19
Um drei Uhr bin ich wach, hellwach, als habe mich jemand angerufen. Was ist denn los? Ich starre in die Finsternis. Der Wind heult ums Haus, irgend etwas klappert. Wahrscheinlich der eine Laden am Garagenfenster, der mit dem abgebrochenen Haken. Über mir schnarcht die Mama. Dann verstummt das Schnarchen, das Bett knarrt, sie hat sich auf die andere Seite gelegt. Wie spät ist es denn inzwischen — viertel vier. Kein Wunder, daß ich nicht schlafen kann, nach den Aufregungen gestern. Wie frech dieser Bursche war, dieser Fred! Wenn der Gorilla ihn nicht plötzlich abgeführt hätte, wäre er womöglich noch auf mich losgegangen. Seltsamer Kerl. Was er wohl an dem Gorilla findet? Als ich jetzt an den Gorilla denke, sehe ich hinter seinem Gesicht ein anderes, ein verpickeltes mit blaßblauen, aber sehr klugen Augen. Dieser Mühlner — wo kam der eigentlich plötzlich her, als sie mit ihrem Wagen abbrausten? Moment mal —. Ich richte mich im Bett auf: Warum brausten sie eigentlich ab? Der Gorilla hatte doch zuerst ständig auf Susannes Armband gestarrt, und dann hatte er den Fred angesehen, voller Wut und Empörung, wie mir schien, und dann hatte er die Straße hinuntergesehen und war mit einemmal auf Fred zugesprungen, hatte ihn in den Wagen gezerrt und ab. Warum? Wen hatte er da gesehen? Den Mühlner natürlich! In Uniform. Den Mühlner in Uniform — den Mühlner in Uniform...
Jetzt nimm dich mal zusammen. Du hast ja schließlich viele Jahre mit der Kriminalpolizei gearbeitet und ein paar Kriminalromane geschrieben. Also — der Mühlner. Weshalb war der eigentlich neulich bei mir? Doch nicht, um zu schwatzen! Er steuerte doch auf etwas los — gar nicht ungeschickt übrigens —, und das war meine Pistole. Aber was, zum Teufel, wollte er mit meiner Pistole, diesem alten Ding? Und er war sichtlich enttäuscht, daß sie noch bei mir war, wie es sich gehört. Wovon hat er denn noch gesprochen — von diesen Brieftaschendiebstählen und von einem ausgebrochenen Sträfling. Ausgebrochener Sträfling...
Und plötzlich richte ich mich noch höher auf. Ausgebrochener Sträfling... Was hat Brandt erzählt? Als seine Brieftasche verschwand, hätte ihn ein Breitschultriger angerempelt. Und dieser Gorilla — als ich ihm am Morgen des Maskenballes sagte, daß ich ihn feststellen lassen würde, wenn er verhinderte, daß ich die durchgebrannte Susanne wegholte, da steckte er sofort zurück. Die Erinnerung wird so lebendig, daß ich sogar den merkwürdigen Geruch wieder spüre, den der Kerl ausströmte. Und jetzt weiß ich, was das für ein Geruch ist! Gefängnisgeruch! Oft genug habe ich Strafanstalten besichtigt, dort roch es genauso. Und ein Sträfling hat mir auch mal erzählt, daß man diesen Geruch Wochen und Monate nicht loswürde, auch wenn man sich noch so gründlich wäscht.
Und heute dieser Führerschein mit dem tintenbeklecksten Bild — und seine Flucht, als der Mühlner auftauchte! Und die Ironie vom Mühlner, als ich ihn fragte, ob er den Herrn Dengler kennte. Er sagte, er kenne ihn gut. Aber das war nicht der Gorilla, den er meinte, das war der wirkliche Dengler, dessen Führerschein der Gorilla hat! Das Bild hat er mit Tinte beschmiert, damit man es nicht erkennt. Wenn aber der Gorilla den Führerschein von diesem Dengler hat — woher? Wo trägt man seinen Führerschein? In der Brieftasche. Also hat er Denglers Brieftasche geklaut. Und nicht nur die!
Mir wird eiskalt. Um Gottes willen! Und so was ist der Spezi des Spargels. Und der Spargel der Gefährte Susannes! Und das Armband! Plötzlich weiß ich auch, wo ich es gesehen habe: beim Juwelier Schimmelpfennig in Biederstein im Fenster. Vor ein paar Wochen habe ich davorgestanden und mich daran gefreut und mir noch überlegt, ob ich es nicht für Frauchen kaufen sollte!
Ich wische mir mit dem Pyjamaärmel die Stirn. Und dieser Mühlner — als er bei mir war und sich das mit der Pistole schon aufgeklärt hatte, da guckte er doch in dieser indifferenten, tückischen Verträumtheit an mir vorbei auf das Haus der Bentlers. Also war er hinter einer Pistole her, die man wahrscheinlich bei den beiden, Fred oder dem Gorilla, gesehen hat, und er vermutete, daß es vielleicht meine sein könnte, die man mir gestohlen hat, ohne daß ich es wußte. Und wer sollte sie mir gestohlen haben? Susanne — Freds Freundin. Es ist aber nicht meine Pistole, sondern eine andere. Diese zweite Pistole existiert also, das weiß er. Und wo könnte die sein — bei Susanne! Natürlich bei Susanne. Sie ist dämlich genug, sich für so was einspannen zu lassen.
Vielleicht ist es nur eine Frage von Stunden, bis Mühlner drüben im Haus auftaucht. Weiß anscheinend schon eine ganze Menge, der Bruder, hat es so ganz klammheimlich zusammengetragen. Will seinen Erfolg damit aufbauen: Jugendlicher Verbrecherring in Stephanskirchen gesprengt! Internatsschüler als Bandenchef, entflohener Sträfling, Geschwisterpaar als Helfer...
Da habe ich schon die Unterhose an und schlottere in dem dunklen Zimmer, teils vor Aufregung, teils vor Kälte. Was jetzt tun? Logisch weiterdenken, sich in die anderen hineinversetzen! Dieser Blick des Gorillas auf das Armband — er würde versuchen, es zu holen, auch die Waffe, falls sie drüben versteckt ist. Pistole — meine werde ich mir sicherheitshalber einstecken. Auf jeden Fall muß beides von drüben verschwinden, das Armband und die Waffe. Schöne Bescherung. Susanne, dieses blödsinnige Huhn! Wahrscheinlich rasend interessant, einen eigenen Kriminalfilm aufzuführen, Schützerin der Verfolgten und so was. Wer weiß, was der Fred ihr eingeredet hat. Genauso dämlich, der Lümmel. Läßt sich von einem Ganoven vorschieben, will den Bandenchef spielen. Wo habe ich denn meinen Schlips? Quatsch, wozu brauche ich einen Schlips. Aber die Pistole wollte ich doch.
So, da ist sie ja. Also, laden — wie ‘rum kommen eigentlich die Patronen in den Rahmen —? Übrigens auch schon verrostet, der Rahmen, müßte mal wieder geölt werden. Hoffentlich muß ich nicht damit schießen. Womöglich treff ich was. Und alles wegen dieser Göre. Die Margot, das kleine Luder, scheint übrigens auch davon zu wissen, und der Buddy. Die ganze Bande. Oder sie ahnen zumindest was. Hätten ja auch zu mir kommen können! Allen, wie sie da gebacken sind, den Hintern versohlen, daß sie acht Tage lang nicht sitzen können! Gut, daß ich wenigstens aufgewacht bin. Um diese Zeit ist kein Mensch unterwegs. Ich werde die beiden aus dem Schlaf holen und über den Haufen rennen, und wenn morgen der Mühlner kommt oder der Gorilla, dann ist das Nest sauber. Du bleibst liegen, Weffchen, Herrchen kann jetzt nicht mit dir spazierengehen. Hundekalt! Jetzt fällt mir auch noch der Kleiderbügel hin. Gleich wird der Schloßgeist auftauchen. Und alles wegen dieser Gören!
Ich greife mir meine Taschenlampe und schleiche, die Pistole krampfhaft umklammernd, in den Garten. Immer noch Föhn. Wolken, die alle aussehen wie dunkle Luftschiffe, ziehen hastig über den Himmel, der warme Wind voll fiebriger Spannung haucht nach wie vor seinen Atem über den See, dessen Panzer in allen Fugen kracht. Die Nacht wälzt sich wie ein krankes Tier unter den Sternen. Als ich auf unseren Stolz, die junge Blautanne, zugehe, die im ungewissen Mondlicht ihre schneebedeckten Händchen nach allen Seiten reckt, bleibe ich stehen. Da laufen doch Fußstapfen auf die Tanne zu! Große Fußstapfen, keine Hundetatzen. Ich bin dort nicht gegangen, denn da ist der Schnee sehr tief, und sie scheinen mir ganz frisch. Mühlner! Sicher sitzt er dort hinter der Tanne und lauert. Nett, wenn er drüben auf tauchen würde und ich gerade dabei wäre, das Armband und die Pistole verschwinden zu lassen! Verdunkelungsversuch — dafür gibt’s irgend was, ich weiß nicht wieviel, aber ‘ne ziemliche Latte. Was jetzt machen? Licht anknipsen? Wenn ich mich nun getäuscht habe und niemand dort hockt? Dann mache ich vielleicht die Leute erst aufmerksam mit meinem Herumgeleuchte. So ein Dorf hat ja tausend Augen. Irgendwo weit weg sitzt vielleicht eine alte Frau, die nicht schlafen kann, am Fenster. Also, was dann? Ich werde ihn anreden! Dabei kann ja nichts passieren, und hören wird man es nicht so weit bis zu den nächsten Häusern. Und wenn er nicht dort sitzt, um so besser. Ich räuspere mich:
»Guten Abend, Herr Mühlner — oder vielleicht besser guten Morgen! Ich wußte, daß Sie kommen würden, aber ich wußte nicht, daß die hohe Polizei derart pünktlich ist! Wollen Sie nicht zusammen mit mir zu den jungen Damen ‘reingehen — denn dorthin wollen Sie doch offenbar? Oder warten Sie noch auf den Gorilla? Also, nun kommen Sie schon ‘raus!«
Ich warte eine Weile, nichts rührt sich. »Na, dann nicht«, sage ich sicherheitshalber noch und gehe weiter.
Als ich gerade leise die Haustür aufschließe, höre ich hinter mir ein Geräusch und sehe, wie aus den Zweigen der Tanne Schnee fällt. Einige der Händchen verlieren plötzlich ihre Last und schnellen hoch. Ist es vielleicht gar nicht Mühlner, sondern der Gorilla? Ich reiße die Pistole aus der Tasche und entsichere. Mit der anderen Hand schließe ich die Tür auf, schlüpfe ins Haus und schiebe den Riegel vor. Drinnen tappe ich im Dunkeln, bis ich die Tür zum Mädchenzimmer finde. Im Zimmer Mondlicht. Als sich meine Augen daran gewöhnt haben, sehe ich beide als formlose Schatten in ihren Betten. Das Fenster steht offen, nur angelehnt. Mir läuft es kalt über den Rücken bei dem Gedanken, daß jemand ohne weiteres hätte einsteigen können. Statt wenigstens die Läden zuzumachen! Als ich mich bewege, knarrt eine Diele. Susanne richtet sich auf. »Rühr dich nicht!« zische ich. »Und kein Licht machen!«
Jetzt fährt auch Margots dunkler Kopf aus ihrer Deckenrolle: »Was ist denn, um Gottes willen?«
»Ruhig, Kinder, ich bin’s. Keinen Laut!«
»Aber was ist denn los, Colonel?« flüstert Margot.
»Erzähle ich euch gleich. Geh ans Fenster, Susanne, und mach ganz leise die Läden zu. Wenn sie zu sind, stellst du deine Nachttischlampe auf die Erde und machst Licht. Und alles ganz rasch, verstanden?«
Es scheint mir eine Ewigkeit zu dauern, bis die Läden geschlossen sind und das Licht brennt. Sie sitzen nun beide auf ihren Betten und starren mich an. Ich drehe mich zu Susanne um: »‘raus mit der Pistole!«
Ihre Augen weiten sich, und ihre Lippen beginnen zu zittern: »Wa... was für eine Pistole?«
Aus dein Augenwinkel sehe ich, wie Margot unwillkürlich die Hand aufs Herz gelegt hat.
»Mach keine Geschichten«, sage ich in einer schweren, dumpfen Wut zu Susanne. »Die Pistole, die dir dein herrlicher Fred gegeben hat, dieser Hanswurst, dieser blödsinnige! Es ist alles entdeckt, der Mühlner weiß alles! Daß der Gorilla die Brieftaschen gestohlen hat und daß ihm Fred vielleicht sogar dabei geholfen hat, und daß du die Pistole versteckt hast. Nur das mit dem Armband, das weiß er noch nicht, aber lange wird das auch nicht mehr dauern.«
»Aber...«, sagt Susanne. Ein plötzlicher Frost schüttelt sie, sie hüllt sich in ihre Decke.
Da ist Margot bei ihr: »Wenn du jetzt nicht sofort dieses Ding ‘rausgibst, reiße ich dir die Haare aus, das schwöre ich dir! Du bringst uns doch damit alle ins Unglück, begreifst du denn das nicht?«
Das mit dem Haarausreißen scheint viel mehr zu wirken als meine drohende Haltung. Susanne bricht plötzlich zusammen, ihre Zähne klappern, während sie aus der Decke steigt und wie eine Nachtwandlerin zu dem kleinen Bücherbord geht, das zwischen den Betten hängt. Sie nimmt drei Bücher heraus, greift in die Lücke — und da liegt sie in ihrer Hand, eine Walther-Pistole. Der Stahl blinkt blau und böse im Lampenlicht. Ich greife danach, aber Margot kommt mir zuvor: »Das ist meine Sache, Colonel! Du hast schon genug Scherereien mit uns gehabt!«
Mit einem Ruck hat sie ihre Kleider zusammengerafft, die auf dem Stuhl lagen, und ist damit verschwunden. Ich hinterher. Im Schlafzimmer der Eltern höre ich Geräusche, die Tür ist zu. Ich klopfe: »Hörst du mich, Margot? Was willst du denn machen?«
»Ich bring’ das Ding weg!«
»Das kommt nicht in Frage, Kind. Es ist nämlich jemand im Garten. Es kann der Gorilla sein. Vielleicht will er sich Pistole und Armband holen und damit türmen.«
»Ich schleich’ mich durch den Heizungskeller ‘raus, paß du am Fenster auf, daß mir keiner nachkommt.«
»Aber wo willst du denn hin mit dem Ding, in der Eile?«
»Ich schmeiß’s in den See.«
»Der ist doch noch zugefroren!«
»Dann schmeiß’ ich’s da ‘rein, wo die Bläßhühner sind, am Bach. Geh schnell zurück zu Susanne, damit die keine Dummheiten macht. Sie kriegt’s fertig und rennt ‘raus, um diesen Kerl zu warnen!«
»Du kannst doch ebensogut auf Susanne aufpassen, und ich...«
Statt der Antwort wird die Tür aufgerissen, und sie kommt heraus, fertig angezogen, rennt an mir vorbei, in die Diele, greift den Mantel vom Haken, und ehe ich etwas sagen kann, ist sie weg. Ich stürze ans Fenster. Gerade huscht ihr Schatten aus dem Heizungskeller, über den Rasen, verschwindet nach dem See zu.
In der Finsternis ist plötzlich ein dunkler, schwerer, regelmäßiger Laut, wie von einer Maschine. Ein Auto, das irgendwo in der Dunkelheit steht? Ein Polizeiwagen? Oder der Wagen vom Gorilla? Dann merke ich, daß es mein Herz ist. Soll ich hinter Margot herrennen? Aber was wird dann aus Susanne? Ich gehe ins Zimmer der Mädchen. Sie sitzt noch immer auf dem Bett, hat sich die Decke wieder umgewickelt und raucht eine Zigarette. Ihre Finger zittern, als sie die Asche abstreicht.
»Gib mir auch eine«, sage ich. Dann setze ich mich neben sie: »Wo ist das Armband?«
Sie zieht mit immer noch zitternder Hand die Nachttischschublade auf und gibt es mir. Ich stecke es ein.
»Aber das hat er mir doch geschenkt!« sagt sie mit einem kläglichen Anflug von Trotz.
»Es ist aus dem Schaufenster vom Schimmelpfennig in Biederstein gestohlen. Wußtest du das nicht?«
»Nein!« Es ist nur ein Stöhnen, sie beginnt wieder mit den Zähnen zu klappern. »Was wird denn nun, um Gottes willen? Was wird denn jetzt mit Fred?«
»Wußtest du auch nicht, daß...« Ich breche ab. Im Haus ist ein Geräusch. Ich knipse schnell das Licht aus, gehe auf die Diele, quetsche mich in die Ecke neben der Tür und ziehe die Pistole. Dann höre ich, daß sich die Hintertür leise bewegt. Wo habe ich bloß die Taschenlampe abgelegt, ich Idiot? Hoffentlich ist es Margot! Aber sie kann doch unmöglich in dem Augenblick schon wieder zurück sein! Dann erkenne ich die Schritte — es ist doch Margot. Ich knipse Licht an, sie fährt zusammen, lacht: »Sie ruht sanft!«
»Wie ist denn das möglich, daß du schon wieder da bist?«
Sie läßt atemlos den Mantel fallen, ich hebe ihn auf, um ihn an die Garderobe zu hängen. Als ich mich aufrichte, umarmt sie mich und preßt ihren Kopf an meine Brust. Ein paar Sekunden bleiben wir so, während ich ihr übers Haar streiche. Dann drückt sie sich ab. »Geht schon wieder. Ich bin gerannt, als ob der Teufel hinter mir her wäre! Hinter jedem Strauch hab’ ich den Gorilla gesehen oder den Mühlner.«
Als wir zu dritt wieder im Zimmer sind, hole ich das Armband vor: »Hier, Margot, das nehme ich mit. Damit du im Bilde bist: Es ist aus Schimmelpfennigs Auslage in Biederstein gestohlen.«
Sie starrt entsetzt ihre Schwester an: »Auch das noch! Hast du das etwa gewußt?«
»Nein«, antworte ich für Susanne, »sie hat’s nicht gewußt. Aber was ich dich vorhin noch fragen wollte, Susanne: Hast du gewußt, daß der Gorilla auf dem Ball den Leuten die Brieftaschen gestohlen hat?«
Susanne hat die ganze Zeit dagelegen, die Arme über den Augen, jetzt richtet sie sich auf: »Nein! Ich schwöre es!«
»Gut. Merk dir das gut, ihr müßt es euch beide genau merken: Ihr habt es nicht gewußt, und ihr habt es jetzt erst von mir erfahren! Eventuell müßt ihr das vor Gericht beeiden. Das gilt besonders für dich, Susanne, merk dir das gefälligst!«
Sie wirft sich wieder hin: »Ich kann nicht mehr!«
Margot ist mit einem Satz an ihrem Bett, greift das Wasserglas vom Nachttisch, reißt Susannes Decke hoch und gießt ihr das Wasser ins Bett. Susanne ist mit einem Ruck hoch: »Du bist gemein!« Und dann fängt sie an zu heulen. Ich packe sie an der Schulter und rüttele sie: »Hör auf, zum Donnerwetter, und beantworte mir meine Fragen! Wir haben vielleicht nur noch ein paar Augenblicke Zeit, bis der Mühlner kommt. Ich muß wissen, was los ist, damit ich mich danach richten kann. Du wußtest also nichts von dem Diebstahl des Armbandes und des Geldes. Dann wußtest du wohl auch nicht, daß dieser Gorilla ein entflohener Sträfling ist? Wenigstens nehme ich das an.«
»Doch, das wußte ich.«
»Verdammt noch mal!« Ich sehe Margot an: »Wußtest du’s etwa auch?«
Sie zupft ihren Rock zurecht und nickt.
»Ja, seid ihr denn beide total blödsinnig geworden?«
Margot zuckt die Achseln: »Den beiden war ja nicht zu helfen, ihr und dem Fred. Sollte ich sie vielleicht anzeigen? Oder diesen Menschen?«
»Du hättest es auf jeden Fall mir sagen sollen!«
»Er ist ein armer, unglücklicher Mensch, der Walter!« schluchzt Susanne. »Sie haben ihn unschuldig verurteilt. Er war’s gar nicht! Man hat ihn nur in die Falle gelockt, weil seine Schwester sein Geschäft haben wollte! Da haben sie’s ihm in die Schuhe geschoben! Und Fred hat gesagt, man müßte ihn verstecken und verteidigen, wenn nötig, gegen die ganze Welt!«
Einen Augenblick sehe ich sie mir an, wie sie da mit gerungenen Händen und verheulten Augen sitzt, das Haar im Gesicht, ein Haufen dummer, gutgläubiger, unendlich rührender Jugend.
»Dein Fred«, sage ich, »ist ein Rindvieh. Ein aufgeblasener junger Fant, der auf das abgeklappertste Ganovengeschwätz ‘reingefallen ist. Alle sind sie unschuldig, und alle warten sie nur auf einen jungen Helden, der sie rettet. Wo hat Fred den überhaupt aufgegabelt?«
»An der Drachenwand oben, ganz zufällig ist er ihm begegnet, als er eines Tages fotografieren wollte. Und der Walter, der war da in der Nähe mit einem Arbeitskommando auf Außenarbeit. Er hatte dem Aufseher, der eingeschlafen war, die Pistole weggenommen und rannte nun direkt in Fred ‘rein, mit der Pistole in der Hand. Fred sagt, er hätte zuerst richtig Angst gehabt, vor allem auch wegen seines Fotoapparates, den hat der Walter nämlich immer so angeschaut, und überhaupt wegen der ganzen Situation. Walter ist auf ihn zugekommen und hat gesagt: >Ich bin ein durchgebrannter Zuchthäusler, das brauche ich dir wohl nicht erst zu erklären, Bürschchen. Machst du dir in die Hosen?< Darauf hat Fred gesagt: >Nicht im geringsten, finde ich sogar sehr interessant. Kann ich was für Sie tun?< Und da ist der Walter zurückgetreten und hat ihn von oben bis unten angesehen und gesagt: >Na, du machst mir ja Spaß!< Und dann hat er ‘ne lange Weile überlegt und zwischendurch immer wieder Fred so ganz durchbohrend angeguckt, und schließlich hat er gesagt: >Gut, wenn du was für mich tun willst — ich habe dem blöden Kerl, dem Aufseher, auch die Brieftasche geklaut, wollen mal sehen...<, und sie haben nachgesehen und haben über hundert Mark gefunden. Dann hat Fred auch seine Brieftasche gezogen und nachgesehen und hatte noch beinahe fünfzig Mark drin, und sie haben überlegt, daß man dafür schon einen Anzug kriegen kann. Sie haben eine Zigarette zusammen geraucht, und dann hat der Walter Fred die Pistole gegeben und hat gesagt: >Nimm du sie lieber. Wenn sie mich erwischen, ist es besser, wenn ich sie nicht bei mir habe. Und für das Geld kannst du mir einen Anzug besorgen!< Und Fred ist ‘runtergegangen in den Ort und hat einen Anzug besorgt und ‘n paar Hemden von sich und was zu essen und hat das am nächsten Nachmittag dem Walter ‘raufgetragen. Der hatte die Nacht in einer Scheune geschlafen. Die Sachen paßten nicht ganz, aber er konnte wenigstens die Zuchthauslumpen wegschmeißen. Als ich ihn kennenlernte, war er schon ganz gut angezogen, und als wir ihn dann das erstemal richtig trafen, im Café Swing, da hat er mir seine Geschichte erzählt, und ich habe direkt geweint da am Tisch! Und Fred hat gesagt, der Walter sei der erste Mann von seinem eigenen Gang, und er, Fred, hätte der Gesellschaft den Krieg erklärt, und ich würde schon noch sehen, wie schnell und gut das alles gehen würde, und der Walter hat ihn angesehen und auch gesagt: >Ja, Boß, du wirst’s schon schaffen!<«
»Hast du denn nicht gemerkt, wie er innerlich gelacht hat?«
»Gelacht — der Walter?«
»Sei sicher — er hat! So, Kinder, und jetzt Schluß der Vorstellung, es ist allmählich halb fünf, ich muß ‘rüber, sonst merkt die Mama was. Seht zu, daß ihr bei den Eltern vielleicht ‘ne Schlaftablette findet und nehmt die, damit ihr noch etwas schlaft. An sich bin ich gegen so was, wie ihr wißt, aber wenn euch vielleicht nachher der Mühlner in die Zange nimmt, dürft ihr auf keinen Fall unausgeschlafen sein und auch nicht so aussehen.«
Die Rückkehr ins eigene Haus gelingt mir so gut, daß nicht einmal die Hunde wach werden. Ich ziehe mich im Dunkeln aus und krieche unter die Decke, fühle mich völlig ausgeblasen und todmüde, aber ich kann trotzdem nicht schlafen.
Der Mond wandert langsam durchs Zimmer, der dicke bleiche Balken seines Lichts kriecht über den Stollenschrank hinüber bis zur Pendule, und während der ganzen Zeit denke ich nach.
Was soll man nun mit diesem Lümmel Fred anfangen? Sollte einen Nasenstüber bekommen, daß er sein Leben lang daran denkt und zur Wirklichkeit aufwacht. Aber leider muß ich noch mit ihm reden, sonst quatscht er die Sache mit dem Armband und der Pistole aus und reißt mir noch die Mädchen hinein, besonders die Susanne. Eigentlich verdiente auch sie es, mal so richtig bis über die Ohren ‘reinzufallen. Dann sehe ich ihr Gesicht vor mir, den schmalen Kopf, die großen dunkelblauen Augen unter den langen Wimpern, die guten langen Hände. Verdient sie es wirklich? Tut keiner Fliege etwas zuleide, will helfen. Wäre schade, wenn sie hart würde und berechnend und von jener >herben Reife der erfahrenen Frau<, die sehr oft nichts weiter ist als die Unfähigkeit, schlechte Erfahrungen zu überwinden und seiner Linie treu zu bleiben. All diese jungen Menschen — man könnte sich zerreißen und an hundert Stellen gleichzeitig sein, um sie zu schützen oder zu trösten, wenn sie gegen eine Wand rennen oder in eine Grube fallen.
Plötzlich werde ich sehr müde. Aber ich darf nicht mehr einschlafen — wie spät ist es denn? Sechs Uhr. Um acht beginnt im Internat der Unterricht. Waschen, anziehen, Tasse Kaffee machen, irgend etwas finde ich schon zu essen. Der Mama muß ich auch was erzählen — neue Romanidee oder so was. Ganz egal, ob sie’s mir glaubt. Jedenfalls stehe ich am besten gleich auf. Zwei Tassen werde ich mir machen, ganz dick!
Im Internat habe ich gesagt, daß ich Freds Onkel sei und ihn in Familienangelegenheiten dringend sprechen müsse. Nun sitze ich im Wartezimmer. In der Ecke eine Büste des Sokrates, gegenüber eine Jagdszene, schöner englischer Stich. Chippendale-Möbel, das Ganze auf College aufgemacht, mit einem Seitenblick in Richtung der Eltern, die durch dieses honorige, etwas englisch-langweilig stilisierte Milieu dazu veranlaßt werden sollen, ihre Früchtchen hier veredeln zu lassen.
Schritte im Gang. Und dann kommt es, das Früchtchen. Es hat ein blaues Auge, was mich sehr befriedigt und mir bestätigt, daß der Abschied vom Gorilla nicht ganz reibungslos verlaufen ist. Das Früchtchen versucht trotz dieser Gesichtszier seine Haltung zu bewahren: »Es gibt doch immer wieder Überraschungen in der Verwandtschaft! Sind Sie der gute Onkel oder der böse?«
»Jedenfalls als Onkel viel besser, als Sie verdienen.«
»Ich muß doch sehr bitten! Ich...«
»Jetzt setz dich hin. Junge, und halt die Klappe. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Aber...«
»Die Polizei ist hinter euch her. Der Mühlner hat alles ’rausgekriegt.«
Da sackt er zusammen, mit einem Ruck, als ob ihm die Sehnen mit einem Hieb durchschnitten wären, und ist nur noch ein ganz kleiner Junge mit entsetzten Augen und hängender Unterlippe.
»Reiß dich zusammen«, sage ich. »Vor allen Dingen muß uns dran liegen, die Mädels ‘rauszuhalten. Das ist für uns beide Ehrensache. Klar?«
Er bekommt einen Teil seiner Haltung zurück und nickt.
»Na schön. Der Gorilla ist offenbar getürmt. Über kurz oder lang wird man ihn aber fassen. Die Pistole ist verschwunden. Er hat sie jedenfalls nicht mehr. Die Sache mit dem Armband werde ich versuchen in Ordnung zu bringen. Warst du dabei?«
»Dabei? Wobei?«
Ich mustere ihn genau: Die Verblüffung scheint echt zu sein. »Dabei, als er das Armband vom Juwelier Schimmelpfennig in Biederstein stahl.«
Er schließt die Augen und wankt in seinem Stuhl. Seine Lippen sind fast weiß. Dann reißt er sich wieder zusammen: »Er hat mir gesagt, es wäre aus der Hinterlassenschaft seiner Mutter. Seine kleine Schwester hätte es ihm geschickt, heimlich. Dieselbe, die ihm auch das Geld geschickt hat, damit er mir das zurückzahlen konnte, was ich von mir für ihn ausgelegt hatte. Ist... ist das vielleicht auch nicht wahr?«
»Nein. Das Geld hat er gestohlen. Das meiste auf dem Ball im >Königsbräu<. Wann hat er dir das Armband gegeben?«
»Am Freitag, genau vor einer Woche.«
»Hm. In der Zeitung habe ich noch nichts davon gelesen. Aber das beweist nichts. Auf jeden Fall werde ich es dem Schimmelpfennig zurückgeben, ich bin ja Kunde da. Was ich ihm dazu sage, weiß ich allerdings noch nicht.«
Er sieht ganz verfallen aus, aber in dem bißchen, das von ihm übrig ist, lebt noch ein Rest von Trotz: »Warum machen Sie das für mich?«
»Ich mache es gar nicht für dich, sondern für die Mädels, die mir anvertraut sind, und — vielleicht — auch ‘n bißchen für dich. Weil ich auch mal so ‘n Hanswurst war wie du.«
Plötzlich ist er wieder oben, wie ein Korken: »Wieso ist man ein Hanswurst, wenn man...«
Ich lege ihm die Hand auf den Arm: »Jetzt hör mal gut zu! Diese Touren, die du mir da erzählen willst, kenne ich. Ich weiß auch genau, warum du dich mit dem Kerl eingelassen hast. Du hattest Angst vor ihm. Aber noch größer war deine Angst, dich zu blamieren, und da hast du die Angst einfach überkompensiert und in gönnerhaftes Heldentum transponiert. Das ist aber kein echtes Heldentum. Echtes Heldentum gibt es! Zum Beispiel im Krieg, wenn man seinen verwundeten Kameraden rettet und dabei die eigene Haut aufs Spiel setzt. Und dann gibt’s ein noch viel größeres Heldentum, das allerhöchste, und das ist, mit dem Alltag fertigzuwerden, anständig, verstehst du? Ich habe Männer gekannt, die als einzelne ein ganzes Maschinengewehrnest gestürmt oder zwölf feindliche Flugzeuge abgeschossen haben und dann bei dieser höchsten Probe der Tapferkeit glatt versagten! Das ist eine Tapferkeit, weißt du, für die gibt’s keine Orden, und bei der gibt’s gar nichts Dramatisches zu holen. Dieses Heldentum ist überall rund um uns herum, in jeder Mutter, die ihre Kinder anständig durchbringt, in jedem Mann, der bis zum letzten Schnaufer für seine Familie arbeitet — vielleicht wirst du auch mal so ‘n Held, so ein wirklicher. Aber vorläufig bist du eben nichts weiter als ein Hanswurst, der im Begriff steht, seiner Familie furchtbaren Kummer zu machen. Womit wir bei den geklauten Brieftaschen wären:
Die Polizei wird dich natürlich für mitschuldig daran halten. Ganz abgesehen davon, daß du einen entflohenen Sträfling bewußt unterstützt hast. Wie ich das geradebiege, weiß ich nicht. Ich weiß ja gar nicht mal, ob das mit dem Armband klappt. Aber dabei habe ich zumindest eine Chance. Vor allem müssen wir sehen, daß dich die Polizei nicht gleich jetzt in die Zange nimmt. Paß auf. Entweder lassen wir deine Mutter kommen und gleich einen Rechtsanwalt dazu (er beginnt wieder zu zittern), oder noch besser, du rufst zu Hause an und sagst, sie möchten dir sofort ein Telegramm schicken, daß du heimkommen müßtest. Und dann gestehst du ihnen alles und bist zum erstenmal richtig mutig, verstanden? Dann können die sich einen Rechtsanwalt nehmen und die Sache ein bißchen hinschleppen. Hast du noch Geld bei dir? Nein — nicht dieses Geld! Hier hast du zwanzig Mark. Fahr gleich aufs Postamt und melde ein Blitzgespräch an. Ich halte dich auf dem laufenden. Und noch eins: Unter keinen Umständen erwähnst du mir mit einem Sterbenswort die Mädchen, und wenn sie dich umbringen und es dich den Kragen kostet. Verstanden?«
Er reicht mir die Hand, offenbar ungewiß, ob ich sie nehmen werde. »Das verspreche ich Ihnen!«