du mußt nachsichtig und vorsichtig sein mit ihnen, weil’s doch Mädchen sind — ein blödes Volk.< Plötzlich erhellte sich sein Gesicht: >Wie wär’s denn mit Steffi?«

Steffi — darauf war ich noch gar nicht gekommen. Nicht mal schlecht, die Idee. Ich kannte sie ja nur vom Trapper- und Indianer- und Räuberspiel als einen ziemlich festen Brocken, der mir beim Nahkampf verschiedentlich recht kräftige Püffe versetzt hatte.

>Meinst du, die schafft das?< fragte ich. >Stellt sich nicht zu dämlich an?< Ich fühlte seinen Blick spekulierend auf mir ruhen und faßte einen heroischen Entschluß: >Ich will dir was sagen: Wenn das hinhaut und sie meine Freundin wird, kriegst du den Fahnenträger auf dem Schimmel, zehn Indianer und fünf Trapper!<

>Auch Winnetou?< fragte er arglistig.

Das ging ins Herz! Winnetou war meine Lieblingszinnfigur. Er kniete, die Büchse im Anschlag, und die lange Federkrone floß ihm malerisch über den Rücken. >Meinetwegen sollst du auch Winnetou haben!<

Er hielt mir die Hand hin: >Topp!<

Ich schlug ein. >Und wenn se nun nicht will?<

>Kriegt se eine hinter die Löffel. Die will!<

Am nächsten Tag in der Schule war Ottfried wohlwollend triumphierend: >Na?< fragte ich.

>Geht in Ordnung. Ist doch klar. Hast was?<

Ich gab ihm schweren Herzens den Fahnenträger auf dem Schimmel als Anzahlung.

>Winnetou aber auch!< erinnerte er.

>Morgen, wenn’s geklappt hat. Wie geht’s denn nun weiter?<

>Du kommst heute zum Abendbrot, und nachher lassen wir euch allein.<

Ich verbrachte den Tag in erheblicher Aufregung, und meine Leistungen in Mathematik sanken bis unter den Nullpunkt. Schlag sieben Uhr trat ich zum Abendessen an. Mutter Weber aber schien noch besorgter als ich, und zwar bezog sich ihre Besorgnis offenbar auf meinen Appetit. Es gab zur Stillung des ärgsten Hungers irgendeine dicke Suppe, die ich entsetzlich fand, aber brav hinunterwürgte, und hinterher einen Riesenhaufen Brote, rote Streichwurst und kalte Bouletten, dünn aufgeschnitten. Bemüht, einen guten Eindruck zu machen, nahm ich nur zwei Schnitten und erwies mich allem Zureden gegenüber als standhaft.

Im übrigen schienen, mit Ausnahme der Eltern, alle eingeweiht zu sein, um mich herum griente es verstohlen, und nur Steffi sah mich ernsthaft forschend an. Nach dem Essen verließ die Mannschaft geschlossen den Saal. Allerdings schien sich eine Geschwistertraube vor dem Schlüsselloch angesammelt zu haben, denn ich hörte ein Gewisper und dann Ottfrieds energische Stimme. Irgend etwas knallte, vermutlich eine Ohrfeige, und jemand heulte los. Danach war Stille.

Steffi räumte den Tisch ab. Ich stand, die Hände weltmännisch in den Hosentaschen, am Geschirrschrank und sah ihr zu. Die Dämmerung ließ den großen kahlen Saal mit dem Tisch und vielen Stühlen beinahe romantisch erscheinen. Ich betrachtete ihre starken Zöpfe und ihre runden Wangen und die schnellen, geschickten Bewegungen, mit denen sie die Teller ineinanderstellte und auf die Anrichte trug. Alles gefiel mir recht gut, und alles war anders als bisher. War das noch dasselbe Wesen, das mir erst vor ein paar Tagen bei der Erstürmung des feindlichen Wigwams ein Bein gestellt hatte, so daß ich erheblich auf die Nase flog, sie nachher bei den Zöpfen erwischte und ihr den Hintern vollhaute? Was machte man jetzt, um Gottes willen? Sie nahm die Schürze ab und kam durch das letzte Abendlicht zu mir, als habe sie meine Gedanken gelesen. >Was machen wir nun?<

>Also, du willst meine Freundin sein?<

>Ja<, sagte sie und sah mich aus ihren großen veilchenblauen Augen freundlich an: >Und was machen wir nun?<

>Ich glaube, wir geben uns jetzt am besten einen Kuß. Das gehört mit dazu.<

>Bitte schön<, sagte sie und hielt mir ihre Lippen hin. Ich küßte diese Lippen. Es war ihr erster und mein erster Kuß dieser Art, und er war gar nicht einfach. Vor allem waren uns unsere Nasen im Wege, und dann, als wir die richtige Kopfhaltung herausgefunden hatten, damit sie nicht mehr im Wege waren, ging der Kuß zwar vonstatten, fiel aber ziemlich feucht aus, so daß wir uns beide hinterher den Mund wischten.

>Und was weiter?< fragte sie.

Ich holte tief Atem: >Ich glaube, wir müssen auch ein Rendezvous veranstalten.<

>Was ist das?<

>Na, wir treffen uns wo, und das darf keiner wissen.<

>Ach! Warum treffen wir uns denn nicht hier?<

>Das ist nicht schick. Rendezvous gehört mit dazu, kannst dich drauf verlassen.<

>Na schön. Also wann treffen wir uns?<

>Übermorgen, da ist Sonntag. Da gehst du sicher zur Kirche. Wann ist denn die aus?<

>Um zehn Uhr.<

>Gut, ich bin um fünf nach zehn da, warte auf mich.<

>Ja<, versprach sie, >ich warte.<

>Gut<, sagte ich aufatmend, >dann können wir ja den Ottfried rufen. <

Ich erinnere mich noch, wie ich dann nach Hause ging. Es war Mai, und die Pyramiden der Kastanien leuchteten im Schimmer der Gaslaternen. Mir war ganz seltsam zumute, aber hauptsächlich war ich höchst vergnügt, daß ich nun eine Freundin hatte und mir von Kurt Reubling nicht mehr imponieren zu lassen brauchte. Jetzt gehörte ich endgültig zu den >Männern< in meiner Klasse.

Am nächsten Tag waren Turnspiele irgendwo im Grunewald. Fußball. Hinterher brachte mich Kurt mit seinem Fahrrad nach Hause. Ich stand hinten drauf, weil ich kein eigenes Rad haben durfte. Die Mama erlaubte es nicht, weil sie Angst hatte, ich würde überfahren.

>Du warst ganz gut heute<, sagte Kurt herablassend. Er war nämlich Mannschaftsführer, und Fußball war die einzige Sparte der Schule, in der er glänzte. >Ich würde dich gern als Torwart haben.<

>Meinetwegen<, erklärte ich großzügig.

>Dann mußte aber morgen mit mir trainieren. Der Paul (ein anderer von den >Männern<) schießt, und ich zeig’ dir, wie man abfängt. Wir haben die Turnhalle für uns.<

Das war der große Augenblick für mich: >Tut mir leid, bin verabredet.<

Kurt schmiß uns fast um: >Was? Mit wem denn?<

>Ach, mit ‘nem Mädel. Die ist ganz verrückt nach mir.<

>Und dafür läßte ‘n Torwart sausen, für so ‘n blödes Weibsbild?<

Und das sagte er, Kurt, der Herzensbrecher mit dem Hausschlüssel der verheirateten Frau! >Nanu<, meinte ich, >wie kommst du mir denn vor?<

Ich sah von hinten, daß er ganz rote Ohren bekam. Er legte sich nach vorn und erhöhte das Tempo: >Ach — allmählich gehen einem die Weiber auf die Nerven. Fußball ist viel vernünftiger. Möchtest du nicht doch Torwart werden?<

>Nee, nicht geschenkt. Nimm doch den Paul.<

Kurt schwieg eine Weile nachdenklich. Als er mich dann an meiner Haustür absetzte, gab er mir die Hand, und ich fühlte, daß Achtung in diesem Händedruck lag: >Muß ja ‘ne ganz dolle Puppe sein, die du dir da aufgetan hast!<

>Kann man wohl sagen. Scharf wie ‘n Rasiermesser.<«

Susanne schlägt wieder die Hände zusammen: »Ist ja großartig, Colonel!« Sie wendet sich zu Margot: »Eigentlich haben die doch damals genauso geredet wie wir heute! Nur — ihr wart ja noch viel jünger! Stimmte denn das, daß er das Verhältnis mit der verheirateten Frau hatte?«

»Unterbrich doch den Colonel nicht dauernd!« sagt Margot wütend.

»Ich erzähl’s dir nachher«, sage ich. »Also, die Sache mit Steffi —. Am nächsten Tag, dem Sonntag des Rendezvous, fand ich am Frühstückstisch auf meinem Platz zwei Schachteln mit Soldaten aufgebaut und eine große Kanone, aus der man richtig mit Erbsen schießen konnte. Opapa war während der Nacht von der Dienstreise gekommen, und das hatte er mir mitgebracht. Ich geriet völlig aus dem Häuschen. Vor allem mußte ich ja jetzt die anderen Truppen aufmarschieren lassen, um die beiden neuen Kompanien und die Kanone zu begrüßen. Als ich mit dem Aufstellen der Zinnsoldaten fertig war und auf die Uhr schaute, war es dreiviertel elf!

Ach, du großer Strohsack — Steffi! Ich riß meine Mütze vom Haken und sauste los. An der Kirche war niemand mehr. Ich wartete eine halbe Stunde und ging dann nach Hause. Am nächsten Morgen in der Schule war Ottfried ziemlich zugeknöpft: >Wo warste denn bloß, Mensch? Steffi hat ‘ne dreiviertel Stunde auf dich gewartet!<

>Hat sie geweint?<

>Nee, sie hat bloß gesagt, du könntest sie mal kreuzweise. Was war denn bloß los?<

Eigentlich war ich sehr enttäuscht, daß sie nicht geweint hatte. In diesem Fall hätte ich irgend etwas von einer plötzlichen Krankheit oder noch was Dramatischeres erzählt. So aber sagte ich schlicht die Wahrheit.«

»Ach, Colonel«, meint Margot, »das ist aber kümmerlich! Das war ja keine richtige Liebe!«

»Nein«, gebe ich zu, »das war’s noch nicht. Der kleine Junge hatte noch mal über den Mann gesiegt, wenn man so will.«

»Na, hast du sie denn gar nicht wiedergesehen, und wie war’s denn dann später?« forscht Susanne.

»Wiedergesehen haben wir uns schon, noch ‘n paarmal, und auch wieder zusammen gespielt, aber dann habe ich sie aus den Augen verloren, wie das so geht.«

»Und das fiel dir gar nicht schwer?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich hatte ja dann auch bald meine erste richtige Liebe.«

»Nix wie los, Colonel«, ruft Margot, aber Susanne protestiert: »Erst will ich wissen, was aus Kurt Reubling und der verheirateten Frau wurde, du hast mir’s versprochen, Colonel!«

»Ich erzähle es ja auch. Aber immer der Reihe nach. Jetzt kommt erst — Erika.«