55. Kapitel
2009, irgendwo über dem Atlantik
Ondragon steckte seinen Talisman zurück in die Hosentasche, stellte die Rückenlehne seines Firstclass-Sessels nach hinten und nahm einen Schluck von dem Champagner, den eine brünette Stewardess ihm soeben mit einem blendenden American-Beauty-Lächeln serviert hatte. Ihre Grübchen waren bezaubernd, ihr Hintern auch. Er sah ihr durch den Gang hinterher. Das Flugzeug hatte den Kontrollbereich von Halifax verlassen und drehte seine Nase in einem langen Bogen nach Osten. Bald würden die zerklüfteten Küsten von Grönland in Sicht kommen, dann Island und dann die flachen, grünen Marschen von Hollands Niederungen. Danach wären es nur noch zweieinhalb Stunden, bis er in Berlin-Tegel landen würde.
Er hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal keinen Rückzieher zu machen. Seine Eltern erwarteten ihn, er hatte es endlich geschafft, mit seiner Mutter zu telefonieren. Er wusste jetzt, worüber er mit ihnen reden wollte: Per Gustav Ondragon, seinen Bruder, der damals bei dem Unfall in der Bibliothek des Vaters ums Leben gekommen war. Sein Kindergrab befand sich auf dem Berliner Zentral-Friedhof. Ondragon würde es besuchen und sehen, was dann passierte.
Er verlagerte sein Gewicht in dem Sessel, denn ein bisschen spürte er noch immer die Pfeilwunde in seiner Seite. Sie verheilte gut und machte sich prima in der Sammlung seiner Narben. Wer konnte schon von sich behaupten, dass er den Indianern vom Marterpfahl entkommen war? Auf jeden Fall war er seit der Horrornacht im Wald ein strikter Gegner der Bogenjagd! Aber nicht nur die Wunde heilte, auch das eigenartige Fieber und die daraus resultierenden Alptraumfantasien waren abgeklungen, und nur ab und zu hörte Ondragon die Stimme in seinem Kopf: Du bist einer von uns!
Er schob es auf sein Unterbewusstsein, das sich nicht kontrollieren ließ und die traumtischen Ereignisse noch nicht verarbeitet hatte. Ein wenig unwohl war ihm trotzdem. Unweigerlich glitten seine Gedanken zu Kateri. Seine wunderschöne Jägerin!
Dank der Narbe würde er sie nie vergessen. Genau, wie er die Ereignisse um Dr. Arthur und die Cedar Creek Lodge so schnell nicht vergessen würde. Der bittere Geschmack dieses seltsamen Falles würde noch lange auf seiner Zunge liegen. Ohne Erfolg versuchte Ondragon sich dem Sog der Erinnerung zu entziehen. Wie so oft hatte die Zentrifuge die Initiative übernommen und spielte ihm mit rücksichtsloser Deutlichkeit einen geistigen Videomitschnitt der Geschehnisse vor. Ehe er es sich versah, befand er sich wieder inmitten der Wälder von Minnesota.
Kateri hatte nicht nur einmal gelogen. Ihr ganzes Leben war ein kompliziertes und fragiles Lügengebilde, deshalb war sie auch so entschlossen gewesen, ihn umzubringen. Sie musste dieses Konstrukt schützen, sonst wäre ihre unappetitliche Vergangenheit ans Licht gekommen, und ihr Leben, das sie sich mühsam aufgebaut hatte, wäre unwiederbringlich zerstört worden. Ondragon konnte ihre Beweggründe verstehen. Kateri war verzweifelt gewesen, sie hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Er vergab ihr, aber nur weil seiner Assistentin Charlize keins ihrer wunderschönen Haare gekrümmt worden war.
Die gute alte Charlize. Sie hatte die vereinbarte Zeit abgewartet und, und nachdem er nicht in Orr aufgetaucht war, die besprochenen Maßnahmen ergriffen. Als dann noch dieser dilettantische Sunnyboy Julian bei ihr im Gateway Inn aufgetaucht war, um sie zu entführen, war ihr vollends klar gewesen, dass ihr Chef in Schwierigkeiten stecken musste. Sie hatte Julian mit fast lächerlicher Leichtigkeit überwältigt und ihn in einen Schrank in ihrem Zimmer gesperrt. Danach hatte sie unverzüglich die Polizei und das FBI verständigt, die sie keine Stunde später im Inn abgeholt hatten und mit einer ganzen Kohorte zur Lodge gefahren waren. Ondragon lächelte. Profis waren ihm immer noch am liebsten!
Aufgrund der vernichtenden Beweislage, die er durch seine Notizen und Recherchen zusammengetragen hatte, konnte die Polizei Dr. Arthur und seine mutmaßlichen Mittäter ohne große Umstände verhaften. Das FBI hatte sich daran gemacht, sämtliche Akten des Kannibalen-Doktors sicherzustellen und die Gäste der Lodge angewiesen, ihre Sachen zu packen und sich für Befragungen bereitzuhalten. Sogar Zimmer 20 war geöffnet worden. Und was die Beamten dort vorgefunden hatten, reichte, um den Doc und seine Gang noch hundert Jahre länger hinter Gitter zu bringen. Nr. 20, der Alptraum eines jeden Ermittlers! Das Zimmer war von einem Gästezimmer mit Bett und anderen Annehmlichkeiten in eine Vorratskammer umgewandelt worden. An den Wänden hatten sechs Tiefkühltruhen gestanden, die friedlich vor sich hinsurrten. Die Gesichter der Beamten, die diese Truhen geöffnet hatten, würde Ondragon niemals vergessen. Trotzdem hatte er Nr. 20 betreten und selbst in die Truhen gesehen. Der Gedanke an die in durchsichtige Gefriertüten verpackten Fleischstücke jagte ihm noch immer einen kalten Schauer über den Rücken. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Menschliche Hände, Füße und Köpfe, eingefroren wie Schlachtabfälle, die zu Wurst verarbeitet werden sollten. Auch Oliver Orchid war unter den Toten identifiziert worden, zumindest Teile von ihm. Gleichfalls Mrs. Dana Straub. Man hatte tatsächlich einen Arm von ihr mit lackierten Fingernägeln unter den anderen Monstrositäten gefunden. Also war an der Schauergeschichte von Vernon doch etwas Wahres dran gewesen, und Deputy Hase hatte für Dr. Arthur den Tod der Frau mit dem gefälschten Bericht zu vertuschen versucht. Warum Bates alias Simon Ricks allerdings nicht zu den widerwärtigen Fleischvorräten gezählt hatte, sondern in einem Sumpfgrab gelandet war, würde wohl für immer ein Rätsel bleiben. Ondragon verbuchte das schlicht auf das Konto „amateurhafte Schlamperei“. Solch ein Fehler wäre ihm nicht unterlaufen. Ihm kam in den Sinn, dass Dr. Arthur seinem Untergang leicht hätte entgehen können, indem er zur rechten Zeit einfach ihn, Ondragon, für die Lösung seiner Probleme engagiert hätte. Schließlich arbeitete Ondragon Consulting nicht ausschließlich für die Guten. Doch der Doc hatte ihn herausgefordert, und das war ihm nicht gut bekommen. Der Drache hatte zugebissen!
Als eindeutige Mittäter des Psychotherapeuten konnten neben Vernon und Julian recht schnell Dr. Zeo und Dr. Pollux, Oberschwester Marsha, ein weiterer Krankenpfleger und zwei der Köche dingfest gemacht werden. Ondragon spürte einen Anflug von Übelkeit und trank schnell das Glas Champagner leer. Von der netten Brünetten ließ er sich nachfüllen, konnte sich aber noch immer nicht aus dem Nebel seiner Gedanken befreien. In der Küche der Cedar Creek Lodge war tatsächlich Menschenfleisch zubereitet worden, auch das hatten die Ermittler herausgefunden. Nur für ganz spezielle Gäste. Natürlich.
Das hoffte Ondragon zumindest. Als eindeutig unwissend stellten sich Sheila, der Gärtner Frank, und Carlos, der Oberkellner, heraus. In diesen Punkt hatte Kateri wenigstens einmal nicht gelogen.
Die verschwundene Leiche von Lyme war auf den alten Indianerfriedhof gefunden worden. Wo auch der Kadaver von Rumsfeld auf einem der Holzgestelle versteckt worden war, bis man den Hund für den anderen Zweck enthäutet und ihn als fingierte Wildererbeute an einen Baum aufgehängt hatte.
Leider würde sich auch Hatchets Band nach einem neuen Leadsänger umsehen müssen. Der Deathmetal Musiker hatte ihm das Leben gerettet und war dabei selbst getötet worden. Immerhin hatte Hatchet einen so passend frühen Tod hingelegt, dass durch den Mord die Verkaufszahlen der CDs schlagartig gestiegen waren. Ondragon verspürte eine gewisse Dankbarkeit gegenüber diesem Mann und hatte dessen Verwandten und Freunden versprochen, Hatchet eine standesgemäße Beerdigung auf dem Los Angeles National Cemetery zu spendieren. Schwarze Rosen und ein Totenkopf auf dem Grabstein waren dabei nur zwei der Accessoires des morbiden Geschmacks, den Hatchet an den Tag gelegt hatte. Ihm zu Ehren hatte Ondragon I‘m easy von Faith No More in seine Ewige Musikliste aufgenommen.
Wieder sprang die Platte seiner Rückbesinnung auf Kateri.
Ihre Leiche war nicht gefunden worden. Dafür hatten die Kriminaltechniker literweise Blut, einen von Kateris Schuhen und den Bogen sichergestellt. Auch hatte man unzählige Hautfetzen, Haare und Kampfspuren gefunden und eine Fährte von Fußabdrücken verfolgt, die in den Wald hineinführte, sich aber nach einer halben Meile verlor. Das Blut, die Haare und die Haut stammten zum größten Teil von Kateri, das hatten spätere Untersuchungen ergeben, und die Experten hatten daraufhin erklärt, dass Miss Wolfe wahrscheinlich durch einen Bären (was Dr. Layton bestimmt nicht erfreut haben dürfte) schwere Verletzungen beigebracht worden waren und sie mit größter anzunehmender Wahrscheinlichkeit an dem Blutverlust gestorben sein musste.
Mit größter anzunehmender Wahrscheinlichkeit! Wie das klang!
Ondragon schnalzte missbilligend mit der Zunge, was das fruchtige Bouquet des Champagners zur Entfaltung brachte. Er hätte sich mit dieser Wahrscheinlichkeitseinstufung nicht zufriedengegeben. Auch wenn etwas zu neunundneunzig Prozent sicher war, gab es da noch immer dieses eine Prozent. Ein Prozent Unwahrscheinlichkeit. Trotz seines Einspruchs hatten die Beamten die Suche nach Kateri drei Tage später eingestellt. Für sie war Miss Wolfe tot. Neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit reichten ihnen aus, um sie davon zu überzeugen. Nun ja, Ondragon hoffte, dass sie sich nicht irrten.
Er spürte, dass er müde wurde. Das Brummen des Fliegers und der Champagner taten ihre Wirkung. Doch noch immer hielt sein Geist sich zäh an den Bildern fest. Offensichtlich war das Teil der Aufarbeitung, also würde er es auch zu Ende denken.
Die Familientragödie der Parkers mutete zum Beispiel nicht minder katastrophal an als der Unstern, der über Kateris Leben und Sterben gewacht hatte. Und beides schien auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpft gewesen zu sein. Petes Leiche war auf der Westseite der Blockhütte nur wenige Schritte entfernt gefunden worden. Kateri hatte ihn einen Pfeil in die Brust geschossen. Der Medical Examiner hatte festgestellt, dass der arme Kerl noch eine halbe Stunde lang gelebt hatte, bevor er quälend langsam an seinem eigenen Blut in der Lunge ertrunken war. Um ihn tat es Ondragon tatsächlich ein wenig leid. Der unglückselige Hillbilly war nicht gerade auf Rosen gebettet gewesen, hatte aber tapfer versucht, das Beste daraus zu machen. Ondragon hatte sich auch um dessen einsame Beerdigung gekümmert, denn von Momo war nicht einmal ein Fingerknochen übriggeblieben. Sein Körper war zusammen mit der Hütte verbrannt, von der nur noch der gemauerte Kamin wie ein schwarzes Mahnmal aus den Trümmern aufgeragt hatte. Ondragon hatte das FBI über Momos Taten in der Vergangenheit aufgeklärt, und das Bureau legte den Fall der Parker-Morde zu den Akten.
Blieb nur noch Joel Parker - und das war das einzig Unerklärliche an der ganzen Sache:
der Alte blieb unauffindbar. Die Kriminaltechniker hatten keine einzige Spur von ihm entdecken können, ebenso wenig wie die Spürhunde, mit denen man mehrere Tage lang den Wald durchsucht hatte. Es schien, als hätte Joel Parker, der alte Fallensteller, nie existiert.
Very spooky.
Ondragon trank den Rest seines zweiten Champagnerglases und dachte an das Tagebuch des Lieutenant Stafford. Es war das einzig Greifbare, das ihn jetzt noch an diese verrückte Episode in den Wäldern des Nordens erinnerte. An das dunkle Geheimnis des Wendigo. Vielleicht gab es das Waldmonster wirklich, vielleicht auch nicht. Vielleicht war es doch bloß eine Legende der Indianer.
Bevor sie die Lodge endgültig verlassen hatten, hatte Ondragon Charlize gebeten, das Buch aus seinem Zimmer zu holen. Nun lag es in einem nagelneuen Spezialsafe der Firma Sentry im Keller seiner Villa in L.A. Es war das einzige Buch in seinem Haus und es verursachte ihm trotz seiner hermetischen Verwahrung ein gewisses Unbehagen. Irgendwann würde er es digitalisieren lassen und es einem Museum schenken. Vielleicht würde er es aber auch eines Tages schaffen, das Buch in sein erstes jungfräuliches Bücherregal in seinem Arbeitszimmer zu stellen. Vielleicht. Denn bekanntlich geschahen Wunder ja immer wieder.