27. Kapitel

 

2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge

 

Am nächsten Morgen erwachte Ondragon um sieben Uhr, ging gleich zum Frühstück und ließ in aller Ruhe den gestrigen Abend Revue passieren. Er hatte sich mit Kateri bis spät in die Nacht unterhalten. Ja, unterhalten! Weiter nichts. Dennoch war es sehr anregend gewesen, denn sie hatte viel von sich erzählt, von ihren Eltern und ihrer Forschungsarbeit an der University of Minnesota. Ihr Vater, John Wolfe, war ein anerkannter Biochemiker gewesen und ihre Mutter, Alannah Star Dancer Wolfe, Ethnologin. Beide hatten trotz ihrer modernen Berufe die indianische Tradition gelebt und es verstanden, Brauchtum und Moderne so miteinander zu verbinden, dass sie sich nicht gegenseitig widersprachen. Deshalb kannte sich Kateri im Labor zwischen ihren technischen Geräten genauso gut aus wie draußen im Wald. Diese Verbundenheit mit der Welt ihrer Ahnen und dem absoluten Jetzt war das Erbe ihrer Eltern, und fast beneidete Ondragon sie um diese vollkommene Synergie, die sie im Einklang mit ihrer Umwelt leben ließ, egal, wo sie sich gerade befand. Doch mitten auf dieser perfekten Oberfläche ihrer Ausgeglichenheit befand sich auch ein tiefer Riss, das konnte er deutlich spüren. Da war etwas in ihrer Vergangenheit, das diese Synergie immer wieder störte und sie knistern und rauschen ließ wie irritierte Radiowellen. War es der Flugzeugabsturz? Der Tod ihrer Eltern? Oder Schuldgefühle, weil sie als einzige überlebt hatte? Kateri hatte nicht viel von dem eigentlichen Absturz über der kanadischen Tundra berichtet, nur wie sie von einem Search and Rescue Team gerettet wurde und was danach geschehen war. Zu schmerzhaft war dieses einschneidende Ereignis für sie, und die Erinnerungen daran raubten ihr immer wieder die Kraft zum Leben, wie sie es ausdrückte. Dem Leben, wie ihre Eltern es ihr vorgelebt hatten. Wohl deshalb kam sie hierher zu Dr. Arthur. Er verkörperte für sie den Erdvater, der alle Flüsse wieder in Gleichklang brachte. Hier bei ihm, dem alten Freund der Familie, den sie schon seit Kindesbeinen an kannte, fand sie stets zurück zu neuem Mut. Hier bekam sie die stützende Hand, die ihr half, mit ihrem Schicksal umzugehen.

Aus Kateris freimütigen Schilderungen las Ondragon, dass diese Frau nicht nur umwerfend schön, sondern auch äußerst kompliziert war. Doch das machte sie nur umso interessanter für ihn. Er liebte alles Komplizierte.

Blendend gelaunt schüttete er den dreifachen Espresso hinunter und verließ seinen Tisch. Gelassen die Blicke von Shamgood und Norrfoss ignorierend, durchquerte er das Restaurant und begab sich auf die Terrasse in einen ungestörten, sonnigen Winkel. Dort vergewisserte er sich noch einmal, dass ihn niemand beobachtete und fischte dann sein iPhone aus der Hosentasche. Das auf stumm geschaltete Display zeigte eine Mail von Charlize. Er öffnete sie und las:

 

Hey Chef,

 

vorweg schöne Grüße von Dietmar, du bist jetzt notariell beglaubigter Teilhaber einer Ölquelle in Abu Dhabi! Und nun zu deinem Auftrag:

1.) Ich bekomme keinen der ehemaligen Nachbarn von Jeremy Bates an die Strippe. Da ist ständig besetzt, aber ich werde es weiter versuchen.

2.) Den Bericht über das Verschwinden von Mrs. Dana Straub hat ein Deputy Hase unterzeichnet.

3.) Als ich im Archiv der Stadt anrief, sagte man mir, dass der Fall der ermordeten Familie Parker damals vom FBI übernommen wurde. Wenn ich etwas darüber wissen möchte, sollte ich im Büro des Deputy anrufen. Das habe ich getan, und ein äußerst schlecht gelaunter Mr. Hase hat mir erklärt, ich solle mich direkt an das FBI wenden, sie hätten gerade genug zu tun (Etwa dein Killerbär?).

Frage: Wie soll ich nun weiter verfahren?

 

Charlize

 

PS: Im Anhang findest du zwei Zeitungsartikel, die sich mit den Parker-Morden befassen. Das Archiv war so nett und hat sie mir geschickt.

PPS: Halt durch!

 

Bevor Ondragon sich die Zeitungsartikel vornahm, schrieb er eine Antwort an seine findige und fleißige Assistentin:

 

Hi Charlize,

 

am Besten, du setzt dich in den nächsten Flieger nach Minneapolis und kommst mit dem Mietauto nach Orr. Auf dem Weg zum Flughafen kannst du gleich bei einem gewissen George Hurley anrufen. Er ist ein alter Studienfreund von mir und arbeitet zufällig beim FBI. Befrag ihn zu den Parker-Morden. Mir wurde erzählt, dass sie nie einen Mörder gefasst haben. Und forsche doch mal bei den Ärzten ohne Grenzen nach einem Oliver Orchid aus Toronto, der dort gearbeitet haben soll.

 

Guten Flug,

 

Paul

 

PS: Wenn du in der Nähe bist, geht es mir gleich viel besser ;-)

 

Ondragon schickte die Nachricht ab und öffnete die Zeitungsartikel. Es waren zwei jpg-Dateien, die jeweils einen Scan des Berichtes enthielten. Der erste mit dem Datum 21.05.1997 zeigte ein grobkörniges Schwarzweißfoto von der Hütte der Familie Parker mitten im Wald, zumindest konnte man im Hintergrund Bäume und Hügel erkennen. Die Überschrift lautete:

BLUTBAD IN HOLZFÄLLERHÜTTE von Steve Boogle.

Orr, St. Louis County. Eine schreckliche Tragödie hat sich am vergangenen Donnerstag in der Nähe des beschaulichen Holzfäller-Städtchens Orr ereignet. Als der 11-Jährige P. Parker von der Schule nach Hause kam, fand er seine Mutter und seinen Vater tot und auf grausame Weise zerstückelt in ihrem Haus vor, das tief in den einsamen Wäldern von Nord-Minnesota liegt. Mitten in dem Blutbad, das laut Polizei das schlimmste seit dem Ritualmord an einer jungen Frau von 1984 war, saß der jüngere Bruder M. Parker, offenbar vollkommen verstört, und hielt einen abgetrennten Arm seiner Mutter in der Hand. Der Junge selbst war von Kopf bis Fuß blutverschmiert und nicht ansprechbar. Die Polizei geht vorerst nicht davon aus, dass einer der Brüder etwas mit dem Doppelmord zu tun haben könnte. Wer für diese entsetzliche Tat verantwortlich ist, soll eine genaue Untersuchung des Tatortes durch das FBI klären, das gestern Nachmittag den Fall übernommen hat.

 

Ondragon sah sich noch einmal um. Er war noch immer allein in seiner Ecke. Dann erst öffnete er den zweiten Artikel vom 05.06.1997. Er zeigte wieder ein Foto. Diesmal waren drei Personen darauf zu sehen: ein St. Louis County Deputy, ein fetter Typ mit Schnauzbart und ein Mann mit schwarzem Anzug und dunkler Sonnenbrille. Die Bildunterschrift lautete: Deputy Schoenfield, Dean Coon, Bürgermeister von Orr, und Special Agent Preston, FBI. Deputy und Bürgermeister blicken ratlos in die Kamera, während das Sonnenbrillengesicht des FBI-Agenten nichts als Coolness verriet. Ein Klassiker, wie der Artikel selbst auch:

 

WAHNSINNIGER MÖRDER ODER KILLERBÄR? - PARKER-MORDE NOCH IMMER NICHT AUFGEKLÄRT von Steve Boogle.

Orr, St. Louis County. Das FBI tappt im Dunkeln - Sommersaison am Pelican Lake in Gefahr? Noch immer herrscht Unklarheit darüber, wer der Mörder eines Ehepaares ist, das vor zwei Wochen tot aufgefunden wurde. Die beiden Söhne der Verstorbenen gaben an, die verstümmelten Leichen ihrer Eltern entdeckt zu haben, nachdem sie aus der Schule heimkehrten. Sie befinden sich derweil in psychologischer Betreuung.

In einer Pressekonferenz im Gemeindezentrum von Orr, wo das FBI ein provisorisches Büro eingerichtet hat, erklärte Special Agent Preston (Foto), die Ermittlungen seien in vollem Gang, und man hoffe, noch in diesem Monat zu einem Ergebnis zu kommen. Nähere Umstände zur Tat könne er leider nicht nennen, da es sich um ermittlungsrelevantes Täterwissen handele, auch würde der Kreis der Verdächtigen noch unter Verschluss gehalten. Die beiden Brüder stünden allerdings nicht unter Mordverdacht. Das kursierende Gerücht, ein wilder Bär sei in das Haus der Parkers eingedrungen und habe sie getötet, wurde von Special Agent Preston weder bestätigt noch dementiert. Dafür bat er die Bürger von Orr weiterhin um Mitarbeit. Zeugen könnten sich im Büro des FBI im Gemeindezentrum melden, denn jeder noch so kleine Hinweis könnte entscheidend sein.

Auch der Bürgermeister von Orr, Dean Coon (Foto), spricht seine Sorge über den Verlauf der Mordermittlungen aus. Heute beginnt am Pelican Lake offiziell die Feriensaison und viele Sommergäste werden erwartet. Er appellierte an alle Verantwortlichen, ihr Bestes zu geben und einen reibungslosen Ablauf des Fremdenverkehrs zu gewährleisten. Gleichfalls warnte er vor unnötiger Panikmache. Die Straßen und das Umland von Orr seien sicher und man warte positiv gestimmt auf die Gäste. Der kleine Ort Orr ist eine Durchgangsstation zum berühmten Voyageurs National Park, den jährlich über 200.000 Naturbegeisterte besuchen.

 

 

Das ist ja wie beim Weißen Hai, dachte Ondragon und schaltete sein Handy aus. Die Artikel waren nicht besonders aufschlussreich gewesen. Aber wenigstens nannten sie einige zusätzliche Namen von Personen, die man zu dieser Sache befragen könnte. Er würde Charlize später eine Mail schicken und sie damit beauftragen, wenn sie durch seinen Freund beim FBI nicht eh längst alles erfahren hatte.

Gerade hatte er sein iPhone weggesteckt und sich in dem Holzstuhl zurückgelehnt, um die Ruhe und den Sonnenschein zu genießen, da ragte plötzlich ein Schatten neben ihm auf.

„Da ist er ja, der feine Herr Consultant.“

Ondragon drehte sich um und blickte Shamgood in die swimmigpoolblauen Augen. Neben ihm stand Norrfoss und lächelte überlegen. Was zum Teufel hatten die beiden Spinner vor? Hatten sie ihn schon länger beobachtet und sein Handy gesehen? Mit offener Feindseligkeit schaute er die Störenfriede an, in der Hoffnung, sie abzuschrecken, doch Shamgood blieb, wo er war und starrte unablässig auf ihn hinab. Sein Unterkiefer zuckte.

„Stellen Sie sich vor, wir wissen, wer Sie sind!“, zischte er schließlich leise.

„Ach ja?“, entgegnete Ondragon kühl.

„Ja, mein Freund Johan hier“, Shamgood deutete auf Norrfoss, „hat sich nach Ihnen erkundigt. Er hat gute Verbindungen nach Schweden, müssen Sie wissen.“

Jetzt kommt‘s, dachte Ondragon.

Shamgood wandte sich mit einem Lächeln an Norrfoss. „Es hat etwas gedauert, aber jetzt haben wir die Bestätigung für Ihre schmutzigen Geschäfte. Ich habe gleich geahnt, dass Sie nicht ganz koscher sind.“

„Und was soll das sein?“, fragte Ondragon, den Desinteressierten mimend.

Shamgood schnalzte mit der Zunge. „Sie arbeiten als Spion für feindliche Regierungen, so einfach ist das!“

Ondragon klappte beinahe der Unterkiefer herunter, aber nur beinahe. Denn dank jahrelanger Erfahrung hatte er sich gut im Griff. Er verzog keine Miene, während er Shamgoods abenteuerlichen Anschuldigungen lauschte.

„Tatsache ist jedenfalls, dass Sie ausgezeichnete Kontakte zu vermögenden Privatleuten haben, darunter auch Firmen und Konzerne in Fernost und Arabien. Sie sind ein Dieb und ein Spion, Sie stehlen Informationen und leiten sie an den Meistbietenden weiter. Und ich brauche Sie nicht zu fragen, welche Sprachen Sie fließend sprechen können. Da wären Japanisch, Thai, Arabisch und Deutsch, um nur einige zu nennen.“

Das stimmte, zumindest das mit den Sprachen. Und der Rest, nun ja, Spionage war ein hartes Wort. Langsam wurde Ondragon unwohl, und er fragte sich, was für Kontakte Norrfoss nach Schweden hatte?

„Sie hatten beste Voraussetzungen für eine Karriere als Spitzel“, sprach Shamgood weiter. „Ihr Vater war deutscher Diplomat und Ihre Mutter beim schwedischen Militär tätig. Und als was? Als Agentin natürlich!“

„Jetzt reicht es aber!“, empörte sich Ondragon und erhob sich. „Ihre Impertinenz ist wirklich beispiellos, Shamgood! Sie sind nicht nur ein krankhafter Stalker, sondern auch ein paranoider Verschwörungstheoretiker! Ich ein Spion und meine Mutter eine Agentin? Das ist vollkommen lächerlich. An Ihrer Stelle würde ich Ihre ach so geheime Quelle einmal gründlich auf Glaubwürdigkeit überprüfen. Sie liegt nämlich absolut falsch!“ Unter seinem Hemd brach ihm der Schweiß aus. Ava Birgitta Ondragon war vieles gewesen, Soldatin, Leistungssportlerin, eine liebevolle Mutter, aber niemals eine Agentin! Was erlaubte sich dieser Kerl?

Shamgood verzog kurz das Gesicht bei dem Wort Stalker. „Woher wissen Sie …?“

„Auch ich mache meine Hausaufgaben, Mr. Shamgood. Und ich verstehe etwas von meinem Job!“, antwortete Ondragon wütend. „Und über Sie“, er deutete mit dem Finger auf Norrfoss, „weiß ich auch einiges, Söhnchen!“

Nun meldete sich der junge Schwede zu Wort, in seiner Muttersprache: „Herr Ondragon, glauben Sie mir, unsere Quelle ist absolut zuverlässig. Meine Kontakte reichen bis hoch ins Parlament und zur Sicherheitspolizei. Meine Beweise gegen Sie gibt es Schwarz auf Weiß.“

„Ach, ja? Dann zeigen Sie mir diese Beweise doch mal!“ Ondragon war sich sicher, dass die beiden Psychos sich da etwas zurechtspannen. Denn der Bundesnachrichtendienst durchleuchtete routinemäßig alle Personen und deren Familien, die für das deutsche Auswärtige Amt tätig waren - natürlich auch seine Eltern. Und er glaubte nicht, dass der BND Fehler gemacht hatte. Es war ein Bluff vom Shamgood, um ihn aus der Reserve zu locken. Ondragon straffte seine Haltung und besann sich auf seinen gut geschulten Instinkt, solche Situationen für gewöhnlich zu kontrollieren. „Meine Herren, ich denke, das Gespräch ist an dieser Stelle beendet. Wenn Sie es trotzdem vorziehen sollten, mich weiterhin mit Ihren unhaltbaren Vorwürfen zu belästigen, schalte ich schneller meinen Anwalt ein und lasse Sie wegen Verleumdung anklagen, als Sie das Wort Kaution überhaupt aussprechen können! Und nun entschuldigen Sie mich.“ Er wollte an den beiden Männern vorbeigehen, die sich aus einem unerfindlichen Grund gegen ihn verbündet hatten, doch Shamgood hielt ihn zurück. Nicht, dass der Modedesigner ihn berührte, nein, das wagte er nicht, aber er verstellte ihm mit seinem einparfümierten Körper den Weg.

„Warten Sie doch, Mr. Ondragon, wir sind noch nicht fertig. Da ist noch etwas.“ Das solariumgebräunte Gesicht war keine halbe Armeslänge von ihm entfernt, so dass er einen unerwünscht guten Blick auf das unnatürlich weiße Lächeln Shamgoods hatte. Ondragon hob die Brauen und sagte schlicht: „Anwalt.“

Shamgood zeigte sich unbeeindruckt, er dachte wohl, mit seinen überbezahlten Staranwälten, sei er ihm überlegen, doch da irrte er sich.

Shamgood grinste. „Sieh ihn dir an Johan, wann immer dieser Kerl den Mund aufmacht, lügt er! Das ist wohl eine Berufskrankheit, richtig?“

Norrfoss lachte. Es klang schäbig und verächtlich aus dem Mund dieses armseligen Bübchens. Ondragon hätte ihm am liebsten die Fresse eingeschlagen.

„Mir will scheinen, dass Ihnen einige Aspekte Ihrer Familiengeschichte entgangen sind, Herr Ondragon. Darüber sollten Sie sich wirklich Gedanken machen, denn nichts ist schlimmer, als zu erkennen, dass man von seinen eigenen Eltern belogen wurde, nicht? Vielleicht beauftragen Sie Ihren Anwalt auch gleich damit, den Machenschaften ihrer dubiosen Familie nachzugehen! Ein wenig Ahnenforschung hat noch niemandem geschadet!“

Jetzt war das Maß voll! Ondragon wand sich geschickt aus der Umzingelung durch Norrfoss und Shamgood, wobei er sich zurückhalten musste, dabei nicht instinktiv einen Befreiungsgriff aus dem Krav Maga anzuwenden. Aus einem gehörigen Sicherheitsabstand sah er die beiden Blondies von oben bis unten an.

„Es würde mich nicht wundern, wenn es mir gelänge, jenen jungen Mann aufzutreiben, den Sie, Mr. Shamgood, im letzten Jahr bei der Modenschau in Mailand sexuell belästigt haben, und ihn dazu zu bringen, seine Anzeige gegen Sie wieder aufzunehmen. Ich gehe davon aus, er schweigt nur, weil Sie ihn großzügig für seine Diskretion bezahlen. Maurice Bernard war doch sein Name, richtig?“ Versteckt fuhr Ondragon mit den Fingern über das Telefon in seiner Hosentasche. Die Waffe des modernen Menschen, am liebsten hätte er es sofort herausgeholt und Shamgood damit gedroht, diesen Maurice Bernard anzurufen. Aber das Handy war sein Geheimnis, sein kleiner Vorteil, und von dem sollte niemand etwas wissen.

„Mal sehen, ob Maurice Bernard mit einem Scheck zufrieden ist, der eine Null mehr vor‘m Komma hat. Er sitzt bestimmt gerade bei Eclairs und Champagner, aber ich denke, er wird Zeit für mich haben, wenn ich ihm erstmal erklärt habe, wer ich bin. ‚Hallo, Maurice Bernard, je suis Monsieur Ondragon, avocat aux Etats-Unis. Je voudrais parler à Monsieur Shamgood… ‘“ Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie der Teint von Shamgood von Schoko zu Karamell wechselte. Gotcha!

„Ich könnte wetten, es ist eine Nummer in Paris, richtig? Mon Dieu“, er sah auf seine Uhr, „es ist ‘öchste Zeit, isch muss gleisch mit ihm spreschen. In Pari‘ ist es jetzt vier Uhr nachmittags, vielleischt lässt misch die gute Sheila ja mal von der Lodge aus telefonieren.“

Shamgoods Gesichtsfarbe transformierte von Karamell zu Milch. Er zog Norrfoss am Ärmel.

„Wir sind hier fertig. Aber glauben Sie nicht, ich würde mich geschlagen geben, Mr. Ondragon!“

Als die beiden Nervensägen außer Sicht waren, eilte Ondragon nach drinnen, stürmte die Treppe hinauf in sein Zimmer und bemerkte erst, wie schnell sein Herz schlug, als er sich an die geschlossene Tür lehnte.

Hastig riss er das Handy aus seiner Hosentasche und wählte eine Nummer in Berlin. Eine Nummer, die er seit vielen Jahren nicht gewählt hatte.

Es rauschte in der Leitung, und dann klingelte es. Einmal, zweimal, dreimal. Doch plötzlich legte Ondragon auf. Was sollte er seine Eltern fragen? Ob seine Mutter eine Agentin war? Das war lächerlich. Er schlug sich mit dem iPhone hart vor die Stirn und atmete ein paar Mal tief durch. Früher oder später würde er mit ihnen sprechen müssen. Aber nicht jetzt und nicht am Telefon. Er würde seine Eltern besuchen, um beide endlich nach den vielen Dingen zu fragen, die ihm schon seit Langem auf der Seele brannten. Ondragon blickte nachdenklich aus dem Fenster. Die Anschuldigungen Shamgoods, so wahnwitzig sie auch sein mochten, hatten etwas bei ihm ausgelöst. Lange verschüttete Gefühle brachen sich unaufhaltsam ihren Weg ans Licht, wie einst ein kleiner Junge sich unter einem tonnenschweren Bücherhaufen hervorgequält hatte, der ihn zu ersticken drohte. Und noch ein undeutlicher Schatten gesellte sich zu seinen Erinnerungen. Es war das erschrockene Gesicht seiner Mutter und der Wutanfall seines Vaters, als beide die Bibliothek betraten und das Unheil erblickten, welches der kleine Paul angerichtet hatte. Ein Schatten, der so groß war wie er selbst. Er schwebte über den Büchern und verschwand schließlich nach oben durch die Decke. Dann sah er nur noch die Tränen seiner Eltern und verstand nicht. Ihm war doch nichts passiert. Er war am Leben. Was machte sie so traurig so als sei jemand gestorben?

Schluss damit! Ondragon schüttelte mit Gewalt seinen Kopf und zwang sich, die Zentrifuge anzuhalten, die sich gegen ihn selbst gerichtet hatte.

Reiß dich zusammen, Paul Eckbert! Was ist nur mit dir los, dass du solch einem Schmarrn auf den Leim gehst? Die beiden Arschlöcher wollten nichts weiter als dich foppen. Sicher, sie haben einige Informationen über dich zu Tage gebracht, aber das ist völliger Unsinn! Und der Scheiß mit der Bibliothek kocht jetzt nur hoch, weil Dr. Arthur darin herumgewühlt hat. Wenigstens hast du Shamgood ordentlich abserviert. Der wird ein paar Tage brauchen, um sich von dieser Niederlage zu erholen. Und bis dahin hast du dir eine neue Strategie gegen ihn ausgedacht.

Ein wenig beruhigter setzte er sich auf das Bett und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Die beiden blondierten Pavianärsche würde er genauer im Auge behalten, sie würden schon noch lernen, was es bedeutete, sich mit dem Oberaffen anzulegen.

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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