Kapitel 20

 

Menolly, Camille und Trillian saßen am Küchentisch, Teetassen in den Händen. Iris hielt Maggie auf dem Schoß und hörte mit großen Augen zu, während Camille ihr erzählte, was passiert war. Ich setzte mich dazu.

»Zach weiß von Rhondas Tod«, sagte ich, und als ich aufblickte, starrte Camille mich an. Sie sagte kein Wort, aber ich wusste, dass wir uns später ausführlich unter vier Augen unterhalten würden. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Schon fast sieben. Die Sonne würde bald aufgehen, und Menolly hatte sich schon zurückgezogen.

»Wann sollen wir Kontakt zu Königin Asteria –«, begann Camille, doch da erschienen Morio, Smoky und Chase mit Venus in der Tür. Der Schamane war übel zugerichtet, aber er sah schon viel besser aus als vorhin, als wir ihn gefunden hatten. Die Männer halfen ihm auf einen Stuhl.

»Wir dachten, das würdet ihr vielleicht gern hören«, sagte Morio.

Venus beugte sich vor und nahm dankbar den Becher Tee an, den Iris ihm in die Hand drückte. »Ich werde mich gleich bei euch allen dafür bedanken, dass ihr mich gerettet habt, aber vorher gibt es Wichtigeres zu besprechen.« Er schlang die Finger um den warmen Becher, erschauerte und trank einen langen Schluck. »Das tut gut, so gut«, sagte er und erschauerte wieder. »Hört zu, ich weiß, wonach ihr sucht. Dasselbe, worauf es auch die Dämonen abgesehen haben. Und ich kann euch sagen, wo ihr es findet.«

»Das zweite Geistsiegel?«, flüsterte ich.

Er nickte. »Ja. Es ist das Symbol unseres Clans, über Jahrhunderte weitervererbt, seit Einarr Eisenhand es fand.«

»Er hat es nicht gefunden«, meldete ich mich zu Wort. »Der Herbstkönig hat ihm das Siegel geschenkt, als Belohnung dafür, dass er Kyoka das erste Mal getötet hat.«

Venus sah mich an, blinzelte und starrte dann auf meine Stirn. »Oh, mein Mädchen«, flüsterte er. »Du kennst ihn also.« Er streckte die Hand aus und berührte zart die lodernde Sense auf meiner Stirn. »Während meiner Ausbildung zum Schamanen habe ich mich einem Ritual des Todes und der Wiedergeburt unterzogen. Während meiner Reise begegnete mir ein Mann, der sich in Frost und Flammen hüllt. Ich habe seinen Namen nie erfahren, doch er berührte meine Seele, und in diesem Augenblick erlangte ich meine Macht.«

Ich nickte. »Wir unterhalten uns darüber, wenn die Sonne scheint und der Frühling kommt und der Tod nicht mehr in der Luft liegt. Zunächst einmal – wo ist das Siegel? Wir müssen es aus dieser Welt wegbringen und es vor den Dämonen verstecken, ehe sie es an sich bringen können.«

»Als der alte Schamane starb und sein Stab auf mich überging, gab er mir auch das Siegel.« Venus rückte vom Tisch ab. Er streckte sein Bein aus, das, auf dem er hinkte. »Er erklärte mir, wie ich es verstecken musste. Über all die Jahrhunderte hinweg wurde es auf diese Weise weitergegeben, und der Stamm wusste nichts von seiner Existenz. Der Schamane war immer der Einzige, der von dem Siegel wusste, und aus ihm beziehen wir den Großteil unserer Macht. Dies war die einzige Möglichkeit, uns seinen Schutz zu sichern. Wenn ich es euch gebe, werden wir offen und verletzlich sein. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir lernen, uns selbst zu schützen.«

Ehe wir etwas sagen konnten, zog er das Hosenbein hoch und strich mit der Hand über seinen Unterschenkel. Ein Schnitt tat sich auf, fleischig und blutig, aber sauber. In der Wunde ruhte ein kleiner, rotgolden funkelnder Cabochon in einer Bronzefassung. Er gab mir einen Wink, und ich griff vorsichtig in die offene Wunde und zog den Feueropal heraus. Venus Mondkind strich mit der Hand über den Schnitt, und die Wunde schloss sich wieder und hinterließ eine wulstige Narbe.

Ich starrte den leuchtenden Edelstein an. Seine pulsierende Energie durchfuhr mich wie eine klärende Welle, die meinen Schmerz und Zorn fortspülte. Ich seufzte tief, blickte auf und sah, dass es den anderen genauso ging. Venus schloss die Augen und wandte den Kopf ab. All die Jahre lang hatte er den Edelstein besessen, ihn aber nie direkt benutzt. Er hatte ihn in sich bewahrt und geschützt, wie sein Meister vor ihm und dessen Vorgänger bis weit zurück durch die Schleier der Zeit.

»Das Degath-Kommando konnte vermutlich spüren, dass du in der Nähe des Steins gewesen warst, aber sie sind nicht auf die Idee gekommen, dass er in dir stecken könnte«, sagte ich.

»Ein Glück, dass sie mich mit dieser Peitsche nicht tief genug geschlagen haben, um mein Bein aufzureißen«, sagte er, und Tränen glitzerten in seinen Augen.

»Das ist also das Siegel?« Zachary schob sich in die Küche, immer noch recht zittrig. »Ich habe mich immer gefragt, woher du dieses Humpeln hast«, sagte er zu Venus. »Ich nehme an, alle unsere Schamanen hatten ein Hinkebein?«

Venus nickte. »Man hielt das immer für eine unserer Besonderheiten – vielleicht für die Folge irgendeines Handels, durch den wir unsere Macht erhielten. In gewisser Weise war es ja auch so.«

Da musste ich lachen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als wäre eine schwere Last von mir genommen worden. »Wir setzen uns besser vor den Flüsterspiegel und warnen Trenyth vor, dass wir uns auf den Weg machen.«

Camille und ich gingen nach oben. Der Spiegel funktionierte wunderbar, aber wir sahen uns nicht Trenyth, sondern Königin Asteria selbst gegenüber.

»Ich schicke jemanden zu euch, um die Dämonen und das Siegel abzuholen«, sagte sie. »Einen Augenblick, ich gebe sofort den Befehl dazu.« Sie wandte sich ab und sprach über ihre Schulter, und wir hörten Trenyth ihren Befehl bestätigen. »Ihr solltet vorerst nicht nach Elqaneve kommen«, fuhr sie fort. »Hier wärt ihr in großer Gefahr.«

»Wir wissen von Lethesanars Todesdrohung –«, begann ich.

Die Königin unterbrach mich. »Das ist es nicht. Obgleich das allein Grund genug wäre, sehr vorsichtig zu sein. Nein, es ist noch etwas geschehen.«

Camille und ich wechselten einen Blick. Ich konnte es ebenfalls spüren; schlimme Nachrichten überholten einander im Wind, und was immer die Königin uns zu sagen hatte, musste sehr schlimm sein. Ich schluckte gegen meinen Instinkt an, aufzuspringen und wegzulaufen. »Was ist passiert?«

Die Königin sah aus, als würde sie alles auf der Welt lieber tun, als dieses Gespräch zu führen. »Es gibt keine schonende Möglichkeit, euch das beizubringen, also sage ich es euch einfach direkt. Wisteria ist entkommen. Wir wissen nicht, wie – irgendjemand muss ihr geholfen haben –, aber sie hat es geschafft, ihre Wächter zu töten und aus der Zelle zu entkommen.«

»Oh, zur Hölle. Wahrscheinlich wird sie versuchen, Kontakt zu Schattenschwinge aufzunehmen.« Ich sah Camille an. »Sieht so aus, als bliebe uns diesmal keine Zeit zum Durchatmen.«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Königin Asteria. »Unsere Informanten haben uns berichtet, dass sie sich mit dem ElwingBlutclan verbündet hat.«

»Heilige Scheiße, das ist der Clan, der –«

»Ja, der eure Schwester Menolly gefoltert und zu einem Vampir gemacht hat.« Die Königin atmete schaudernd durch. »Bis wir sie gefunden haben oder ganz sicher sind, dass sie die Stadt verlassen hat, solltet ihr nicht mehr hierherkommen. Reist stattdessen durch Pentakles Portal nach Aladril. Geht in die Stadt der Seher und sucht dort nach einem Mann namens Jareth. Er kennt die ganze Geschichte des Elwing-Blutclans und hat möglicherweise wertvolle Informationen für euch. Aber zunächst einmal trefft ihr meine Gesandten auf eurer Seite von Großmutter Kojotes Portal.«

»Die Stadt der Seher? Jareth? Wer ist das?«, fragte ich.

Königin Asteria starrte mich einen Augenblick lang an, und als sie sprach, sagte sie nur: »Wie ich sehe, beschreitest du jetzt einen gefährlichen Weg, Kind. Die Elementarfürsten sind nichts für Schwächlinge. Aber ich bezweifle, dass du diesen Weg freiwillig eingeschlagen hast. Geht jetzt und bringt die Leichen zu unserem Treffpunkt. Wir kümmern uns um sie.«

∗∗∗ Trenyth, Ronyl und mehrere kräftige Wachen erschienen in Großmutter Kojotes Hain. Sie nahmen das Siegel und die Leichen mit sich fort. Camille und ich sahen ihnen nach, bis sie durch das Portal verschwanden.

»Was sollen wir nur Menolly sagen?«, fragte Camille kopfschüttelnd. »Dass ihre alten Feinde sich mit Schattenschwinge verbündet haben? Dass die Kreaturen, die sie gefoltert und in einen Vampir verwandelt haben, womöglich die nächsten auf der Liste sind, die wir aufspüren und vernichten müssen?«

»Vielleicht hätte sie gar nichts dagegen«, sagte ich. »Sie wollte sich immer an ihnen rächen, und das kann ich ihr nicht verdenken.«

Wir spazierten zurück zum Wagen, wo Trillian auf uns wartete. Chase war nach Hause gegangen, um sich auszuruhen, und ich hatte vorher keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihm zu sprechen. Morio war unterwegs zum Mount Rainier – er fuhr Zach und Venus nach Hause. Sie brachten auch Rhonda zum letzten Mal heim.

Wir waren zu ihrem Begräbnis eingeladen worden, das in ein paar Tagen stattfinden würde. Natürlich würden wir hingehen, obwohl uns bei dem Gedanken schon jetzt das Herz schwer wurde. Rhonda hatte für uns ihr Leben gelassen. Das Mindeste, was wir tun konnten, war, ihr ein letztes Dankeschön und Lebewohl zu sagen.

»Kaum zu glauben, dass heute das Julfest beginnt. Schon Mittwinter. Und morgen Abend ist Sassy Bransons Party. Mir ist eigentlich gar nicht nach Feiern zumute.« Camille schob sich an einem tiefhängenden Zweig vorbei, und der Schnee rutschte herab und hüllte uns in eine kleine Lawine.

»Wir haben es ihr versprochen«, sagte sie. »Außerdem finde ich, dass wir eine kleine Aufmunterung gebrauchen können. Wir müssen Cleo auf den Informatiker-Posten in unserer neuen, verbesserten AND-Version ansprechen. Mit ihm zusammenzuarbeiten wird bestimmt lustig.« Ich zögerte und sprach dann vorsichtig den Vorschlag aus, der mir seit unserem Gespräch mit Asteria durch den Kopf ging. »Sag mal, was hältst du davon, wenn wir Menolly erst nach Sassys Party von der Sache mit dem Elwing-Blutclan erzählen? Wir haben uns ein paar sorgenfreie Abende verdient.«

Camille starrte mich an. »Ich glaube, sie wird dir dafür gewaltig in den Arsch treten. Menolly, meine ich.«

Auf meinen flehentlichen Blick hin seufzte sie tief.

»Ach, na schön, aber wenn sie sauer wird, war das ganz allein deine Idee. Ich weiß nur eins: Ich habe für den Rest meines Lebens die Nase voll von Spinnen. Da ist das Auto! Komm, Iris wartet bestimmt schon auf uns. Wir sollten uns doch beeilen zu ihrem Feiertags-Brunch.« Camille lief los und warf sich Trillian an den Hals. Der blinzelte überrascht, hob sie aber hoch und wirbelte sie herum. Dann küsste er sie auf den Mund, und wir machten uns auf den Heimweg.