34. Kapitel
1835, Fort Frances
Two-Elk war der erste, der sich wieder rühren konnte. Nach dem Ritual waren die vier Männer in einen seltsam erschöpften Schlaf gefallen. Der Indiander stand auf und öffnete die Fensterläden. Die frische Luft, die wie ein kühler Wasserfall zu ihnen hereinfiel, verscheuchte den letzten Nachhall des Stechapfels und die Erinnerungen an den schreienden Schatten.
Lacroix rieb sich die Augen. Er wollte sichergehen, auch das letzte Trugbild fortzuwischen. Dann beugte er sich über Parker. Der alte Fallensteller lag mit friedlichem Gesichtsausdruck da, ganz so als schliefe er. Rote Striemen rund um seine Lippen zeugten von der Tortur mit dem flüssigen Wachs und seine Haut war fast weiß, genau wie seine Haare. Ansonsten wirkte er unverändert. Lacroix berührte ihn an der Wange, sie fühlte sich kühl an, aber nicht mehr unnatürlich kalt. Erleichtert atmete er auf.
Währenddessen rieb sich Stafford stöhnend die Stirn. „Bei allen Heiligen dieser Welt, was war das?“ Fluchend stand er und von seinem Stuhl auf. Doch ihm schien schwindelig zu sein, denn er ließ sich gleich wieder sinken. „Was für ein Teufelswerk!“
„Kein Teufelswerk, Chippewa-Medizin!“, sagte Lacroix lächelnd und zeigte auf Parker. Überrascht sog Stafford Luft ein, als er den alten Trapper sah, der sich inmitten der Unordnung aufrichtete und ihn mit klaren Augen anblickte. Offenbar war der Exorzismus gelungen.
„Das gibt es nicht! Ist er geheilt?“ Stafford sah von Parker zu Two-Elk.
„Ja, ich denke schon.“ Lacroix wandte sich an seinen Freund. „Wie geht es dir, Alan?“
„G-gut.“ Parker sah an sich herunter und befühlte seine Füße, die ihre normale Größe und Form wieder zurückerlangt hatten. „Was ist eigentlich geschehen?“, fragte er schließlich und kratzte sich am Kopf.
Das war er, der gute alte Parker! Er war zurück. Lachend schloss Lacroix seinen Freund in die Arme. „Alan, gesegnet sei der Tag, an dem wir uns begegnet sind! Lass uns deine Genesung mit einer Flasche Gin im Dorf begießen! Und dann nichts wie weg von hier. Ich hab langsam die Nase voll von den Rotröcken!“ Lacroix wollte Parker aufhelfen, doch Stafford hielt ihn davon ab.
„Ihr könnt nicht gehen, erst muss ich diese … diese Sache untersuchen!“
„Ach was, Sie und Ihre Untersuchungen. Wann begreifen Sie endlich, dass man nicht immer alles untersuchen und erforschen kann?“ Lacroix versuchte ruhig zu bleiben. Sie hatten nichts getan und waren schon viel zu lange im Fort eingesperrt. Keinen Tag länger würden sie sich hier festhalten lassen. Sie waren Männer, die die Freiheit liebten. Die Freiheit der unergründlichen Weiten des Waldes.
„Aber, Monsieur …“ Der Lieutenant wollte nach Lacroix‘ Arm greifen, doch da trat Two-Elk von hinten an ihn heran. Er sprach ganz leise, dennoch zuckte Stafford zusammen, als würde jemand in sein Ohr schreien.
„Wenn Bleichgesicht zu laut schreit, kommt der Geist des Waldes wieder. Kitchie Manitou ist stark, er hat den Wendigo besiegt. Er ist ein mächtiger Geist. Aber Weißer Mann muss schweigen, sonst ruft er den Wendigo zurück. Oder will auch er das kalte Schicksal des ewigen Hungers erleiden? Dieses Land ist grausam, und der Wendigo immer wach! Du kannst ihn rufen, wenn du willst.“
„Nein, schon gut.“ Stafford nahm Abstand von dem Chippewa. „Da ist die Tür, Ihr könnt gehen. Ich habe alles, was ich wissen wollte.“
„Merci“, sagte Lacroix grinsend und half Parker auf die Beine.
Schnell packten sie ihre Sachen und verließen den kleinen Raum. Es war mitten in der Nacht und nachdem sie ihre Pferde gesattelt hatten, befahl Lieutenant Stafford den Wachsoldaten am Tor des Forts, die drei Männer passieren zu lassen. Wahrscheinlich würde er sich dafür vor dem Colonel und dem Gouverneur verantworten müssen, aber das war Lacroix herzlich egal. Erfreut atmete der die kühle Luft ein, als sie langsam in die Freiheit des nächtlichen Waldes hinausritten.