29. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Nachdem er den Vormittag im See schwimmen gewesen war, nachmittags ein Gespräch mit Dr. Reto Pollux über eine mögliche zusätzliche Therapieeinheit geführt und sich mit Vernon für den Abend auf eine Partie Basketball verabredet hatte, entspannte sich Ondragon bei einer Flasche kaltem Mineralwasser und einer Ausgabe der National Geographic auf einer Liege, die mitten auf dem frisch gemähten Rasen hinter dem Hauptgebäude stand. Ein Baum spendete ihm Schatten, und allmählich schien die beruhigende Atmosphäre der Lodge ihre Wirkung auf ihn zu entfalten, auch wenn der Fall mit der Leiche im Wald noch immer in seinem Hinterkopf herumspukte. Aber eigentlich, so musste er sich eingestehen, war es überhaupt nicht seine Aufgabe, sich darüber Gedanken zu machen. Darum kümmerte sich die Polizei, und er sollte sich besser auf das konzentrieren, weshalb er hier war: die Therapie.
Sein Handy vibrierte. Er sah unauffällig nach, das Magazin als Tarnung darübergelegt. Es war eine SMS.
Bin in Orr im Gateway Inn. Hatte eine gute Reise. Ganz schön gruselig hier ;-) Über Orchid habe ich nur herausgefunden, dass er seit April nicht mehr in Toronto wohnt. Angeblich ist er nach Europa gezogen, vermutlich Frankreich. Werde mich gleich um Bates‘ Nachbarn kümmern. Gruß, Charlize. PS: sieh mal in dein Postfach. Habe dir noch mehr Material zu den Parker-Morden geschickt. Mr. Hurley war sehr hilfsbereit.
Charlize war ganz schön schnell. Aber sie hatte schon immer von jetzt auf gleich verreisen können, das machte ihr nichts aus. Ondragon sah in sein Postfach und öffnete die Mail. Sie enthielt zwei Anhänge. Der erste war ein weiterer Zeitungsartikel aus dem Archiv der Stadt Cook vom 03.07.1997:
ORR JAGT KILLERBÄR, von Michael Strauss
Orr, St. Louis County. Das ganze Städtchen Orr ist auf den Beinen, aber nicht, um Touristen zum Angeln zu fahren oder Barbecues auszurichten, es befindet sich auf der Jagd. Jeder, der eine Feuerwaffe halten kann, nimmt an der Hatz auf den Killerbären teil, von dem es heißt, er habe vor mehr als einem Monat eine Familie in ihrer einsamen Hütte im Wald getötet. Das FBI ermittelt noch immer wegen des Mordes, doch die Einwohner von Orr sind sich sicher: Es war ein Bär. Und deshalb schritten sie jetzt zur Tat. Am gestrigen Sonntag organisierte der Sohn des Bürgermeisters, Matthew Coon, eine Treibjagd, bei der mehr als hundert Freiwillige mitmachten. Bis an die Zähne bewaffnet durchkämmten sie ein vier Quadratmeilen großes Gebiet nördlich von Orr, wo sich die Hütte der Opfer befindet. Ein Wanderer habe dort drei Tage zuvor einen besonders großen Bären gesichtet. Einzig Dr. Jill Layton, Direktorin der Forschungsabteilung von der American Bear Association, ansässig in Orr, versuchte die illegale Aktion der Bürger zu stoppen. Die Schwarzbären rund um das Vince Shute Sanctuary stünden unter Naturschutz und außerdem sei es noch nicht erwiesen, dass es tatsächlich ein Bär gewesen sei, der die Familie Parker getötet hat. Die Verhaltensforscherin beschuldigt das FBI, diese Diskussion unnötig angeheizt zu haben. Durch die Zurückhaltung von Informationen über den Mord seien die Bären unberechtigterweise unter Verdacht geraten. Sie verlangt eine klare Aussage darüber, ob es nun tatsächlich Bisswunden an den Leichen des Ehepaares Parker gegeben hat und von welchem Tier sie stammen. Die Bären des Naturreservats, das seit 1995 nordwestlich des Pelican Lake besteht, sind Teil einer aufwendigen Studie, die den Wissenschaftlern mehr über die Verhaltensweisen der Tiere verraten soll. Laut Dr. Layton sind die Bären gleichfalls eine beliebte Attraktion von Orr und locken jedes Jahr viele Touristen an. Die Bewohner von Orr geben jedoch gerade der American Bear Association die Schuld am Tod der Parkers, da die Bärenpopulation in der Region seit der Gründung des Reservates erheblich gestiegen ist - ein Konflikt, der gestern zu einem traurigen Höhepunkt kam. Der wütende Mob von schießwütigen Bürgern war nicht aufzuhalten. Am Ende des Tages gab es zwei Abschüsse: einen Schwarzbären, der einen Sender der ABA um den Hals trug, und einen zweitausend Pfund schweren Grizzlybären, der in dieser Region äußerst selten vorkommt. Für Dr. Layton ist klar: Hier wurde nur ein Sündenbock gesucht und gefunden. Sie kündigte an, diese gesetzeswidrige Jagd und das Nichteinschreiten der Polizei an höchster Stelle zur Anzeige zu bringen. Die Bürger von Orr sind indes zufrieden, für sie ist der Grizzly der Killer. Sie hoffen jetzt auf einen ruhigen Ausklang der Sommersaison mit vielen begeisterten Touristen.
Wenn das mal nicht ein dickes Ding ist, dachte Ondragon. Der Fall wies eine unübersehbare Ähnlichkeit mit der Leiche im Wald auf. Warum war bis jetzt noch niemand darauf gekommen? Oder war Dr. Layton nur deshalb bissig wie ein Straßenköter, weil sie eine erneute Panikmache gegen ihre Bären witterte? Und Pete? Warum hatte der sich noch nicht zu Wort gemeldet? Neben Dr. Layton müsste er die Analogie der beiden Fälle doch am ehesten erkennen, schließlich war er ein direkter Leidtragender der Parker-Morde.
Ondragon nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und öffnete den zweiten Anhang der Mail. Er enthielt ein mehrseitiges FBI-Formular in Form eines pdf-Dokumentes, ähnlich einem offiziellen Berichtsbogen des Sheriffbüros, das alle Angaben zu den Parker-Morden enthielt. Es war nicht viel Neues darin zu lesen, nur die Liste mit den damals verdächtigten Personen:
Die Söhne: Peter und Mortimer Parker: gemäß Befragung durch Beamte des FBI und psychiatrischem Gutachten ausgeschlossen
Unbekannter Killer regional/ überregional: keine Verbindungen zu anderen Morden gefunden, offen
Bekannter/Verwandter von Louisa und Herman Parker: nach eingehenden Befragungen des Umfeldes ausgeschlossen
Wildes Tier: Bär/ Wolf/ Puma: nach Untersuchung durch einen Experten ausgeschlossen
Unbekanntes Wesen: offen
Unfall: laut kriminaltechnischer Untersuchung ausgeschlossen
Die folgenden Seiten des Dokumentes beschäftigten sich mit der detaillierten Beschreibung des Tatortes sowie des Zustandes der Leichen zum Zeitpunkt des Auffindens und der Autopsie, die sich las wie das Tagebuch eines Metzgers. Ondragon zogen sich die Eingeweide zusammen. Und das hatten die Kinder Pete und Mortimer gesehen? Grauenvoll!
Am Ende des Berichtes stand in roten Lettern: Doppelmord nicht aufgeklärt, Ermittlungen mangels verwertbarer Hinweise eingestellt - bearbeitender Agent: Alfred Preston ZR 002. Zeugenaussagen, Fotos und sämtliche Dokumente unter Aktenzeichen 200597MPMN. Ondragon ging davon aus, dass Charlize ihm den Rest der Akte noch besorgen würde und ließ das Handy wieder in seiner Tasche verwinden. Durch die Gläser seiner Sonnenbrille betrachtete er aus der Ferne das beschauliche Szenario auf der Terrasse. Die Models brieten in der Sonne, Mrs. Burlwood pflegte ihren blassen, schwabbeligen Teint unter einem großen Schirm, Johan Norrfoss lag in Badehose auf einer Liege, rauchte und las, Charlie Bloom spielte Karten mit zwei anderen Gästen und Thomasz Viktory trainierte auf dem angrenzenden Tennisplatz, das konnte Ondragon an dem charakteristischen Plopp-Plopp der geschlagenen Bälle hören. Plötzlich ging die Tür zur Terrasse auf, und Kateri trat aus der Lodge in den Sonnenschein, in Jeans und Cowboystiefeln.
Holla, welch knackiger Hintern! Ondragon schob die Sonnenbrille auf die Nasespitze. Kateri blickte sich um und zeigte ein Lächeln, als sie ihn erkannte. Sie kam zu ihm herüber geschlendert, ihre Haare zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die Silberbeschläge an ihrem Gürtel blinkten.
„Howdy! Sie sehen aus, als kämen Sie direkt von einem Rodeo!“, scherzte Ondragon und setzte sich auf.
Kateri studierte kurz das Tattoo auf seiner nackten Brust und entgegnete dann: „Ich komme tatsächlich gerade vom Reiten. Julian und ich haben ein paar Reining-Übungen gemacht.“
Julian und ich! Was die beiden wohl noch so alles zusammen taten?
„Sie können Westernreiten?“ Ondragon versuchte, sich seine Verstimmung gegen diesen Julian nicht anmerken zu lassen. Er verstand sie ja selber nicht.
„Meinen Sie, das sei ungewöhnlich für eine Indianerin? Tja, wir hatten immer Pferde, auch meine Eltern waren begeisterte Reiter. Jetzt komme ich wegen meiner Arbeit leider nur selten dazu. Deshalb genieße ich es, hier ein wenig mit den Pferden arbeiten zu können. Das entspannt.“
Ondragon klopfte neben sich auf die Liege, und Kateri setzte sich zu ihm. Unauffällig warf er einen Blick auf die Terrasse, von wo aus Norrfoss zu ihnen herüber starrte. Dieser Penner! Ondragon wandte sich Kateri zu: „Dann schaue ich Ihnen beim nächsten Mal zu, wie Sie mit den Pferden arbeiten.“ Bewusst sog er ihren Duft ein: ein aufregendes Gemisch aus Leder, Pferden und dem Geruch ihrer Haut.
„Was, nur zusehen?“ Sie lachte und warf sich keck die Zöpfe über die Schulter. „Falls ich Sie daran erinnern darf. Bei unserer ersten Begegnung sagten Sie, dass Sie beim nächsten Mal vielleicht sogar mitmachen.“
„Ich vertraue nur einem Mustang mit Gummifüßen und Durst auf Benzin!“
Nun lachte Kateri noch lauter.
Sie unterhielten sich noch eine Weile und schauten auf den See hinaus, bis Ondragon sich für den Termin bei Dr. Arthur fertig machen musste. Pünktlich um fünf Uhr klopfte er an dessen Tür.
„Ah, Paul, kommen sie rein!“
„Dr. Arthur, ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich unsere Sitzung gestern versäumt habe.“
Der Psychotherapeut machte ein verständnisvolles Gesicht. „Entschuldigung angenommen. Aber was ist geschehen? Ich habe gehört, dass Sie im Wald gestürzt sind und sich böse den Kopf aufgeschlagen haben.“
„Ja, das stimmt. Ist aber wieder in Ordnung.“
„Nun, dann ist es jetzt an mir, Sie um Verzeihung zu bitten, wegen der Unannehmlichkeiten, die Sie hatten. Ich meine die Sache mit dem … nun ja, Hundekopf auf Ihrem Balkon. Ich kann Ihnen versichern, dass ich die Sicherheitsmaßnahmen rund um die Lodge erhöht habe. Es gibt demnächst einen Elektrozaun, der den Bären abhalten soll, das Gelände zu betreten. Außerdem kümmert sich Deputy Hase um die Angelegenheit und er nimmt sie sehr ernst.“
Ondragon winkte ab. Er war das Thema leid. „Von mir aus können wir jetzt mit der Sitzung beginnen.“
„Gern.“
Ondragon nahm auf der Liege Platz, und Dr. Arthur setzte sich auf den Stuhl daneben.
„Letztes Mal sind wir zu dem Ort zurückgekehrt, an dem Ihre Angst begonnen hat. Ich möchte jetzt, dass wir das wiederholen, um noch weitere Details über das Geschehen sammeln zu können. Wie Sie sich erinnern, war etwas unklar, es schien, als gäbe es da noch eine Person in Ihrer Erinnerung, außer ihrem Vater und Ihrer Mutter. Dem will ich auf den Grund gehen. Und nun entspannen Sie sich, Paul. Nachher können wir über das reden, was bei der Hypnose zu Tage gekommen ist. Denken Sie an die Farbe …“
Ondragon dachte an das Tannengrün und tauchte augenblicklich in den Zustand ab, den man als ein Schweben in einer diffusen Zwischenwelt beschreiben konnte. Man war nicht im Hier und auch nicht ganz im Dort, man war ein Beobachter aus der Ferne, und doch geschah einem alles selbst und ganz hautnah. Angst hatte er jedoch keine. Er fühlte sich sogar erstaunlich gelöst, als er sich in der Bibliothek seines Vaters stehen sah und den pulsierenden Herzschlag Kairos unter den Füßen spürte, so als sei er leibhaftig dort.
Als er aus der Hypnose erwachte, konnte er sich an nichts erinnern. Mit Schweiß auf der Stirn setzte er sich auf. „Was …?“
„Ruhig, Paul. Sehen Sie mich an.“
Verwirrt wandte Ondragon den Kopf und blickte in die gelben Augen.
„Sehen Sie mich an! Ich bin Ihr Vater. Was möchten Sie mir sagen?“
Ondragon spürte, wie er Luft holte. Er sah den zehnjährigen Jungen, der von seinem Vater übertrieben hart bestraft wurde. Wut kochte in ihm hoch, und Tränen brannten in seinen Augen. „Du bist Schuld!“, knurrte er. „Du bist Schuld, alter Bastard!“
„Woran bin ich Schuld?“, fragte das Gesicht seines Vaters.
„An … an …“ Plötzlich drängte sich ein undeutlicher Schemen in sein Blickfeld. Ein Mensch? Wenn ja, wer war es? Oliver Orchid? Pete? Nicht doch, jetzt hatte er es: das Wesen wechselte ständig seine Gesichter. Es schlich durch den Wald, holte mit einem Arm weit aus und … nein, es öffnete sein Maul …
„Der Mörder, du bist der Mörder“, flüsterte er schließlich.
„Ich bin ein Mörder?“, fragte das wechselnde Gesicht.
„J-ja, du hast den Mann draußen im Wald getötet und … und …“
Es ertönte ein Schnippen, und Ondragon wachte ganz auf. Blinzelnd sah er Dr. Arthur an.
„Was ist los?“
Der Psychotherapeut breitete die Arme aus. „Wir waren kurz davor, Ihr Geheimnis zu lüften, doch dann hat Ihr Unterbewusstsein sich schützend davorgeschoben. Das geschieht manchmal, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft sind. Dabei funktioniert das Unterbewusstsein wie ein Polizist, der unerwünschte Reminiszenzen sofort verbietet und ins Verlies sperrt. Ich bin jetzt sicher, dass an jenem Tag in der Bibliothek noch etwas anderes geschehen ist. Etwas, das Sie so stark verdrängen, dass es nicht einmal mit der Hypnose zu erreichen ist. Wir müssen auf anderem Wege versuchen, an den Schlüssel zu gelangen, den Ihr Gedankenpolizist versteckt hält. Mit diesem Schlüssel - das kann ein Wort sein, ein Bild, eine Farbe, ein Geruch, eben alles, was ein Mensch gedanklich verknüpfen kann - mit diesem Schlüssel werden wir Ihre Erinnerungen befreien. Und danach sind Sie bereit, Ihre Angst rational zu verarbeiten, der erste große Schritt im Kampf gegen Ihre Phobie. Eine Frage habe ich allerdings noch. Sprechen Sie eigentlich manchmal mit Ihrem Spiegelbild?“
Ondragon runzelte die Stirn. „Meinen Sie, ob ich mit mir selbst spreche?“
„Nein, ich meine, ob Sie mit Ihrem Spiegelbild sprechen.“
Ondragon überlegte. Wo war da der Unterschied? Er fasste sich an die Stirn, fühlte sich, wie in Watte gepackt. Sein Kopf war seltsam leer, ganz im Gegensatz zum letzten Mal, als ihm nach der Hypnose die Gedanken wie Unkraut aus sämtlichen Gehirnwindungen gesprossen waren. Er versuchte, sich zu konzentrieren und kam zu dem überraschenden Schluss, tatsächlich des Öfteren mit seinem Spiegelbild zu reden. Er nickte. „Jetzt, da Sie mich darauf ansprechen … es stimmt. Aber was soll das mit meiner Phobie zu tun haben?“
„Nun, ich habe einen gewissen Verdacht, was den Zwischenfall in der Bibliothek anbelangt, aber den möchte ich vorerst für mich behalten. Ich will Sie nicht in eine möglicherweise falsche Richtung beeinflussen, das müssen Sie verstehen.“ Dr. Arthur steckte den silbernen Kugelschreiber in die Brusttasche seines Kittels. „Sie bekommen jetzt noch eine Hausaufgabe von mir. Und zwar wäre es hilfreich, wenn Sie versuchen würden, sich morgen früh an das zu erinnern, was Sie geträumt haben. Träume spielen in der Psychoanalyse eine wesentliche Rolle. Konzentrieren Sie sich auch auf Gefühle und Stimmungen nach dem Aufwachen, schreiben Sie sich auf jeden Fall alles auf. Viele Menschen vergessen sofort, was sie geträumt haben. Ich möchte mit Ihnen morgen darüber sprechen, ja?“
Ondragon nickte erneut.
„Und falls Ihnen tagsüber irgendwelche ungewohnten Erinnerungen oder Flashbacks kommen, vielleicht aus Ihrer Kindheit, so notieren Sie sich diese ebenfalls. Die Hypnose ist wie ein Pflug, sie bricht die oberste Kruste Ihrer Erinnerungen auf und bringt alte Gedanken wieder zurück an die frische Luft.“
Ondragon bewunderte Dr. Arthur für seine Metaphern. Sie waren zwar nicht besonders poetisch, dafür aber gut verständlich. Er verabschiedete sich von dem Psychotherapeuten und verließ das Sitzungszimmer.
Als er am Abend unter die Laken seines Bettes kroch, legte er sich gewissenhaft seinen Notizblock bereit, um darin seine Träume aufzuschreiben. Dann zog er sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Er war hundemüde. Vernon hatte ihm auf dem Basketballplatz ganz schön zugesetzt. Der Masseur war trotz seiner massigen Gestalt ein sehr beweglicher Spieler und ziemlich treffsicher, und Ondragon hatte alle Mühe gehabt, sich gegen den Koloss zu behaupten. Doch Basketball zählte nun einmal zu den Dingen, die er wirklich gut konnte, und so hatte er die Sache am Ende mit einem 3-Punkte-Wurf klar gemacht. Vernon war ein guter Verlierer und hatte ihn anschließend noch auf einen Drink auf der Terrasse eingeladen, wo sie schwitzend den Sonnenuntergang betrachtet hatten. Danach war er unter die Dusche gegangen und lag nun im Bett. Doch der Schlaf wollte trotz, oder gerade wegen der Erschöpfung nicht kommen. Ondragon wälzte sich von einer Seite auf die andere und spürte hier und da Blessuren vom robusten Ballspiel in seinen Gliedern pochen. Er war eben doch nicht mehr der Jüngste.
Nach einer Weile schlaflosen Herumwälzens, beschloss Ondragon, wenigstens ein wenig nachzudenken, wenn er schon nicht einschlafen konnte. Im Dunkeln öffnete er die Augen und starrte an die Decke, während er die Geschehnisse des Tages gemütlich in der Zentrifuge kreisen ließ. Die unerwünschte Intervention des Terrorduos Shamgood/ Norrfoss war dabei entschieden das Unangenehmste gewesen. Seine Mutter, eine Agentin! Was hatte die beiden Spinner nur dazu getrieben, solch einen Nonsens zu behaupten? Trotzdem wühlte diese Angelegenheit tief in seinem Innern. Ondragon schloss die Augen und versuchte sich an die Hypnose zu erinnern, doch die Bilder blieben verschwommen. Dr. Arthurs Worte hingegen klangen ihm noch deutlich in den Ohren. Der Doc war sich sicher, dass noch mehr hinter dem Vorfall in der Bibliothek steckte außer dem Bergrutsch aus Büchern. Nur, was sollte das sein? Ondragon streifte durch seine Erinnerungen wie ein Tiger durch den Dschungel, aber er sah immer wieder nur die Tonnen von Büchern vor sich, die auf ihn herabstürzten, und seine weinende Mutter. Doch noch während er sich fragte, warum sie so traurig war, geschah plötzlich etwas Sonderbares: Ein Schatten materialisierte sich neben seiner Jungengestalt, die unter den Büchern begraben lag. Es sah aus wie eine dichte Wolke aus winzigen, schwarzen Fliegen. Einen Moment lang schwebte sie lautlos über den zusammengestürzten Büchern und verschwand dann in einem großen Spiegel, der jetzt an der Wand hing, wo vorher noch das Bücheregal gestanden hatte. Ondragon blickte gebannt in den Spiegel und erkannte darin sich selbst. Sein Mund öffnete sich, als wolle er sich selbst etwas mitteilen. Seine Lippen formten das Wort „Du“ und „Mörder“, und eine Hand hob sich und zeigte auf ihn. Aber noch bevor Ondragon sich dessen bewusst werden konnte, dass nur sein Spiegelbild die Hand gehoben hatte, nicht aber er, verwandelte sich sein Ich im Spiegel in ein zotteliges Monster mit rotglühenden Augen. Erschrocken prallte er zurück und fiel auf den Rücken. Geifer lief der schauerlichen Kreatur aus dem Maul, und in einer Klaue hielt sie Rumsfelds blutigen Kopf. Sie bewegte sich mit abgehackter Gewandtheit, unnatürlich wie ein Untoter in einem schlechten Zombiefilm - irgendwie lächerlich und doch gefährlich! Dann drehte sie den Kopf ruckartig in Ondragons Richtung und fixierte ihn mit sengendem Blick. Ein bösartiges Fauchen drang aus ihrer Kehle. Entsetzt starrte Ondragon auf den Spiegel und hoffte, dass das Monster dort gut eingesperrt wäre.
Doch das war es nicht. Die Bestie holte kurz Schwung, sprang durch das Glas des Spiegels, als sei es eine nachgiebige Membran, und landete lautlos neben seinem Bett. Wie gelähmt lag Ondragon da, das Wesen wie ein haariger Muskelberg über ihm. Beißender Gestank wehte ihm entgegen und raubte ihm den Atem.
Die Pistole!, schoss es ihm durch den Kopf. Doch sogleich starb jede Hoffnung. Die Waffe lag im Tresor, und das Monster stand genau zwischen ihm und dem Safe. Es richtete sich auf seinen stelzenartigen Hinterbeinen zu seiner vollen Größe auf und stieß dabei mit dem Kopf an die Zimmerdecke. Rot glühten die Augen aus der unförmigen Masse seines Schädels, und der Gestank, der seinem Fell entströmte, betäubte Ondragons Sinne. Bereit, jeden Moment aus dem Bett zu schnellen, krallte er seine Finger in das Laken. Doch das Monster rührte sich nicht.
„Was willst du?“, warf Ondragon dem unheimlichen Besucher entgegen.
Die Bestie blieb starr. Doch dann neigte sie den Kopf zur Seite und sah ihn durchdringend an. Zuckend bewegten sich die Sehnen unter ihrem räudigen Fell.
„Was willst du von mir?“ Sämtliche Fasern in Ondragons Körper waren gespannt und steinhart. Würde er gegen dieses Vieh überhaupt eine Chance haben?
Der Wendigo hob einen seiner grotesk langen Arme und holte aus. Ondragon biss die Kiefer zusammen, als er die scharfen Zähne der Bestie im Mondlicht aufblitzen sah. Einen Augenblick zitterte der behaarte Arm in der Luft, bevor er sich mit einem Knurren senkte. Im gleichen Moment zog Ondragon den Kopf ein und rollte sich zur Seite. Doch nicht die Klauen des Wendigo gruben sich neben ihm in die Matratze, sondern ein Gegenstand, von dem er annahm, es sei Rumsfelds Kopf. Mit einem lauten Klatschen landete er auf dem Bett. Als Ondragon wieder aufblickte, war der drohende Schatten der Kreatur verschwunden, nur die Vorhänge bewegten sich vor der offenen Balkontür im Wind. Vorsichtig setzte er sich auf und sah sich im Zimmer um. Er war allein. Dann fiel sein Blick auf den Kopf, der neben ihm auf dem Kissen lag, und sein Herz blieb stehen!
Noch während er aus diesem schrecklichen Traum erwachte, hörte Ondragon sich selbst schreien - ein heiserer, urtümlicher Laut, der langsam in der Stille des Zimmers verebbte. Heftig atmend fuhr er sich über das Gesicht. Oh, Mann, was für ein beschissener Alptraum! Noch immer hing das Bild von dem abgetrennten Kopf vor seinem inneren Auge. Aber es war nicht der struppige Hundeschädel gewesen, der ihn mit totem Blick angesehen hatte, sondern der eines Menschen. Der Kopf seines Spiegelbildes! Sein eigener Kopf!
Abartig, was das Unterbewusstsein mit einem anstellte, dachte er und wollte gerade das Licht anknipsen, um nach dem Notizblock zu suchen, da ertönte ein lautes Poltern von draußen. Senkrecht fuhr Ondragon aus dem Bett und lauschte.
Das Poltern wiederholte sich nicht, dafür fiel ihm auf, dass die Balkontür offen stand, genau wie in seinem Traum. Das Beunruhigende daran war jedoch: Er hatte sie geschlossen, bevor er ins Bett gegangen war! Ganz bestimmt. Ohne das Licht anzuschalten, ging Ondragon zum Tresor und holte seine Waffe heraus. Dann trat er, die Pistole im Anschlag, an die Balkontür. Er atmete einmal tief ein und sprang schließlich durch die Vorhänge hinaus in die Nacht. Blitzschnell registrierten seine Sinne jedes einzelne Detail auf dem Balkon: den Liegestuhl mit den hellen Polstern, den Tisch, auf dem immer noch eine leere Flasche alkoholfreies Budweiser stand, die hölzerne Balustrade mit den Blumenkästen und die Laterne an der Wand, die er hätte einschalten können. Jeder Schatten war auf seinem Platz, nichts bewegte sich, und es lag auch keine böse Überraschung auf den Dielen. Ondragon warf einen Blick von der Balustrade nach unten. Leichte Windböen wehten um seine Nase, und irgendwo zirpten ein paar Grillen im Gras. Alles wirkte friedlich.
Erleichtert ließ er die Waffe sinken. Wahrscheinlich hatte er die Balkontür nicht richtig geschlossen, und eine Böe hatte sie aufgedrückt, was den lauten Knall erklärte, von dem er aufgewacht war. Eigentlich konnte er der Tür dankbar sein, dass sie ihn so gnädig aus dem Alptraum gerissen hatte.
Er ging wieder nach drinnen und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Erneut hob er seine Waffe, dabei fiel sein Blick auf einen hellen Fleck, der auf dem Boden vor der Zimmertür lag. Es war ein gefalteter Zettel. Er hob ihn auf. Drei Sätze in ungelenken Druckbuchstaben waren mit einem Kuli darauf geschrieben worden:
ICH WEISS, DASS DU HIER HERUMSCHNÜFFELST!
HÖR AUF DAMIT!
SONST ERGEHT ES DIR WIE DEM HUND!
Nachdenklich ließ Ondragon den Zettel sinken. Ganz klar eine Warnung. Doch von wem kam sie? Oliver Orchid? Pete? Die holperige Schrift würde zu dem Hillbilly passen. Ondragon steckte den Zettel in die Tasche seiner Jeans, er würde das Gekrakel einer Schriftprobe unterziehen, dann hätte er sehr schnell heraus, wer das geschrieben hatte. Der Kreis der Verdächtigen war ja zum Glück recht überschaubar. Er wollte sich gerade in sein Bett zurücklegen, da fiel sein Blick erneut auf einen Gegenstand, der die gewohnte Ordnung in diesem Raum störte. Er lag auf seinem Kopfkissen - da, wo er vor nicht einmal fünf Minuten noch geschlafen hatte. Und diesmal war er sich sicher. Er war nicht alleine im Zimmer!