35. Kapitel

 

2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge

 

Das konnte alles nicht wahr sein! Mit geschlossenen Augen lag Ondragon auf seinem Bett und krampfte seine Hände in das Kissen, das er auf seinem Bauch festhielt. Ihm war noch immer schwindelig. Alles um ihn herum drehte sich, als säße er auf einem Karussell, das außer Kontrolle geraten war. Und es war besser, erst einmal keinen Blick auf diese Welt zu werfen, von der er nicht mehr wusste, was von ihr echt und was Trugbild war.

Scheiße! Er war kurz davor, wirklich verrückt zu werden! Sein Gehirn spielte ihm einen Streich nach dem anderen und suggerierte ihm Erinnerungen aus seiner Kindheit, in denen er Schulter an Schulter mit Per in der Bibliothek seines Vaters stand, seinem Zwillingsbruder, der sein Abbild war. Per, der aus dem Spiegel zu ihm sprach. Er hörte dessen Stimme, sein Lachen, hoch und dünn. Das Lachen eines Geistes.

Stöhnend fasste Ondragon sich an die heiße Stirn und schrak zurück, weil ein stechender Schmerz ihn durchfuhr. Die Wunde pochte fröhlich vor sich hin, als sei sie ein kleines Schlagzeug. Frustriert schlug er mit der Faust aufs Bett. Verdammt! Das war das reinste Gefühlschaos. Hätte er bloß nicht die Idee gehabt, hierher zu fahren. Was für ein innerer Höllenhund hatte ihn da nur geritten?

Vorsichtig öffnete er die Augen. Die Wände im Zimmer schwankten, kamen näher und wichen wieder zurück, tanzten einen Reigen, als wären sie nicht aus Holz, sondern aus Papier, das vom Wind hin und her geblasen wurde. Er kam sich vor wie in einem Film von David Lynch. Ein schöner Trip! Ondragon stützte sich auf seine Ellenbogen. Nur, dass er leider keine Drogen eingeschmissen hatte.

Er dachte an das zurück, was bei der Sitzung von Dr. Pollux geschehen war. Undeutlich sah er den Arzt vor sich, wie er die Menschen, die seine Familie darstellten, im Raum verschob, und erlebte erneut jene unbehaglichen Gefühle, die er dabei empfunden hatte. Es war unerklärlich, wie Dr. Pollux das angestellt hatte, aber seine Angst vor Büchern, der Hass auf seinen Vater und die Trauer seiner Mutter erschienen ihm mit einem Mal absolut plausibel. Tief in seinem Innern wusste er jetzt, was damals in der Bibliothek geschehen war. Er fühlte sich nur noch nicht bereit, sich vollständig daran zu erinnern. Er hatte dem Gedächtnispolizisten den Schlüssel entrungen, wagte es nur noch nicht, ihn in das Schloss zu stecken.

Vielleicht sollte ich meine Eltern anrufen? Ondragon angelte sein Handy aus der Schublade im Nachttisch. Das Display zeigte nichts an. Im Telefonbuch suchte er nach jener Berliner Nummer, die er tags zuvor schon einmal hatte anrufen wollen. Er ließ das Telefon am anderen Ende klingeln. Hoffentlich würde seine Mutter abheben. Ein Klopfen an der Tür riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schnell schaltete er sein Handy aus und versteckte es. Schwankend erhob er sich und öffnete die Tür.

„Hallo, Paul, es … was ist denn mit Ihnen passiert!“ Kateri stand mit weit geöffneten Augen vor ihm. War sie echt? Wie in Trance hob Ondragon eine Hand und strich ihr sanft über die Wange. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch verwirrter. Natürlich war sie echt. Er ließ die Hand wieder sinken und schenkte ihr ein gequältes Lächeln. „Ich glaube, ich bin geheilt“, lallte er und ärgerte sich sogleich über diese blöde Antwort. Er musste wirken, als hätte man ihm mit Stromstößen das Gehirn gegrillt. Er schürzte die Lippen. Eigentlich kein schlechter Vergleich, denn genauso fühlte er sich. „Was ist denn los?“, fragte er schließlich etwas aufgeräumter und fügte augenzwinkernd hinzu: „Es ist doch noch gar nicht vier Uhr nachmittags.“ Wenigstens der Flirt-Modus funktionierte noch.

„Also … ist wirklich alles okay?“ Kateri stemmte eine Hand in die Hüfte. „Sind Sie betrunken?“

„Ja doch. Äh, nein, natürlich nicht. Woher sollte ich den Stoff denn haben?“ Ondragon schüttelte den Kopf, und der letzte Schwindel verflog. Er grinste. Endlich war er wieder Herr seiner Sinne. „Und wenn, dann hätte ich Sie an dem Spaß beteiligt.“

Kateri ging nicht auf seinen Scherz ein. Sie war ungewöhnlich ernst. „Sie sind der einzige, den wir noch nicht gefragt haben. Ist Ihnen Mr. Lyme heute schon begegnet?“

„Nein.“ Was für eine komische Frage.

„Er ist nämlich weder beim Frühstück, noch beim Mittagessen aufgetaucht.“

„Vielleicht hat er auf seinem Zimmer gegessen.“

„Unmöglich, sein Zimmer ist leer, und die Küche hat keine Anweisung bekommen, etwas zu ihm hinaufzubringen. Außerdem hat er den Termin bei Dr. Zeo nicht wahrgenommen. Niemand hat ihn gesehen, er ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Ondragon kratzte sich am zerzausten Scheitel. Warum machte sie sich solche Sorgen um diesen Typen? „Na, irgendwo wird er schon sein. Oder er ist abgereist, so wie dieser Oliver Orchid damals. Hatte die Schnauze voll. Geht mir übrigens genauso! Hab nicht übel Lust, meinen Autoschlüssel zu holen und noch heute abzuhauen!“ In der Tat wäre eine beschwingte Autofahrt jetzt genau das Richtige, um sich den Kopf durchblasen zu lassen. „Meinen Sie, Sheila würde mir den Schlüssel geben?“

Kateri zog gereizt die Augenbrauen zusammen. Sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. „Ich glaube kaum“, entgegnete sie brüsk. „Wir müssen Lyme suchen! Kommen Sie!“ Sie fasste ihn am Arm und wollte ihn mit sich ziehen.

„Ho, ho, warten Sie, Kateri!“ Ondragon stemmte sich gegen ihr Vorhaben. Ihm war ganz und gar nicht danach, das Zimmer zu verlassen und in seinem derangierten Zustand womöglich dieser Hyäne Shamgood in die Arme zu laufen. Darauf konnte er getrost verzichten. „Warum so eilig? Lyme ist erwachsen und kann gehen, wohin er will“, warf er ein. „Vielleicht macht er nur einen Spaziergang draußen im Wald und erfreut sich des Lebens. Er …“ Plötzlich dämmerte es ihm. Mit wachsendem Unbehagen dachte er an das merkwürdige Gespräch, das er vor zwei Tagen mit dem Makler geführt hatte. Ondragon wurde mulmig zumute. Er zögerte, denn er hatte eine gewisse Ahnung, warum Lyme verschwunden war, doch wenn er es Kateri erzählte, so offenbarte er gleichzeitig auch, dass er von den K-Patienten wusste. Und er war sich immer noch nicht sicher, ob er ihr wirklich vertrauen konnte. Immerhin war sie sehr eng mit Dr. Arthur befreundet und sie könnte sofort zu ihm gehen und ihm berichten. Was dann geschehen würde, war bestimmt nicht angenehm. Bestenfalls könnte er aus der Lodge fliegen. Er musste seine Herumschnüffelei für sich behalten, auch wenn es ihn reizte, Kateri einzuweihen. Er dachte an den Drohbrief und bemerkte, dass sein Gegenüber langsam ungeduldig wurde.

„Vielleicht haben Sie Recht. Wir sollten Lyme suchen. Wenn er in den Wald hinausgegangen ist, schwebt er womöglich in Lebensgefahr, immerhin ist dieser Killer-Bär da unterwegs. Warten Sie einen Moment, ich ziehe mir eben etwas anderes an und dann gehen wir zu Dr. Arthur und erzählen ihm, was wir vorhaben.“ Für Ondragon war es klar, Lyme war in den Wald gegangen, um seinen heiß ersehnten Wunsch wahr zu machen. Er wollte der menschenfressenden Bestie begegnen.

Kateri nickte geistesabwesend und wartete vor der Tür, während Ondragon sich im Bad schnell etwas Wasser ins Gesicht spritzte, seine Haare ordnete und ein neues T-Shirt zu seiner Jeans anzog. Danach wickelte er sich den frisch gewaschenen Kapuzenpulli um die Hüfte und verbarg darin seine Waffe. Wenn er in den Wald ging, wollte er gewappnet sein.

Gemeinsam suchten sie Dr. Arthur in seinem Büro auf, und es stellte sich heraus, dass er längst von Lymes Verschwinden unterrichtet worden war. Der Psychotherapeut setzte seine Brille ab und sagte relativ gelassen: „Mr. Lyme ist im ganzen Gebäude nicht zu finden, auch auf dem Rest des Geländes nicht. Er muss die Lodge verlassen haben und in den Wald gegangen sein. Das passt gar nicht zu ihm. Er geht sonst nie nach draußen. Aber ich habe Pete Bescheid gesagt, er soll zusammen mit einigen anderen eine Suche rund um die Lodge organisieren.“

„Was könnte Mr. Lyme im Wald wollen, wenn er dafür so unerwartet mit seinen Gewohnheiten bricht?“, fragte Ondragon mit unschuldiger Miene.

„Ich versuche gerade, dahinter zu kommen, Mr. Ondragon. Auch ich finde sein Verhalten äußerst befremdend“, sagte Dr. Arthur, zeigte aber mit keiner Regung, dass er es sehr wohl besser wusste. „Tatsache ist“, fuhr er fort. „dass Mr. Lyme nicht der Mensch ist, der sich gerne in der Natur bewegt. Er ist ein reines Stadtgewächs, mit einer gewissen Furcht vor der urtümlichen Kraft der Wildnis. Genau wie Sie übrigens, Mr. Ondragon.“ Der Psychotherapeut sah ihn an, und in seinen gelben Augen flimmerte es eigentümlich.

Ondragon ignorierte diesen Blick, der ihn bis auf die Knochen zu durchleuchten schien. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Es beleidigte ihn, mit diesem mickrigen Schleimer Lyme verglichen zu werden. Er hatte nichts, rein gar nichts mit ihm gemein!

„Ich werde helfen, ihn zu suchen!“, sagte er geradeheraus. Zwar war er nicht scharf darauf, wieder durch das Gestrüpp zu rennen, aber er wollte Dr. Arthur beweisen, dass er sich nicht davor fürchtete. Er und Angst vorm Wald - eine glatte Fehleinschätzung.

„Das kann ich nicht zulassen. Sie sind hier wegen einer Therapie. Es ist nicht Ihre Aufgabe, nach vermissten Gästen zu suchen. Wie ich schon sagte, Pete wird sich darum kümmern.“

„Dr. Arthur, Fakt ist doch, Lyme ist dort draußen, und je mehr Leute nach ihm suchen, desto eher finden wir ihn. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn ihm etwas zustößt, und Sie haben nicht alles getan, um es zu verhindern. Oder sollten wir Deputy Hase um Hilfe rufen? Er kann“, Ondragon sah auf seine Armbanduhr, „in neunzig Minuten hier sein.“

Dr. Arthur hob eine Hand. „Ich befürchte, das ist keine so gute Idee. Deputy Hase ist viel zu beschäftigt mit den Ermittlungen. Es wäre nicht gut, wenn er hier mit seiner ganzen Mannschaft aufmarschiert. Nachher macht Lyme tatsächlich nur einen Spaziergang. Wir wollen keine unnötige Panikmache.“

„Eben!“

Nachdenklich schürzte Dr. Arthur die Lippen und sagte nach einer Weile: „Ich kann Sie eh nicht daran hindern, in den Wald zu gehen. Aber versprechen Sie mir bitte, dass Sie diesen Einsatz nicht an die große Glocke hängen.“

Ondragon nickte und warf Kateri einen Blick zu. Sie sah aus, als läge ihr etwas auf dem Herzen. Auch Dr. Arthur bemerkte es.

„Was ist, Kateri?“, fragte er sie.

„Ich gehe auch mit“, entgegnete sie entschlossen.

„Aber, Kateri …“

„Ich gehe mit.“ Sie wandte sich an Ondragon. „Kommen Sie, wir benachrichtigen Pete!“

„Kateri, so warte doch …“

Aber sie wartete nicht, ließ den besorgten Dr. Arthur stehen und zog Ondragon mit sich aus dem Büro.

 

Wenig später hatten sie Pete gefunden. Er stand mitten in einer kleinen Versammlung bestehend aus Frank, dem Sunnyboy Julian und drei weiteren Männern auf dem Parkplatz vor der Lodge und diskutierte. Sie traten zu der Gruppe. Sofort registrierte Ondragon, dass Frank ein Jagdgewehr über der Schulter und Julian zwei Trommelrevolver am Gürtel trug. Der junge Reitlehrer sah damit aus wie eine lächerliche Ausgabe von Billy the Kid. Wobei das mit dem Kid schon eher zutraf.

„Hey, Mr. On Drägn.“ Pete begrüßte ihn mit einem lässigen Handschlag, und Ondragon erklärte, warum sie hier waren.

„Ohne Waffe sollten Sie aber nicht gehen, Mr. Ondragon“, sagte Julian und legte eine Hand auf den Revolvergriff. „Zu gefährlich!“

Ach was! Ondragon sah von ihm der Reihe nach in die Runde. Was das blonde Bübchen konnte, konnte er schon lange. Ruhig zog er seine Sig Sauer aus dem Kapuzenpulli. Er bemerkte, wie sich Petes Augen weiteten. Kateri schien jedoch nicht sonderlich überrascht. Bevor jemand etwas sagen konnte, erklärte er: „Ich trage immer eine Waffe bei mir.“

Die Männer nickten, als sei das für sie normal, und setzten ihre Gespräche fort.

„Sie kennen sich hier ja aus, Miss Wolfe“, stellte Pete fest. „Dann gehen Sie mit Mr. Ondragon. Ich nehme Bobby mit, Julian geht mit Carey, und Dave mit Frank.“Alle murmelten ihre Zustimmung, und Ondragon war erstaunt, dass die Männer, allen voran Frank, Pete so vorbehaltslos als ihren Anführer akzeptierten. Interessiert beobachtete er den Kofferjungen, wie er auf der Motorhaube des Geländewagens der Lodge eine zerfledderte Karte von der Gegend entfaltete. Nacheinander deutete Pete mit dem Finger auf verschiedene Bereiche, und nachdem klar war, wer welche Richtung einschlagen sollte, drückte er jedem noch eine Flasche Wasser in die Hand.

„Viel Glück“, wünschte er mit ernstem Gesicht, setzte sein Basecap auf und verließ mit Bobby den Parkplatz.

Kurz darauf schlugen auch Ondragon und Kateri den Weg ein, der sie zu ihrem Suchgebiet nordöstlich des Sees führen sollte. Als sie das Bootshaus passierten, sagte Miss Wolfe unvermittelt: „Warten Sie einen Moment, Paul. Auch wenn Sie ein Schießeisen haben, möchte ich nicht ganz ohne Waffe gehen.“ Sie betrat das Bootshaus und kam erst eine halbe Ewigkeit später wieder raus, mit einem großen Messer am Gürtel, einem Sportbogen in der Hand und einem Köcher voller Pfeile. Ondragon hob überrascht die Brauen. „Also, wenn ich der Cowboy bin, dann sind Sie definitiv die Indianerin! Können Sie überhaupt damit umgehen?“

Kateri blickte ihn an, als sei er nicht mehr ganz bei Trost. Dann ging alles ganz schnell. In einer einzigen fließenden Bewegung legte Kateri einen Pfeil auf, drehte sich und schoss. Der Pfeil zischte fast unsichtbar durch die warme Sommerluft und landete mit einem hohlen Plopp auf dem Wegweiser der State Park Verwaltung. Aber nicht etwa auf einem der Schilder, sondern auf halber Höhe im Pfahl!

Ondragon räusperte sich verlegen. „Gut, ich nehme Sie mit, Falkenauge.“

Kateri grinste - zum ersten Mal, seit sie vorhin an seine Tür geklopft hatte.

Sie schlugen den Pfad ein, der direkt am See entlangführte und den Ondragon bereits mehrfach entlanggejoggt war, und hielten aufmerksam Ausschau nach Bewegungen im Unterholz.

„Was ist, wenn wir auf den Killer-Bären treffen?“, fragte Ondragon nach einer Weile ermüdenden Starrens ins Grün.

Kateri drehte sich zu ihm um und strich sich eine Strähne hinters Ohr, die ihr aus dem Pferdeschwanz gerutscht war. „Dann werden Sie tun, was ich sage“, entgegnete sie in ungewohnt strengem Ton. „Das heißt: Wenn Sie schießen, dann nur auf den Kopf zielen. Treffen Sie den Bären mit diesem kleinen Kaliber am Körper, dann machen Sie ihn nur wütend, halten in aber nicht auf. Am besten, man zieht sich langsam zurück und macht keine abrupten Bewegungen, dann hat man eine Chance.“

„Klingt beruhigend.“

Sie setzten ihre Suche fort und erreichten bald die Abzweigung zum bear‘s den. Auf dem Weg zur Höhle fielen Ondragon plötzlich merkwürdige Gebilde auf, die rings um in den Bäumen hingen. Waren sie auch schon da gewesen, als er die Höhle zum ersten Mal besucht hatte? Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber damals hatte er auch noch nicht darauf geachtet.

„Was ist das?“, fragte er und zeigte auf eines der Federknäule, die wie kleine Traumfänger aussahen und ihm mit einem Mal verdammt bekannt vorkamen.

Kateri sah hinauf zu dem Ast, an dem das Ding sanft hin und her baumelte. „Ach das. Das ist eine Art Abwehrmedizin.“

„Abwehrmedizin wogegen? Jetzt sagen Sie nicht etwa, gegen den Wen-“

„Schhhht! Nennen Sie ihn nicht beim Namen!“

„Schon gut. Aber was soll der Zauber? Und wer hat das hier hingehängt?“

Kateri sah ihn an. „Raubvogelfedern helfen, den Geist des Waldmonsters zu vertreiben.“ Sie zeigte auf den Höhleneingang. „Diese Kaverne ist ein heiliger Ort der hier ansässigen Ojibway. Sie kommen regelmäßig hierher und halten Rituale ab. Ein paar Meilen weiter ist sogar eine alte Begräbnisstätte, und auch dort findet man diese Medizin. Sie wollen die Toten schützen vor … ihm!“ Sie wies bedeutungsvoll hinaus in den Wald.

Ondragon war hin-und hergerissen zwischen Belustigung und schleichendem Grauen. Einerseits wollte er es nicht wahrhaben, dass dieser Wendigo tatsächlich existierte, andererseits schien es hier Menschen zu geben, die wirklich daran glaubten. Es war also durchaus möglich, dass in diesem Wald etwas umging, das nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden konnte. Vielleicht war es ein Sasquatch, einer von diesen Waldhalbmenschen, die mit dem Yeti verwandt waren, oder ein Bigfoot. Solche Geschichten generierten sich ja immer wieder. Schließlich gab es auch Menschen, die behaupteten, sie seien von Aliens entführt worden. Es konnte sich hier also auch um eine Mischung aus Halluzinationen und Aberglauben handeln - die Indianer konsumierten bei ihren Zeremonien bestimmt Drogen wie Peyote oder Wysoccan, das aus der Stechapfelpflanze gewonnen wurde. Beides besaß eine starke bewusstseinserweiternde Wirkung, die einen Menschen schon mal etwas sehen lassen konnten, das lediglich seiner Einbildung entsprang. Nicht zuletzt erhielten indianische Initiationsriten, wie der Sonnentanz und die Visionssuche, dadurch ihren übernatürlichen Charakter. Diese alten Riten könnten eine Erklärung für den Wendigo-Kult in dieser Gegend sein, dachte Ondragon, aber trotzdem warf sich da noch eine andere Frage auf: War das Netz mit dem toten Vogel vor oder nach dem Mord am Tatort aufgehängt worden? Hatten die Ojibway von der Leiche gewusst? Oder war es ein Zufall, dass sie dort gelegen hatte?

Kateri holte ihn aus seinen Grübeleien, indem sie mit dem Bogen gegen das Federamulett stieß. „Wollen Sie eins mitnehmen?“, fragte sie schmunzelnd. „Dann sind Sie sicher.“

Ondragon sah sie an.

„Brauche ich es denn?“, fragte er zurück.

Kateri lächelte unergründlich. Dann wandte sie sich um und setzte sich wieder in Bewegung.

Ondragon presste die Lippen aufeinander. Diese Frau war ihm ein absolutes Rätsel. Sie brachte es fertig, dass er sich in ihrer Gegenwart fühlte wie ein unbeholfener, dummer Junge. Missmutig schlug er nach einem Ast und folgte ihr den Pfad entlang, vorbei an der Höhle und weiter in den dunklen Tannenwald hinein, in den er zuvor noch nicht vorgedrungen war. Stille umfing sie, und es war, als beträten sie innerhalb des Waldes eine andere Welt. Nur vereinzelt fielen Sonnenstrahlen bis auf den nur kümmerlich bewachsenen Boden. Die wenigen grellen Lichtflecken erinnerten Ondragon an grüne Feuer, die zwischen den schuppigen Baumstämmen in die Höhe loderten. Insekten tummelten sich überall, wo es schön warm war, und ständig musste er die Moskitos verscheuchen, die es sehr zu begrüßen schienen, dass zwei saftige Warmblüter vorbeikamen. Allmählich wurde ihm die Suche zur Qual, und er fluchte innerlich, dass er sich als Freiwilliger gemeldet hatte. Er blickte auf Kateris Rücken. Sie ging auf dem schmalen Trampelpfad vor ihm wie die Leiterin einer Expedition, die immer tiefer in diesen vermaledeiten borealen Dschungel hineinführte. Auf ihrem karierten Hemd hatte sich zwischen den Schulterblättern ein dunkler Schweißfleck gebildet. Unermüdlich hielt sie Ausschau, las hier und da eine Fährte, oder rief laut Lymes Namen. Ondragon warf einen Blick an sich herunter. Flechtenschuppen und Tannennadeln hingen in seiner Kleidung. Er blickte über die Schulter und stellte zu seiner größten Beunruhigung fest, dass es hinter ihm genauso aussah wie vor ihm. Alles wirkte gleich; Nadelbäume, wohin man schaute. Und egal, wohin man sich bewegte, versperrten sie einem den Weg mit ihren trockenen, sparrigen Ästen und zerkratzten einem die Haut. Wohin man trat, lag braunes, aus Lichtmangel verdorrtes Gestrüpp und tückische Stolperfallen aus totem Holz. Was für ein Scheißort! So richtig zum Verlieben. Ondragon schlug nach einer Schwadron Moskitos auf seinem Unterarm. Die Insekten zerplatzten und hinterließen kleine Blutflecken. Die Evolution hätte nichts Überflüssigeres als diese fliegenden Plagegeister hervorbringen können! Wenn er doch bloß seine große Klappe gehalten hätte, dann hätte er jetzt mit einer schönen, kalten Coke auf der Terrasse der Lodge sitzen können. Oder noch besser: Wenn er erst gar nicht auf die glorreiche Idee gekommen wäre, nach Minnesota zu fahren, dann würde er jetzt ein kleines Bad im Pool seiner Villa am Mulholland Drive in L.A. nehmen und danach ganz entspannt mit einem Mojito in den Abend chillen. Aber nein, stattdessen war er hier im Mosquitos Paradise gelandet und suchte nach einem Vollspinner, der sich fressen lassen wollte. Das war wirklich etwas, das man um keinen Preis verpassen sollte!

Genervt wandte er sich wieder um und bekam einen mächtigen Schreck.

Kateri war verschwunden.

Plötzliches Unbehagen packte ihn, und er drehte sich mehrmals um die eigene Achse, doch in seiner Umgebung war niemand zu sehen. Schweiß rann ihm ins Auge, und in seinem Kopf pochte empört der Schmerz auf.

„Kateri?“ Zum Teufel, sie konnte ihn doch hier nicht einfach so alleine stehenlassen! Noch während er versuchte, den Pfad ausfindig zu machen, den sie gekommen waren, erkannte er mit schleichendem Unbehagen seinen Fehler. Er hatte sich völlig auf seine Gefährtin verlassen und nicht selbst auf den Weg geachtet. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er, der immer alles im Griff hatte und sorgsam durchdachte, war ihr einfach wie ein Dackel hinterhergelaufen. Und jetzt hatte er den Salat: die wenig berauschende Erkenntnis, dass er ohne Kateris Hilfe nicht mehr zur Lodge zurückfinden würde. Langsam bereitete ihm seine mangelnde Aufmerksamkeit wirklich Sorgen. So eine Nachlässigkeit könnte ihm bei einem seiner nächsten Jobs das Leben kosten.

Ein lautes Rascheln ließ ihn aufschrecken. Mit wachsender Nervosität tastete er nach seiner Waffe und nahm das Gebüsch ins Visier, aus dem das Geräusch gekommen war. Etwas Großes bewegte sich darin, und das Déjà-vu, das darauf folgte, ließ die Härchen an seinen Armen wie kleine Angstantennen in die Höhe schnellen.

„Kateri? Sind Sie das?“, fragte er laut in die moskitoschwirrende Stille. Er schluckte trocken und spürte seinen höllischen Durst. „Kateri, lassen Sie diese Scherze!“ Die Situation gefiel ihm nicht. Wenn sie nicht gleich auftauchte, würde er in die Luft schießen!

„Was für Scherze?“, fragte eine dunkle Stimme neben ihm, und er fuhr herum.

Da stand Kateri keine drei Schritte von ihm entfernt, ihren Bogen keck über der Schulter und auf den Lippen ein spöttisches Lächeln. Ein roter Kratzer zierte ihre Wange und ließ sie unglaublich sexy wirken. Schnell steckte Ondragon seine Waffe weg und bleckte seine Zähne. „Mann, Sie können einem vielleicht Angst einjagen!“

„Sorry, aber mein Indianerblut ist mit mir durchgegangen. Sie sind so herrlich ungeschickt, was den Wald angeht, und da habe ich mir den kleinen Scherz erlaubt. Sie hätten sich sehen sollen, Ihr Gesichtsausdruck war wirklich komisch.“ Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand.

„Ungemein komisch“, brummte Ondragon und wandte sich ab.

„Jetzt schmollen Sie doch nicht, Paul. Bitte, es war nicht böse gemeint.“ Sie fasste ihn am Arm. Er drehte sich herum, und plötzlich standen sie sich direkt gegenüber. Ihr Gesicht war so nah, dass er den Duft ihrer Haare wahrnahm.

„Sie sollten besser bei mir bleiben“, flüsterte Kateri und sah ihm in die Augen. Am liebsten hätte er sie übers Knie gelegt, so wütend war er auf sie, aber ihre unerwartete Nähe an diesem für ihn so abweisenden Ort machte ihn ganz irre. Beides war so gegensätzlich und so magisch erregend, dass ihm das Blut heiß in den Unterleib schoss.

Mach jetzt nichts Dummes, ging es ihm durch den Kopf, aber seine Lippen waren schon längst auf dem Weg zu den ihren. Kateri wehrte sich nicht, als er sie direkt auf den Mund küsste. Ondragon spürte, wie sie seinen Kuss gierig erwiderte. Ihre Zunge fuhr zwischen seine Lippen und ließ erkennen, dass weiter südlich bereits alles in Flammen stand. Jetzt war es an ihm, die Initiative zu ergreifen. Und bei allen indianischen Göttern, die dieser Wald zu bieten hatte, in dieser Disziplin war er alles anderes als ungeschickt! Er zog sie mit zu Boden, wo er sie sanft mit dem Rücken auf ein Stück weichen Humus legte, das frei von Holz und Gestrüpp war. Kateri seufzte leise und suchte erneut seine Lippen. Mit ihren Händen fuhr sie über jeden Quadratzentimeter seines Körpers, und ehe er sich versah, zerrte sie ihm das T-Shirt über den Kopf. Wie im Rausch fummelte auch Ondragon an den Knöpfen ihres Hemdes, um kurz darauf ihren Oberkörper zu entblößen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sie keinen BH trug, und ihre Brüste offen dalagen wie reifes Obst. Ihre kleinen, dunklen Brustwarzen hatten sich längst zu harten Spitzen aufgestellt, und Ondragon beugte sich hinab und küsste sie. Kateri warf ihren Kopf zurück und stöhnte laut. Mit beiden Händen wühlte sie durch sein Haar und fuhr mit ihren Fingernägeln über seinen Rücken hinunter bis zu seinem Po, wo sie sich erneut festkrallten. Allmählich wurde ihm seine Jeans schmerzhaft eng und Ondragon ließ von Kateris verlockenden Brüsten ab, um seinen Gürtel und die Hose zu öffnen. Ohne zu zögern, entledigte auch sie sich von ihren hinderlichen Beinkleidern, und als sie schließlich ganz nackt vor ihm lag, gestattete Ondragons Verstand ihm kurz, sie zu betrachten, bevor er sich wieder zu ihr hinabbeugte, und seine Zunge in ihren Bauchnabel stieß. Kateri kicherte und wand sich genüsslich unter ihm. Mit bis zur Unerträglichkeit gesteigerter Erregung arbeitete er sich weiter nach unten vor und küsste sanft ihren Venushügel. Mit geblähten Nasenflügeln sog er ihren Duft ein und spürte, dass auch Kateri auf dem Höhepunkt ihrer Ungeduld angelangt war. Sie öffnete ihre Schenkel und hieß ihn willkommen. Ondragon nahm sein Glied und führte es zwischen ihre Schamlippen. Kateri war feucht, und mühelos glitt er in sie hinein. Beide seufzten vor Lust auf und pressten ihre erhitzten Köper aneinander. Kateri packte seine Pobacken, als könne sie ihn gar nicht tief genug in sich haben, und Ondragon hatte Mühe, ihrem schnellen Rhythmus zu folgen, den sie mit ihrem Becken vorgab. Hart stieß er immer wieder in sie hinein und spürte, wie sie laut zu atmen begann. Nur wenige Augenblicke später kam sie plötzlich mit einem kleinen Schrei und umfing ihn dabei so fest mit ihren Schenkeln, dass ihm fast die Luft wegblieb. Das Zucken ihrer Vagina und das schmatzende Geräusch ihrer hemmungslosen Kopulation ließ ihn sich schließlich auch in sie ergießen. Schwer atmend sank er auf sie hinab, und erst als das Neuronen-Feuerwerk des Orgasmus langsam erlosch, übernahm wieder sein Verstand das Kommando. Was er vorfand, war natürlich äußerst delikat. Was tun, um eine solche Situation zu entschärfen? Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Erst als Ondragon sich aus ihr zurückzog und erhob, ergriff Kateri das Wort.

„Das war … nicht schlecht für den Anfang.“

Ondragon nickte wissend und begann die verstreuten Klamotten aufzusammeln und sich anzuziehen. Das Ganze war einen maßlose Untertreibung. Es war nicht nur nicht schlecht, es war verdammt guter Sex gewesen! Lautlos pfiff er durch die Lippen. Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass er es im Freien getrieben hatte, und auch die Fahrstuhlnummer hatte er schon absolviert, aber das hier hatte eindeutig einen ganz besonderen Reiz gehabt!

Kateri erhob sich und ging ungeniert auf ihn zu. Im Gegensatz zu allen anderen amerikanischen Frauen schien sie kein Problem damit zu haben, sich einem Mann nackt zu zeigen. Wie die Königin ihres indianischen Volkes kam sie durch den smaragdfarbenen Wald geschritten und lockte herausfordernd mit ihrer Weiblichkeit. Die Röte ihrer rauen Begegnung lag noch auf ihrem Bauch und ihren Brüsten, und im offenen Haar hingen ihr kleine Zweige und Tannennadeln. Sie sah hinreißend aus, und wenn er sie nicht eben schon gehabt hätte, dann hätte er sie spätestens jetzt umgelegt! Sein Verstand registrierte, dass er zufrieden mit dem war, was er getan hatte. Nichts also, wofür er sich schämen musste. Er trat an Kateri heran, fuhr mit den Fingerspitzen leicht über ihren nackten Brustansatz und flüsterte ihr ins Ohr: „Gerne können wir heute Abend noch eine zweite Einheit einlegen, Dr. Wolfe.“

Kateri gab ihm als Antwort einen innigen Kuss auf den Mund und machte sich daran, sich anzukleiden. Ondragon sah ihr dabei zu und konnte es kaum erwarten, ihren sensationellen Köper heute Abend erneut zu erkunden. Hatchet hatte wirklich nicht übertrieben, sie war eine höllisch heiße Braut!

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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