Kapitel 11

 

Als ich am nächsten Morgen nach einem verspäteten Start – und einer ausgiebigen Dusche – nach unten kam, klopfte Zachary an die Tür. Er hatte schon um diese Uhrzeit einen Bartschatten, der offenbar unbesiegbar war. Damit sah er ein bisschen wild aus, und ich konnte den Blick nicht mehr von ihm losreißen. Ich war mir nicht sicher, was genau ich für diesen Mann empfand, aber ich musste zugeben, dass er sehr gut aussah – auf diese naturverbundene Holzfäller-Art.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als er mich auf dem Weg ins Wohnzimmer streifte. Ich hielt den Atem an. Zachary roch nach warmem Moschus, Vanille und Zimt, und am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und seinen Arm berührt und den restlichen Vormittag damit verbracht, faul herumzuliegen und seinen Duft einzuatmen.

»Ich weiß nicht, ob ich euch sonderlich nützlich sein werde«, sagte er. »Ich habe gestern Abend zum ersten Mal gehört, dass es so etwas wie die Nordlande oder einen Herbstkönig überhaupt gibt.« Er zog seine Jacke aus und setzte sich. »Hättest du einen Kaffee für mich?«, bat er.

Ich schnupperte. Und tatsächlich, der Duft frisch gebrühten Kaffees trieb aus der Küche herüber. »Ich glaube, Camille hat gerade welchen gekocht. Milch und Zucker?«

»Nein. Schwarz wie Tinte und dick wie Schlamm. Danke.« Als er die Arme über den Kopf reckte, spannte sich das T-Shirt über seiner muskulösen Brust und der schmalen Taille. Ich versuchte, ihn nicht offen anzustarren, aber ich war wie gebannt. Sein Schweißgeruch drang in meine Nase, und ich erbebte und wusste nicht mehr, was ich sagen oder tun sollte.

Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du siehst heute Morgen anders aus«, sagte er.

»Wie denn?«, fragte ich und wurde rot. Sein Blick war beinahe greifbar, wie warme Finger, die an einem kalten Morgen über meine Haut strichen.

Zach lachte leise. »Ich bin nicht sicher. Ein bisschen älter. Sprühend vor Leben. Vielleicht bin ich auch nur so müde, dass für mich alles andere so lebhaft aussieht, aber...  du bist irgendwie...  «

Nach kurzem, peinlichem Schweigen, in dem ich wieder nicht wusste, was ich sagen sollte, zwang ich mich zu stammeln: »Ich hole dir deinen Kaffee. Übrigens«, fügte ich von der Tür aus hinzu, »die Nordlande findest du auf keiner Karte. Sie liegen auch nicht in der Anderwelt. Sie existieren außerhalb beider Welten, hinter einem der Himmelsportale. Aber das ist nicht wichtig. Wir müssen gar nicht dorthin. Smoky wird den Herbstkönig beschwören und zu uns in die Erdwelt holen.«

Ich ließ ihn in Ruhe darüber nachdenken und ging in die Küche. Camille stand am Herd und trank ihren Kaffee. Sie trug einen wadenlangen Wanderrock, einen pflaumenblauen Pulli mit weitem Rollkragen und kniehohe Lederstiefel mit Schnallen an den Seiten und guten Profilsohlen, wenn auch die Absätze knapp zehn Zentimeter hoch sein mussten. Ich hatte sie nie gefragt, wie sie in den Wäldern mit so hohen Absätzen zurechtkam; für sie schien das ganz natürlich zu sein. Ich hingegen hatte mich für meine gemütlichsten Jeans entschieden, einen Rolli, der so türkis war wie das Meer in den Tropen, und feste Turnschuhe.

Ich lehnte mich neben sie ans Spülbecken, kniff die Augen zu und überlegte, was ich wegen Zach unternehmen sollte. Wir fühlten uns zueinander hingezogen, das war offensichtlich, aber ich hatte keine Ahnung, wohin das führen sollte. Oder ob ich überhaupt wollte, dass es zu irgendetwas führte.

»Alles in Ordnung mit dir?« Camille sah mich besorgt an.

»Ja, ich glaube schon. Zach ist da. Er möchte einen Kaffee.«

Ob es an dem Zögern in meiner Stimme lag oder ihrer scharfen Beobachtungsgabe – Camille stellte ihren Becher weg und wandte sich mir mit einem wissenden Lächeln zu. »Du begehrst ihn, nicht wahr?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht. Erst war ich nicht sicher, ob es nur die Hormone waren oder ob ich mich wirklich zu ihm hingezogen fühle. Ich bin immer noch nicht sicher, aber was auch immer es ist, das Gefühl wird stärker.«

Camille seufzte und goss einen Becher Kaffee ein. »Nimmt er Milch und Zucker?« Ich schüttelte den Kopf, und sie fuhr fort: »Ich glaube, du hast viel von der emotionalen Art unserer Mutter geerbt.«

»Kann sein, aber ich habe kein schlechtes Gewissen wegen Chase, sondern...  « Ich verstummte und erforschte meine Seele. Was ich gesagt hatte, stimmte zu einem gewissen Grad, aber da war noch etwas anderes, etwas, das mich zögern ließ.

Ich versuchte es noch einmal. »Zachary ist sexy und ein Werwesen, und er scheint ganz in Ordnung zu sein. Ich sollte mich zu ihm hingezogen fühlen. Das wäre nur normal. Aber ich denke ständig: Finde ich ihn attraktiv, weil ich glaube, dass ich ihn attraktiv finden sollte? Was ich mit Chase habe, ist alles andere als logisch. Chase ist kein Übernatürlicher, er ist eifersüchtig, obwohl er so tut, als wäre er das nicht, und er wird alt werden und sterben, lange, lange vor mir. Aber...  er hat irgendetwas an sich, was dafür sorgt, dass ich mich inzwischen bei ihm sehr wohl fühle.«

»Vielleicht bist du doch Vater ähnlicher als Mutter«, sagte Camille.

Ich seufzte tief, hüpfte auf die Küchentheke und ließ die Beine baumeln. »Bei Zachary fühle ich mich unbeholfen, als hätte ich keine Kontrolle über mich. Ich fühle mich in seiner Gegenwart nicht besonders selbstsicher. Und ich weiß nicht, warum.«

»Willst du meinen Rat hören?« Auf mein Nicken hin sagte Camille: »Mach dir nicht so viele Gedanken. Forciere nichts. Im Augenblick haben wir größere Probleme, und ich würde dir raten, die Sache einfach eine Weile zu vergessen. Wenn es dir und Zach bestimmt ist, zusammenzukommen, wird das geschehen, wenn es so weit ist.«

Ich starrte auf den Kaffee hinab. Die dunkle Flüssigkeit dampfte, und ein wenig Schaum drehte sich auf der Oberfläche. »Mehr kann ich wohl nicht tun.« Als ich nach dem Becher griff, bemerkte ich etwas auf einem Pappteller vor der Mikrowelle. »Was ist das?«

»Etwas Wichtiges. Ich wollte dir gerade davon erzählen, aber ich bin nicht dazu gekommen. Das hier ist ein weiterer Grund, weshalb ich dir raten würde, deinen Gefühlen für Zach vorerst nicht nachzugeben.«

Ich warf einen Blick auf den Pappteller. Darauf lag ein klebriges Häufchen Spinnfäden aus dem Netz, das Cromwell seinen letzten Auftritt beschert hatte. »Was ist damit?«

»Ich habe dieses Netz heute früh, vor Sonnenaufgang, magisch untersucht. Ich bin früh aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen, also bin ich nach draußen gegangen, um mich zu vergewissern, dass die neuen Banne halten. Und dann habe ich mir die hintere Veranda vorgenommen – das hatte ich gestern Abend bei all der Aufregung ganz vergessen.« Sie hielt inne und blickte bekümmert drein.

»Und?«

»Und...  natürlich habe ich Spinnenenergie an dem Netz gefunden, und auf der Veranda. Aber es lag noch etwas darunter – als wären zwei Magier hier gewesen, nicht einer. Also habe ich mit dem Zweiten Gesicht herauszufinden versucht, wer mit dem Spinnling hier war.«

Ich nickte. »Was hast du gefunden? Dämonen-Energie? War es der Jansshi-Dämon?«

»Das ist ja das Problem«, sagte sie kopfschüttelnd. »Die Energie stammte nicht von einem Dämon, Delilah – sondern von einem Werpuma. Katzenmagie.«

Ich versuchte zu begreifen, was sie gesagt hatte, und dann ging mir ein Licht auf. »Du machst wohl Witze! Könnten das keine Reste von mir selbst sein oder so?«

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte mit gesenkter Stimme: »Nein. Um ganz sicherzugehen, habe ich Cromwells Kadaver untersucht. Daran waren ganz starke Schwingungen von Katzenmagie zu spüren.«

»Aber woher willst du das wissen? Ich habe ihn begraben.« Sie konnte unmöglich recht haben; das würde ja bedeuten...  das bedeutete zu viele schlimme Dinge auf einmal, um darüber nachzudenken. »Vielleicht ist der Werpuma Cromwells Mörder gefolgt? Oder hat versucht, ihn aufzuhalten?«

Sie runzelte die Stirn und lehnte sich wieder an die Küchentheke. »Nachdem ich die Katzenmagie auf der Veranda erspürt hatte, habe ich Cromwell exhumiert.« Sie sah mich mit einem nach Verständnis heischenden Blick an. »Du musst mir glauben – das hätte ich nicht getan, wenn es nicht absolut notwendig gewesen wäre, aber wir müssen Bescheid wissen. Das war die einzige Möglichkeit für mich, dieser Energie nachzuspüren.«

Fassungslos schaute ich sie an. Sie hatte Cromwell wieder ausgegraben? Ein Werpuma, der mit dem Spinnen-Clan unter einer Decke steckte? Ich fuhr herum und blickte über die Schulter zum Durchgang in den Flur.

»Hätte das Zachary sein können? Hat er uns von Anfang an belogen? Glaubst du, er steckt mit den Spinnen unter einer Decke? Oder mit den Dämonen? Vielleicht ist das Ganze ja auch eine Falle!« Ich begann zu zittern. Was, wenn das alles zu einem raffinierten Plan gehörte? Was, wenn er Schattenschwinge in die Hände spielte – uns an den Dämonenfürsten verschacherte?

Camille legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube nicht, dass es Zachary war. Sonst hätte Smoky nicht vorgeschlagen, dass wir ihn mitbringen. Als ich die Banne neu aufgebaut habe, habe ich sie so eingestellt, dass sie Alarm auslösen, falls dieselbe Energie wiederkäme, und heute Morgen ist alles still geblieben. Also kann Zach es nicht gewesen sein.«

»Vielleicht ein Werwesen aus einem rivalisierenden PumaRudel«, sagte ich nachdenklich. »Es gibt andere Clans, obwohl das Rainier-Rudel bei weitem das aktivste und angesehenste ist, soweit ich weiß.« Ich seufzte tief und fragte mich, wie viel schlimmer es noch werden konnte. »Hast du...  ist Cromwell noch...  «

»Ich habe ihn wieder begraben, mit Blumen um seinen Leichnam und Münzen auf den Augen, damit der Fährmann ihn über den Fluss ans westliche Ufer bringt und Cromwell bei der Herrin Bast ruhen kann. Vertrau mir. Ich habe für seine Seele gebetet, und er schläft wieder sicher in den Armen der Katzenmutter.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Was Zachary angeht...  Ich bin ziemlich sicher, dass er in Ordnung ist, aber nur für den Fall, dass er von jemandem benutzt wird – vertrau ihm nicht zu sehr. Und erwähne ihm gegenüber weder die Warnung noch Cromwell. Wir spielen lieber nicht mit offenen Karten, nur um sicher zu sein.«

Damit stellte sie die Kaffeebecher auf ein Tablett, legte noch einen Teller Kekse dazu und ging ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr langsam. Ein Werpuma war auf der Veranda gewesen. Am Schauplatz des Mordes an Cromwell. Ich wollte immer noch glauben, dass er nur den Wahnsinnigen verfolgt hatte, der meinen Freund aufgehängt hatte. Aber Camille hatte recht.

Wir sollten niemandem von der Sache erzählen, bis wir selbst mehr wussten. Was bedeutete, dass ich für den Augenblick auf jeden Fall die Finger von Zachary lassen musste. Was bedeutete, dass ich mich mit meinen Gefühlen für ihn jetzt nicht befassen musste – zumindest ein Gutes hatte die Sache also doch.

Das Schicksal führte uns diesmal einen sehr dunklen Pfad entlang. Und wir konnten nicht viel mehr tun, als ihm zu folgen. Wenn wir uns von dieser Situation abwandten, würden wir uns ewig fragen, ob wir nicht doch hätten durchhalten sollen. Aber es war ebenso gut möglich, dass wir uns damit zu leichten Opfern in der Zukunft machten. Das würde ein interessanter Ausflug werden, keine Frage.

∗∗∗ Zachary saß neben mir auf dem Rücksitz, Morio fuhr seinen Subaru Outback selbst. Camille saß neben ihm und starrte schweigend aus dem Fenster. Morio wirkte ungerührt, wie üblich. Er schien immer so ruhig und gelassen zu sein – außer im Kampf, da wurde er zu seinem eigenen Höllenzirkus. Eher aus Neugier denn aus echtem Interesse überlegte ich kurz, wie er wohl im Bett sein mochte, schüttelte den Gedanken aber rasch ab. Erstens vergötterte er Camille. Und zweitens, na ja...  ich mochte ihn, aber er war nicht mein Typ.

Ich blickte aus dem Fenster. Wir hatten beinahe die Abzweigung zu Tom Lanes alter Hütte erreicht. Als wir Tom mit nach Elqaneve genommen und der Fürsorge von Königin Asteria überlassen hatten, hatte Smoky genug Geld lockergemacht, um das Haus zu halten. Ich fand den Gedanken sehr traurig, dass niemand Tom vermissen würde. Außer Titania natürlich und diejenigen von uns, die ihn kennenlernen durften. Er war verloren – vielmehr, er hatte verloren, unzählige Jahre und seinen Verstand.

Indem Smoky die Grundsteuern auf Toms Anwesen bezahlte, hatte er sich eine Art Pufferzone geschaffen und verhindert, dass irgendjemand anderes dort einzog und sein Geheimnis entdeckte.

Morio bremste und bog links ab. Die Straße zum Haus war geschottert, und Blaubeeren und Dornenranken kratzten das vorbeifahrende Auto mit ihren kahlen Zweigen. Wie Wachposten ragten dunkle Douglasien darüber auf, und zu ihren Füßen drängten sich alle möglichen anderen Bäume. Weidenröschen und Blumen schliefen natürlich längst und warteten auf den Kuss des Frühlings, der sie wecken würde, wie so viele andere Prinzessinnen. Der Winter hatte das Land fest im Griff, dicker Nebel stieg vom Boden auf und rollte über die Flecken hinweg, wo der Schnee noch nicht geschmolzen war. Wir waren jetzt nah am Berg, und diese Gegend würde in wenigen Tagen unter einer dichten Schicht kalter, weißer Flocken liegen.

Um eine Biegung nach links gelangten wir zu einem alten Haus mit einer kreisrunden Auffahrt. Toms alte Pick-ups standen noch da, rostig und aufgebockt, aber das Anwesen strahlte eine Leere aus, gegen die seine im Vorgarten verstreuten Habseligkeiten nichts ausrichten konnten.

»Hier wohnt jemand«, sagte Camille plötzlich und straffte die Schultern. »Seht ihr? Aus dem Kamin steigt Rauch auf.«

Morio hielt an und schaltete den Motor aus. »Smoky vielleicht? Könnte doch sein, dass er in Menschengestalt gern vor einem schönen, warmen Feuer sitzt.«

»Kann sein«, sagte Camille, »aber davon sollten wir nicht ausgehen. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.«

Zachary schluckte hörbar; seine Miene war eine ausdruckslose Maske, unter der ich gerade noch seine Furcht erkennen konnte. »Sagt mal, mögen Drachen eigentlich Pumas?«, fragte er mit leicht zitternder Stimme.

»Äh, meinst du damit, ob sie gern Pumas fressen?«, entgegnete ich.

Er nickte. »Ja – ich glaube, das habe ich damit gemeint.«

Camille drehte sich grinsend um und sagte: »Drachen bevorzugen Kühe als Mahlzeit, und Jungfrauen zu allen anderen Zwecken. Du bist keine Kuh, in dieser Hinsicht bist du also relativ sicher. Was die Jungfräulichkeit angeht...  « Sie ließ den Satz unvollendet, und er errötete, als sie ihm freundlich zuzwinkerte.

»Irgendwie glaube ich nicht, dass Smoky ein durchschnittlicher, alltäglicher Drache ist«, sagte ich lachend.

Camille ging auf das Haus zu. »Tja, ich bezweifle, dass es so etwas wie einen durchschnittlichen, alltäglichen Drachen überhaupt gibt. Also schön, sehen wir nach, wer da drin ist, Leute.«

Morio und Camille gingen voran und bereiteten ihren Angriff vor – nur für den Fall, dass wir einen unerwünschten Hausbesetzer vorfinden sollten. Da es gar keine gute Idee war, zwischen Camille und ihr anvisiertes Opfer zu geraten, blieb ich mit Zachary ein wenig zurück.

Während wir uns dem Haus näherten, fiel mir auf, dass es ordentlicher aussah als früher. Jemand hatte sich die Zeit genommen, ein Blumenbeet vor dem Haus von Unkraut zu befreien, und seit Toms Auszug war auch die Vordertreppe repariert worden. Smoky? Nein – der war wohl kaum der Typ, der gern den Heimwerker spielte. Oder doch?

Camille dachte offenbar genau dasselbe, denn sie drehte sich mit einem verblüfften Gesichtsausdruck zu mir um und zuckte dann mit den Schultern. Als sie und Morio gerade die Treppe hinaufschlichen, wurde krachend die Haustür aufgestoßen, und ein seltsam aussehender Mann erschien, bekleidet mit einer Art Mittelalter-Leggings und einem langen Kittel. Seine Augen leuchteten auf, als er uns sah, und er breitete die Arme aus.

»Die D’Artigo-Schwestern sind gekommen, Georgio zu besuchen! Aber wo ist eure dritte Schwester? Ach, ja richtig, sie ist krank, sie kann nicht herauskommen, wenn es hell ist«, sagte er und eilte über die Veranda, um uns willkommen zu heißen.

»Na so was, wenn das nicht Georgio Profeta ist!« Ich lächelte ihn strahlend an. »Wie geht es Ihnen heute, Sankt Georg?«

Sankt Georg – für den hielt er sich nämlich – warf uns einen wissenden Blick zu. »Nun, ich halte natürlich Wacht über den Drachen. Er ist ein verschlagenes Exemplar, listig und trickreich. Ich weiß, dass er hier herumgeschlichen ist, und eines Tages, wenn er es am wenigsten erwartet, schlage ich zu. Bis dahin spiele ich ihm etwas vor und lasse ihn in dem Glauben, ich wüsste nicht, was er eigentlich damit bezweckt, mich hier draußen anzusiedeln.«

Mich hier draußen...  Ihr guten Götter, was hatte Smoky getan? Georgio Profeta, der selbsternannte Drachentöter, war schon seit mehreren Jahren hinter Smoky her, wenn wir die Geschichte recht verstanden hatten. Natürlich hatte er nicht den Hauch einer Chance, Smoky auch nur den kleinen Finger zu brechen, ganz zu schweigen davon, »die Bestie zu töten«. Aber Smoky schien ein weiches Herz für den verwirrten Mann zu haben, der den Kontakt zur Realität längst verloren hatte.

Camille und ich wechselten einen kurzen Blick, und sie eilte auf ihn zu. »Sankt Georg, das ist brillant! Ich bin sicher, er schöpft nicht den geringsten Verdacht. Haben Sie das Haus ganz allein so schön hergerichtet?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Als meine Großmutter letzten Monat gestorben ist, wollte der Drache mich hier herauslocken; hinter geheuchelter Freundschaft wollte er seine Absicht verbergen, mich stets im Auge behalten zu können. Also wandte ich seine eigene List gegen ihn. Er hat mir geholfen, das Haus in Ordnung zu bringen, und mir gesagt, ich dürfte hier wohnen, solange ich will. Natürlich will er dafür sorgen, dass er stets weiß, wo ich bin. Ich habe Drachen erschlagen, ich habe Prinzessinnen verführt. Ich habe...  « Plötzlich verlor er den Faden und verschwand hinter einem stummen Schleier verwirrter Gedanken. Es war, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet.

In diesem Moment erschien Smoky am Rand der Lichtung. Er war in seiner menschlichen Gestalt, und das war auch gut so, denn im Vorgarten war nicht allzu viel Platz für einen Drachen. Rasch kam er auf uns zu. Er war groß, mit langem, silbernem Haar und frostfarbenen Augen, passend zu seiner milchweißen Haut; er sah umwerfend aus, zeitlos in einem Zeitalter, das viel zu schnell dahineilte. Seine Bewegungen waren elegant und arrogant. Er bedachte uns mit einem warnenden Blick, dessen Bedeutung leicht zu erraten war – Haltet die Klappe, sonst... –, bevor er nach Georgios Hand griff.

»Wie ich sehe, ist Sankt Georg wieder einmal geistig abwesend«, sagte er und führte den Mann ins Haus. Camille und ich wechselten einen Blick, zuckten mit den Schultern und gingen ihm nach. Zachary und Morio folgten uns.

Als wir das Haus betraten, erinnerten Möbel und Einrichtung noch an Tom, doch Georgio hatte definitiv die Herrschaft übernommen. Drucke und Poster des heiligen Georg im Kampf gegen den Drachen schmückten die Wände, und an einer Schneiderpuppe in der Ecke des Wohnzimmers hing seine Kettenrüstung aus Plastikringen.

Smoky führte Georgio zu einem Sessel und half ihm, sich zu setzen. Dann pfiff er eine seltsame Melodie, und gleich darauf erschien eine ältere Dame aus der Küche. Sie trug eine Schürze über einem Hauskleid mit Blumenmuster, und ihr langes, graues Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten und hochgesteckt.

»Ich möchte Ihnen ein paar Freunde von mir vorstellen«, sagte Smoky. »Estelle, das sind Camille, ihre Schwester Delilah, dies ist Morio, und...  du musst Zachary sein?« Er verneigte sich knapp vor Zach, der ihn völlig perplex anstarrte.

»Sind die auch Drachen?«, fragte Estelle und musterte uns prüfend.

»Nein«, antwortete Smoky. »Sie sind keine Drachen. Sie können Ihnen gern erzählen, was sie sind, falls sie das möchten, aber das liegt ganz bei unseren Gästen. Georgio hat wieder eine seiner dissoziativen Episoden, fürchte ich. Würden Sie ihn auf sein Zimmer bringen und sich um ihn kümmern?«

Mit einem zustimmenden Brummen nahm sie Georgio am Arm und führte ihn sanft hinaus.

Smoky sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. »Ihr seid pünktlich. Sehr schön.«

»Moment mal«, sagte ich. »Nicht so schnell. Wer ist Estelle, und warum wohnt Georgio hier draußen?«

Smoky warf mir einen langen, kühlen Blick zu. »Du betrachtest das als deine Angelegenheit, ja?«

Mir gefror fast das Blut in den Adern, und ein lebhaftes Bild stand mir vor Augen: Das kleine Kätzchen schlägt mit der Pfote nach der gewaltigen Bestie und merkt rasch, dass das keine so gute Idee war.

Einen Augenblick später sagte er: »Wenn du es unbedingt wissen willst – Estelle hat für Georgios Großmutter gearbeitet und sich seit Jahren auch um ihn gekümmert. Als ich ihn vor ein paar Wochen vor dem Haus gefunden habe – er hat geweint, weil seine Großmutter gestorben war –, da bin ich in die Stadt gefahren und habe mich mal mit Miss Dugan unterhalten. Sie hat sich bereit erklärt, hier herauszukommen und sich um ihn zu kümmern. Seine Großmutter hat ihm nichts hinterlassen, und er hat keine weiteren Angehörigen mehr. Da Georgio nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, habe ich ihm dieses Haus zum Wohnen angeboten, einen gewissen monatlichen Betrag für Essen und Kleidung und ein Gehalt für Estelle, das ihr gestattet, etwas fürs Alter zurückzulegen – nun, was von ihrem Alter eben noch übrig ist.« Er wies zur Tür. »Gehen wir. Die Schleier müssen während des Nachmittags geteilt werden.« Er gesellte sich zu Camille und sagte über die Schulter hinweg zu mir: »Und ehe du fragst, ja, die Frau weiß, dass ich ein Drache bin. Und nein, das beunruhigt sie nicht weiter.« Besitzergreifend schlang er einen Arm um Camilles Schultern und führte uns hinaus. Und mehr gab es zu dem Thema nicht zu sagen. Ich war nicht dumm – ich wusste, wann ich aufhören musste nachzubohren.

Wir folgten Smoky durchs Gebüsch.

»Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Zachary, der sich neben mir einreihte, als wir den Wald betraten.

»Nun sind wir schon so weit gekommen. Verdammt will ich sein, wenn ich jetzt umkehre.« Ich ließ mir noch einen Moment Zeit und sprach dann zögerlich etwas an, das nur ein unangenehmes Thema werden konnte. »Zach, ich muss dich das fragen, bitte sei nicht beleidigt. Wie gut kennst du die anderen in deinem Clan? Ist jemand neu zum Rudel dazugekommen? Würdest du jedem von ihnen dein Leben anvertrauen?«

Er blinzelte. »Warum? Hegt ihr den Verdacht, dass einer von uns nicht ganz aufrichtig ist?«

»Ich muss das nur wissen. Vertrau mir bitte – es ist wichtig.« Ich wollte ihm von der Werpuma-Energie auf unserer Veranda erzählen, aber Camille hatte mich ja gewarnt, das nicht zu tun.

Zachary starrte zu Boden; er wirkte erschöpft und verwirrt. »Um ganz ehrlich zu sein – ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Wir haben tatsächlich ein paar neue Mitglieder, entfernte Verwandte, die in den vergangenen Monaten aus anderen Clans zu uns gekommen sind. Selbstverständlich nehmen wir unsere Verwandten auf. Ich wünschte nur, ich wüsste, was da vorgeht. Wenn ich mehr wüsste, könnte ich deine Frage vielleicht besser beantworten.«

Ich dachte an unsere eigenen familiären Probleme, zu Hause in der Anderwelt, und sagte: »Manchmal wirst du niemandem als dir selbst vertrauen können. Manchmal steht die Welt plötzlich kopf, und du kannst nichts weiter tun, als dich gut festzuhalten und zu hoffen, dass du heil wieder da herauskommst.«

Zach warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich nehme an, du hast selbst Probleme?« Er trat mit einem großen Schritt über eine Brombeerranke hinweg, die mitten aus dem Pfad spross.

»Glaube mir, wir stecken alle bis zum Hals in der Scheiße.« Ich blickte mich um. Der Pfad war förmlich zugewuchert, seit wir zum ersten Mal hier draußen gewesen waren. Vielleicht war Titania weitergezogen, und das Land verwilderte. Vielleicht ermunterte Smoky auch den Wald, die Pfade zurückzuerobern.

Ich schüttelte den Kopf. »Mach dir unseretwegen keine Gedanken. In unserem Leben läuft immer irgendetwas schief. Konzentrieren wir uns lieber auf deine Situation. Du sagst, ihr hättet ein paar neue Mitglieder. Weißt du wirklich alles über sie, das es zu wissen gibt? Wäre es möglich, dass einer von ihnen sich mit dem Jägermond-Clan angelegt hat, ehe er sich dem RainierRudel angeschlossen hat?« Ich versuchte, irgendeinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen den Dämonen, den Werspinnen und den Angriffen auf das Rainier-Rudel zu finden.

»Ich weiß es nicht. Ich könnte mich ja mal umhören«, sagte er.

»Wenn du möchtest, kommen wir zu euch raus und erklären die Situation.« Mir kam der Gedanke, dass wir mehr Mitglieder des Rudels kennenlernen sollten – vielleicht würden wir es spüren können, wenn jemand mit dem Feind zusammenarbeitete. Aber Zach schaffte es, diese Idee niederzumachen und mein Ego in den Boden zu stampfen, und zwar in einem Atemzug.

Mit flammenden Wangen sagte er: »Delilah...  äh...  mehrere Mitglieder haben darum gebeten, euch nicht noch einmal in unsere Siedlung einzuladen. Obwohl Venus euch willkommen geheißen hat, haben einige dagegen gestimmt, dich und deine Schwestern erneut unser Land betreten zu lassen. Es tut mir leid. Ich habe wirklich versucht, die Wogen zu glätten.«

»Was zum Teufel hast du da gerade gesagt?« Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Nur damit es keine Missverständnisse gibt – wollen die uns nicht haben, weil wir Fremde sind oder weil...  wir sind, wer wir sind?«

Er wich meinem Blick aus. »Bitte glaub nicht, ich würde genauso denken, denn das tue ich nicht. Aber es hat Gerede gegeben...  einige Clanmitglieder glauben, ihr wärt...  kein guter Einfluss. Sie mögen keine Vampire, und Camille trauen sie nicht über den Weg, weil sie so unverhohlen sexy ist, und...  «

»Sprich weiter«, sagte ich in Erwartung des endgültigen Tiefschlags.

»Na ja, dich mögen sie nicht, weil du...  weil du kein echtes Werwesen bist.« Den Rest stieß er als wirres Stammeln hervor: »Du bist nur aufgrund eines Geburtsfehlers ein Gestaltwandler, also fließt in deinen Adern nicht das wahre Blut. Ich schätze, sie betrachten dich als unnatürlich. Venus und ich haben versucht, es ihnen zu erklären, aber einige Mitglieder sind eben schon älter und in ihrer Denkweise festgefahren.« Abrupt verstummte er und trat schweigend von einem Fuß auf den anderen.

Wie vor den Kopf geschlagen von dieser Zurückweisung, sog ich scharf den Atem ein und blies ihn langsam wieder aus; zu meiner Überraschung spürte ich, wie mir Tränen in die Augen steigen wollten.

»Ach so«, sagte ich mit der eisigsten Stimme, zu der ich fähig war. Wut kochte in mir hoch. Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgekehrt und zum Auto zurückgelaufen. Sollte das RainierRudel seine beschissene Schweinerei doch selber aufräumen.

»Habe ich dich recht verstanden?«, sagte ich, sobald ich sprechen konnte, ohne in Tränen auszubrechen. »Ihr wollt unsere Hilfe, aber ihr wollt uns nicht in eurer Nähe haben. Wie ungeheuer großzügig. Wie gütig von euch, uns zu erlauben, dass wir uns für euer verfluchtes Rudel in Lebensgefahr bringen, und trotzdem verächtlich auf uns herabzuschauen. Eines kann ich dir sagen: Bei allem, was ich weiß, würden wir, wenn es nach mir ginge, die Finger von dieser Sache lassen. Ihr werdet sicher allein mit ein paar Morden fertig – bisher habt ihr die Situation ja auch ganz großartig im Griff gehabt!«

»Nein!« Er sah elend aus, und ich hoffte nur, dass er sich auch so fühlte. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich das nicht so sehe –«

»Ach so, schon klar. Du sprichst nicht für dich selbst, nur für den ganzen Rest deines Rudels. Deine verehrte Familie ist bereit, unsere Hilfe anzunehmen, weil sie völlig unfähig ist, sich selbst zu helfen, aber ihr wollt uns nicht erlauben, euer Revier zu betreten, weil wir Abschaum sind? Ich will dir mal was sagen – ich schaue vielleicht alberne Talkshows an und esse Fast Food, aber ich entstamme einer stolzen, angesehenen Familie.«

»Delilah – bitte –« Ein Hauch von Panik schwang in seiner Stimme mit.

»Ach, halt die Klappe! Wie gesagt, ich würde auf der Stelle kehrtmachen und nach Hause gehen, wenn da nicht eine hässliche Kleinigkeit wäre. Eure Situation ist zu unserem Problem geworden. Einer meiner Freunde, ein Streuner aus der Nachbarschaft, wurde ermordet, als Warnung an uns. Er wurde ausgesaugt und so hingehängt, dass ich ihn finden musste, mit einem Zettel, auf dem stand, dass ich mich da heraushalten sollte.«

»Gib meinem Volk nicht die Schuld daran, was der Jägermond-Clan verbrochen –«, begann er, doch ich hatte endgültig genug.

»Aber die Spinnen haben das nicht allein getan! Über der ganzen Sauerei hing sehr starke Katzenmagie. Ein Werpuma war mit dem Dreckskerl im Bunde, der den armen Cromwell aufgehängt hat!«

Mein plötzlicher Ausbruch drang bis zu den anderen. Als sie sich umdrehten und mich anstarrten, wurde mir klar, dass ich soeben eines unserer Geheimnisse ausgeplaudert hatte, aber das war mir gleich. Das Einzige, was jetzt zählte, war die Frage, wie wir möglichst unbeschadet aus dieser Notlage wieder herauskamen. Wir hatten ein Degath-Kommando unschädlich zu machen, und warum die Höllenspäher sich mit dem Jägermond-Clan verbündet hatten, spielte im Grunde keine Rolle. Alles, worauf es ankam, war, die Dämonen aufzuspüren und zu töten.

Zach schnappte nach Luft und griff nach meinem Arm. »Ein Werpuma? Davon hast du mir nichts gesagt! Hast du mich deshalb gefragt, ob ich allen vertrauen könnte –«

Ich schüttelte seine Hand ab. Erinnerungen daran, wie wir als Kinder stets wegen unserer Abstammung gehänselt worden waren, stiegen in mir auf; die Bilder und Beschimpfungen waren noch allzu frisch.

»Fahrt zur Hölle, du und dein ganzer scheinheiliger Clan. Wenn wir herausgefunden haben, wer eure kostbaren Angehörigen ermordet hat, könnt ihr uns für unsere Arbeit bezahlen, und dann werden wir eure Schwelle nie wieder mit unserer Gegenwart besudeln.«

Smoky machte plötzlich kehrt, trat zu uns und packte uns beide bei den Ohren. »Ihr haltet hier den Betrieb auf. Verschiebt euren Streit auf später. Habt ihr verstanden?«

Ich starrte zu dem Drachen auf. Sein Blick war wie eine Gletscherspalte in einem gefrorenen Ozean. Smoky meinte es ernst, und ich hatte das Gefühl, dass er nicht zögern würde, gewalttätig zu werden, falls wir nicht gehorchten.

»Schön«, sagte ich. »Gehen wir.« Ich riss mich los und marschierte weiter. Der Drang, mich zu verwandeln, war stark, aber ich versuchte, ihn zu ignorieren. Ich wollte nur noch davonlaufen und Motten jagen und den ganzen Stress und die Spannungen vergessen, aber dies war nicht der richtige Ort, um mein Kätzchen zum Spielen rauszulassen.

Ich kämpfte mit mir, zwang mich, in den Wald zu starren und an den Julbaum zu Hause zu denken, und wie schön Iris ihn schmücken würde, und an Chase und wie viel ich ihm bedeutete. Ich tat alles, um mich abzulenken. Schließlich atmete ich tief durch, ließ den Zorn los und versprach mir, dass ich das PumaRudel zum Teufel schicken würde, sobald wir wieder zu Hause waren.

Während wir durch den Wald trotteten, versuchte Zach mich anzusprechen, aber ich lief schneller und hielt mich nur ein paar Schritte hinter Camille und Morio.

Die Zweige der riesigen Tannen und Zedern bildeten ein verwobenes Dach hoch über dem Weg, so dicht, dass es viel vom späten Nachmittagslicht ausschloss. Wacholder, Blaubeeren und Rebhuhnbeeren bedrängten die Stämme, doch selbst die Büsche sahen erschöpft und zerzaust aus. Der Boden war mit gefrorenen Blättern und braunen Tannennadeln bedeckt, und hier und da schimmerte noch ein Fleckchen Schnee, wo die Sonne nicht hingedrungen war. Der Pfad war von Baumwurzeln durchzogen, die aus der Laub- und Nadeldecke hervorragten.

Als wir uns tiefer in den Wald vorwagten, wurden die Bäume dunkler, als wäre seit unserem letzten Besuch hier so etwas wie ein Bewusstsein erwacht, das den Wald durchdrang. Diese Präsenz fühlte sich wachsam und alt an, ursprünglich auf diese Art, die den Wäldern der Erdwelt zu eigen war. Sie waren viel weniger einladend als die Wälder der Anderwelt, und so gern ich mich auch draußen aufhielt – ich war immer vorsichtig, wenn ich hier durch die Landschaft strich. Sogar die Pfade, die über unser eigenes riesiges Grundstück führten, strahlten diese wachsame, argwöhnische Energie aus.

Immer wieder glaubte ich, aus den Augenwinkeln geheimnisvolle Geschöpfe zu sehen, die sich hier und da hinter einem moosbedeckten Baumstamm oder einem abgebrochenen Ast versteckten. Jedes Mal, wenn ich meine Aufmerksamkeit in die Richtung dieser wachsamen Augen lenkte, war nichts zu sehen außer einem Blatt, das in der Brise zitterte.

Die meisten VBM verwechselten Feen mit Naturgeistern. Die beiden Arten hatten zwar ähnliche Wurzeln, waren aber ansonsten völlig verschieden. Das Volk meines Vaters war menschenähnlicher als Naturgeister, die oft wunderlich und unberechenbar waren und deren körperliche Gestalt jeden Gedanken an Menschenähnlichkeit meilenweit hinter sich ließ. Naturdevas nahmen oft die Eigenschaften der Pflanzen an, mit denen sie verbunden waren, und die meisten trauten weder den Menschen noch den Feen über den Weg.

Ich holte tief Luft, zwang mich, schneller zu laufen, und holte Camille ein. Smoky marschierte mit langen Schritten voraus. Morio ließ sich zurückfallen, um mit Zach zu reden, und die beiden unterhielten sich im Flüsterton. Ich fragte mich, worüber, aber mein Stolz verbat mir, danach zu fragen.

Ein Huschen und Rascheln neben dem Pfad verkündete die Anwesenheit eines Hundes oder Kojoten, aber ich spürte keinerlei magische Ausstrahlung. Was auch immer da draußen war, ging auf vier Beinen und konnte vermutlich auch nichts daran ändern. Je tiefer wir in den Wald vordrangen, desto kälter wurde es, und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch. Ein Blick in den Himmel versprach frischen Schnee.

»He, Kätzchen, Kopf hoch.«

Camille sprach mich nur selten mit Menollys Spitznamen an, und ich wusste: Wenn sie das tat, war sie besorgt um mich.

»Es ist nur...  ich mochte ihn, Camille. Ich hatte ihn gern, und jetzt muss ich erfahren, dass seine Kumpel uns für Abschaum halten. Es ist genau wie früher zu Hause. Windwandler, das ist alles, was wir je waren und was wir je sein werden.« Die Worte schmerzten tief, als sie mir über die Lippen kamen, und hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.

»Weißt du noch, was Venus dir gesagt hat? Schäme dich nicht, ein Windwandler zu sein. Wir sind Töchter des Schicksals, Süße, und das ist nun mal keine leichte Aufgabe. Aus irgendeinem Grund sind wir dazu auserwählt worden, gegen Schattenschwinge zu kämpfen. Ja, das ist beängstigend, aber wir hätten nie den Mut, uns ihm entgegenzustellen, wenn wir eine leichte Kindheit gehabt hätten. Wir haben gelernt, für uns einzustehen, weil wir dazu gezwungen waren. Jetzt stellen wir uns Dämonen entgegen, weil es das ist, wozu wir geboren wurden.«

Sie legte einen Arm um meine Taille und drückte mich an sich. »Delilah, ganz gleich, was geschieht, du wirst immer Menolly und mich auf deiner Seite haben. Wir werden immer für dich da sein, und wir werden dich immer lieben. Wir sind deine Familie, egal wo wir zufällig gerade leben. Vater liebt dich auch. Und Tante Rythwar. Und Iris und Maggie.«

Ich blickte in ihr Gesicht. Camille konnte manchmal sehr ichbezogen sein, aber wenn sie von Herzen sprach, dann entsprangen ihre Überzeugungen einer sprudelnden Quelle der Leidenschaft, an der man unmöglich zweifeln konnte. Ich beugte mich hinab und küsste sie auf die Stirn.

»Du warst schon immer ein Vorbild für mich«, flüsterte ich. »Du wirst mit allem spielend fertig, tust die Beleidigungen mit einem Lachen ab, und du hast so eine Scheiß-auf-euch-Haltung – ich wünschte wirklich, davon könnte ich mir eine Scheibe abschneiden.«

»Ich habe gehört, was Zachary gesagt hat.« Camille seufzte. »Wenn die Dämonen nicht wären, würde ich sagen, scheiß drauf, wir gehen nach Hause. Aber sie sind darin verwickelt, also sind wir es auch.«

Ich hakte mich bei ihr unter. »Verdammt, warum muss eigentlich alles so kompliziert sein? Chase respektiert mich wenigstens. Und das ist mir schon viel wert.«

Camille nickte. »Chase hat sich als besserer Kerl entpuppt, als ich dachte. Ich verstehe zwar immer noch nicht, was du an ihm findest, aber, na ja...  Du würdest Trillian ja auch nicht mit der Kneifzange anfassen«, fügte sie lachend hinzu.

»Das kannst du laut sagen«, brummte ich und erwiderte ihr Grinsen. »Okay, und jetzt schieben wir diesen ganzen Mist beiseite, bis wir hier fertig sind. Dann kann ich mir überlegen, was ich wegen Zach unternehmen will. Wenn überhaupt.«

Wir erreichten das Ende des Waldpfades und blickten auf die kahle Lichtung hinaus, auf der Smokys Grabhügel stand. Die Bäume schwankten, knarrend rieben sich die Äste aneinander, und die ganze Wiese glitzerte vor Rauhreif – ein feines Muster breitete sich prachtvoll vor uns aus, so kompliziert und riesig, dass ich den Fäden aus Eis, die den Boden überzogen, kaum folgen konnte.

Ich suchte nach Hinweisen auf Titania, aber sie war nirgends zu sehen, und ich beschloss, Smoky lieber nicht zu verärgern, indem ich mich nach ihr erkundigte. Ich hatte mein Kontingent an Fragen für heute schon aufgebraucht, und wir nahmen zwar an, dass er keine Menschen fraß, aber er hatte das nie ausdrücklich gesagt.

Smoky blieb auf dem alten Grabhügel stehen und bedeutete uns zurückzutreten. »Ich werde jetzt die Schleier zwischen dieser Welt und dem Reich des Herbstkönigs teilen und ihn herbeirufen. Er wird kommen – oder auch nicht, ganz wie es ihm beliebt. Aber falls er kommt, denkt daran: Ich habe keinerlei Macht über ihn. Und haltet euch von dem Flammenschleier fern; er wird euch zu Kohle verbrennen, wenn ihr ihn berührt.«

Smoky schenkte uns noch ein freches Grinsen, und dann – obwohl er seine menschliche Gestalt beibehielt – schwand jeder Anschein der Menschlichkeit von ihm. Wie eine Eissäule stand er da, glitzernd und kalt und fesselnd. Ich hörte Camille nach Luft schnappen, sie legte eine Hand an die Kehle, stand aber ansonsten völlig reglos da und starrte ihren zukünftigen Liebhaber an.

Smoky warf den Kopf zurück und lachte, und seine Stimme hallte wie Donner über den Wald dahin. Einen Augenblick lang glaubte ich, er sei besessen, doch dann warf er uns einen durchdringenden Blick zu, und seine Augen – glitzernd wie Diamanten – spiegelten das Nordlicht, das am plötzlich verdunkelten Himmel waberte.

Er hob die linke Hand gen Himmel, und ein Blitz fuhr zuckend in seinen Arm und hüllte ihn in eine bläulich weiße, flammende Aura. Camille fiel auf die Knie, einen Ausdruck von Ehrfurcht und Begehren auf dem Gesicht, aber Smoky nahm keine Notiz von ihr.

»Dracon, dracon, dracon... Ich rufe das Feuer der Götter herab, ich rufe die Flamme meiner Väter, und ich rufe die frostige Klinge der Hel aus dem Land der Toten. Sprengt das Tor. Flamme meines Blutes, durchbrich die Grenze.«

Mit der rechten Hand zeichnete er ein kobaltblaues Pentagramm auf die Hügelkuppe. Ein Lichtschleier begann im Zentrum des Zeichens zu schimmern.

»Macht euch bereit«, sagte er mit Donnerstimme zu uns. Ich sah ihn an, und seine Drachengestalt schien seinen menschlichen Körper zu umhüllen wie feiner Nebel – als hätte er seine natürliche Gestalt angenommen, aber zugleich die menschliche beibehalten.

Wir drängten uns zusammen und warteten, während Smoky in einer geheimnisvollen Sprache, die ich nicht verstand, eine Anrufung sprach. Sein Sprechgesang war harmonisch, und seine Worte wurden zum Stakkato-Rhythmus eines wildgewordenen Trommlers, während die Flammen der Rune zu tanzen begannen. Schimmernde Lohen in Azur, Kobalt und Saphir wirbelten herum, verschwammen miteinander und formten einen leuchtenden Schleier vor dem düsteren Himmel. Und dann hob sich seine Stimme, und der Vorhang aus Flammen teilte sich.

»Herbstkönig, ich rufe Euch. Kommt herbei, jetzt!«

Und dann war durch die Flammen das Flackern einer Silhouette zu erkennen. Anscheinend hatte der Herbstkönig beschlossen, unserem Ruf zu folgen.