Kapitel 3

 

Deine Schwester?« Ich fühlte mich elend und legte den Stift weg. Instinktiv streckte ich den Arm aus und griff nach seiner Hand. »Ach, Zachary, das tut mir so leid. Ich weiß nicht, was –«

Er starrte einen Moment lang auf meine ausgestreckte Handfläche und strich dann leicht mit den Fingern darüber. »Nicht. Bitte nicht. Du kannst nichts sagen, das mich trösten könnte. Sie ist fort, wir können ihr nicht mehr helfen. Aber du kannst den Bastard finden, der das getan hat. Das macht sie nicht wieder lebendig, aber auf mehr kann meine Familie nicht mehr hoffen.«

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, und räusperte mich unsicher. »Wie war sie denn? Hattie, meine ich? Erzähl mir von ihr.«

Er lächelte – nur ganz dünn, aber es reichte, um die düsteren Schatten von seinem Gesicht zu vertreiben. »Hattie war eine von diesen Frauen, die einfach geborene Mütter sind. Weißt du, welche Sorte ich meine? Sie hatte noch keine eigenen Kinder, aber jeder, der sie kannte, war ganz sicher, dass sie sich bald niederlassen und einen Wurf großziehen würde. Hattie wohnte bei unserer Mutter. Vater ist tot. Irgendein Idiot hat ihn vor drei Jahren bei Vollmond erschossen. Wir können nur vermuten, dass Vater gerade eine gute Mahlzeit verfolgt hat, und der Idiot, der zwischen ihn und seine Beute kam, glaubte, er wollte ihn angreifen. Er hat ihn mit drei Kugeln getötet. Vater konnte sich ins Gebüsch retten und hat sich dort versteckt, bis er starb. Der Idiot ist sicher einfach weggerannt, ohne nachzusehen – vermutlich dachte er, er wäre gerade dem Tod entronnen.«

»Wer hat deinen Vater gefunden?«, fragte ich und starrte dabei auf den Schreibtisch. Offenbar war das Leben überall hart und grausam. Ich hatte es in der Anderwelt schon für schlimm gehalten, aber obwohl es hier viel mehr gesellschaftliche Regeln gab, war es trotzdem ein hartes Leben, das gut zu bewältigen wohl eine Kunst war.

»Hattie und ich, am nächsten Morgen. Er war verblutet.« Zachary seufzte tief. »Jedenfalls ist Hattie nach seinem Tod bei Mutter geblieben. Sie hatte einen festen Freund, einen Jungen aus unserer Siedlung. Nathan heißt er. Nate hat auch nie gelernt, als Mensch durchzugehen, und ich glaube, er will das auch gar nicht. Er erledigt für eine Menge Leute im Revier alle möglichen Reparaturarbeiten, und dafür geben sie ihm Essen und so weiter...  was er eben braucht.«

»Sie war also verlobt«, murmelte ich.

»Ja. Hattie hatte nie hochtrabende Pläne. Sie war mit einem einfachen Leben zufrieden. Sie war stolz darauf, wer sie war. Ein Mitglied des Rainier-Rudels. Und es war ihr sehr wichtig, unsere Blutlinie und unser Erbe zu bewahren.« Er stand auf, trat ans Fenster und starrte in die Gasse hinunter. »Die Hochzeit sollte nächsten Monat stattfinden, aber dann fingen diese Morde an. Erst Sheila, dann Darrin und Anna. Und dann Todd.«

»Und dann ist Hattie ums Leben gekommen, und du fandest, dass es so nicht weitergehen kann.« Ich kritzelte einen Kreis aufs Papier und fragte mich, ob er auch dann in meinem Büro sitzen würde, wenn das letzte Opfer kein Mitglied seiner Familie gewesen wäre.

Er wandte sich um und sah mich mit verletzter Miene an. »Denkst du das von mir? Dass ich nur hier bin, weil sie meine Schwester war? Du hast keine besonders hohe Meinung von mir, was?«

Ich fühlte mich etwa fünf Zentimeter groß und schüttelte betreten den Kopf. »Entschuldigung. So habe ich das nicht gemeint.« Hatte ich schon, aber das würde ich nicht zugeben. Eine Menge egoistischer Leute waren schon über meine Türschwelle getreten, da war es nur allzu leicht, vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

Zachary verzog das Gesicht. »Ich wollte dir nicht gleich an die Kehle gehen. Ich bin nur seit ein paar Wochen so angespannt. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast. Und die Antwort auf deine Frage lautet Nein. Ich wollte schon zu dir kommen, nachdem wir Anna und Darrin gefunden hatten und uns klar wurde, dass der Mord an Sheila kein einmaliger Unglücksfall war. Die Ältesten haben mich überstimmt. Nach Vaters Tod habe ich seinen Platz im Rat eingenommen, und sie hören mir zwar durchaus zu, halten mich aber immer noch für zu jung, als dass man mich ernst nehmen müsste.«

Aha. Wieder die Rangfolge. Zacharys Stellung am Totempfahl war niedrig, und er würde sich mit Klauen und Zähnen den Weg nach oben erarbeiten müssen.

»Nachdem Todd ermordet wurde«, fuhr er fort, »haben sie das erste Mal daran gedacht, jemanden von außen zu holen. Und dann wollte Hattie einen Spaziergang machen und ist nie zurückgekehrt. Da hat der Rat endlich eingesehen, dass wir Hilfe brauchen. Jemand ermordet unsere Leute, und wir müssen herausfinden, wer es ist, und ihn aufhalten. Für Hattie ist es zu spät, verdammt«, sagte er und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, »aber für das nächste Opfer vielleicht noch nicht.«

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, drehte mich herum und legte die Füße aufs Fensterbrett. »Ihr braucht jemanden mit viel Erfahrung. Wie kommst du darauf, dass ich dafür geeignet bin? Ich muss dir leider sagen, dass ich noch recht neu in dem Geschäft bin.«

Gemächlich breitete sich ein Lächeln über Zacharys Gesicht. »Ich glaube, deine Tätigkeit reicht ein gutes Stück weiter, als man auf den ersten Blick sieht. Ich bezweifle, dass dein ›Geschäft‹ nur darin besteht, untreuen Ehefrauen nachzujagen. Ich habe Gerüchte über einen Fellgänger gehört, der in der Nähe eures Hauses ein böses Ende gefunden haben soll. Und man hat Dämonenwitterung bis zu eurer Haustür verfolgt, aber die Dämonen sind da nie wieder herausgekommen. Ich habe euch drei beobachtet. Ihr seid nicht so unauffällig, wie ihr glaubt. Aber richte deiner Schwester Camille aus, dass ihre Banne hervorragend funktionieren. Unser Schamane konnte sie nicht aufheben.«

Mit angehaltenem Atem überlegte ich, wer uns verraten haben könnte. Andererseits war es nicht einfach, den Tod einer Harpyie, eines Psychoschwaflers und eines mächtigen Dämons wie Bad Ass Luke zu vertuschen. Vor allem hier in der Erdwelt. Wir standen auf der VIP-Liste der Klatschpresse. Die Feen galten als angesagt, und wir passten da wunderbar rein.

Offenbar fasste er mein Schweigen als Zustimmung auf. »Wirst du zumindest rauskommen und dich mal umsehen?«

Ich seufzte. Ein scheußliches Gefühl in der Magengrube sagte mir, dass hinter diesem Fall mehr steckte als ein Jäger aus der Nachbarschaft, der es auf Berglöwen abgesehen hatte. Serienmörder folgten bei ihren Taten gern einem bestimmten Muster, und das schien hier definitiv der Fall zu sein. Alle Opfer waren in derselben Gegend gefunden worden, alle bizarr zugerichtet. Dem Zustand der Leichen nach musste es da um mehr gehen als einen gewöhnlichen Mörder, der auf den Geschmack von Puma gekommen war. Vielleicht eine abtrünnige Leichenzunge? Die fehlenden Herzen würden dazu passen.

»Also gut. Ich komme raus und sehe mich um, aber ich kann dir keine Ergebnisse versprechen.« Jetzt kam der schwierige Teil. Ich hatte ein Problem damit, Geld zu verlangen, vor allem von anderen Übernatürlichen. Aber Zachary kam selbst zur Sache, ehe ich mich drucksend und windend dazu zwingen konnte, einen Preis zu nennen.

»Würde ein Vorschuss von fünfhundert Dollar für den Anfang genügen? Du kommst zu uns und siehst dir alles an. Wenn du glaubst, dass du etwas für uns tun kannst, verhandeln wir den restlichen Preis. Wenn nicht, betrachte das Geld als Entschädigung für deine Zeit heute und den Besuch bei uns.« Er strich sich die etwas zu langen Haare aus dem Gesicht, und mir stockte der Atem, als sein Duft zu mir herüberwehte. Erregt schluckte ich, während er fünf Scheine auf den Tisch legte.

Ich schaffte es, cool zu bleiben, und sagte: »In Ordnung. Wäre es euch recht, wenn ich am Samstag komme? So gegen sechs? Ich werde meine Schwestern mitbringen.« Wenn ich den Termin spät genug ansetzte, konnten mich sowohl Camille als auch Menolly begleiten. Ich hatte nicht die Absicht, da ohne Verstärkung reinzugehen, denn wir hatten es nicht mit irgendeinem unbedeutenden durchgeknallten Jäger zu tun. Wer auch immer das Rainier-Rudel dezimierte, war gefährlich und nur allzu tödlich.

»Kein Problem«, sagte er. »Ich rufe dich später an und gebe die Wegbeschreibung durch. Ach, übrigens«, sagte er mit rauher Stimme, »du kannst mich Zach nennen.«

Während ich die Quittung ausstellte, musterte ich ihn unauffällig. Er trug keinen Ehering, doch das bedeutete gar nichts. Ich war nicht sicher, wie Beziehungen und Ehen in seinem Clan geregelt wurden. Katzen waren nicht monogam, aber dies waren erdseitige ÜW, die fast ihr ganzes Leben in der Nähe von Menschen verbrachten – wer konnte wissen, wie persönliche Angelegenheiten bei ihnen so liefen?

Als er die Hand nach der Quittung ausstreckte, hielt er kurz inne, und sein Zeigefinger strich langsam über meinen Handrücken. Ich fühlte mich von einem emotionalen Strudel mitgerissen, der mich völlig überrumpelte. Ich blickte auf, und mein Feen-Glamour schimmerte hervor, ehe ich ihn zurückhalten konnte. Zach stockte der Atem, und er beugte sich vor. Meine Lippen teilten sich unwillkürlich, doch er hielt sich zurück, das Gesicht nur zwei Fingerbreit von meinem entfernt.

»Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe, Delilah D’Artigo.« Und dann, so lautlos wie Schnee, der auf Wasser fällt, schlüpfte er zur Tür hinaus und war verschwunden.

 

Als ich zu Hause ankam, kuschelte Camille auf dem Wohnzimmersofa mit Trillian, ihrem hauptsächlichen Liebhaber. Mit hauptsächlich meine ich von völliger Besessenheit gelenkt, und mit Liebhaber in diesem Fall Svartaner – den Gipfel des Groß, Dunkel und Gefährlich. Mit onyxschwarzer Haut, die leicht schimmerte, langem, silberglänzendem Haar und Augen von der Farbe einer Eisscholle war Trillian schöner, als je irgendein Mann sein sollte. Und das wusste er auch.

Camille gehörte ihm, sie war durch einen Eid der Lust an ihn gebunden. Sie hatte auf die harte Tour erfahren müssen, dass es aus der sexuellen Hörigkeit zu einem Svartaner kein Entkommen gab. Er ließ ihr die Freiheit, die Nächte mit jedem zu verbringen, der ihr gefiel, doch letztendlich gehörte sie ihm mit Haut und Haaren, an ihn gekettet durch eine Magie, die so alt war wie die Zeit selbst.

Ich mochte Trillian eigentlich nicht, stellte aber zunehmend fest, dass er unter dieser kalten, überheblichen Schale tatsächlich ein weiches Herz für meine Schwester hatte.

»Ist Menolly schon wach?«, fragte ich, schnappte mir eine Schüssel Maischips und stopfte mir eine Handvoll in den Mund. Ich liebte Junk Food, ich liebte schrottige Fernsehsendungen, und trotz allen Heimwehs begann ich auch große Teile der menschlichen Kultur zu lieben.

Camille wies mit einem Nicken in Richtung Küche. »Sie füttert Maggie. Iris hat einen Riesentopf Spaghetti gekocht, es ist noch reichlich davon da, falls du Hunger hast. Ich habe schon gegessen.«

Ich hüstelte. Trillians Gesichtsausdruck machte es mir nicht schwer zu erraten, was sie zum Dessert genascht hatte.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich und sauste den Flur entlang. Menolly, mit ihren kupferroten Bo-Derek-Zöpfchen und der vampirbleichen Haut, wiegte Maggie vor dem Herd auf ihrem Schoß, während sie ihr das Fläschchen mit unserer speziellen Gargoyle-Milch gab. Liebevoll gurrte sie der kleinen SchildpattKrypto Unsinn vor. Verflucht, wo war meine Kamera? Wenn ich das auf Film bannen könnte, hätte ich noch jahrelang ein Druckmittel gegen sie in der Hand. Dann fiel es mir wieder ein: Menolly würde auf Fotos nie zu sehen sein. Ein paar der Ammenmärchen über Vampire stimmten tatsächlich.

Stattdessen lehnte ich mich an den Küchentresen und räusperte mich. »Wie geht es unserer Kleinen denn heute?«

Menolly fuhr zusammen, ihre Augen wurden blutrot und nahmen dann rasch wieder ihre normale, eisblaue Farbe an. »Verdammt noch mal, Kätzchen, würdest du bitte irgendein Geräusch machen, wenn du den Raum betrittst? Camille und ich haben dich oft genug gewarnt, dass du dich nicht so an mich heranschleichen darfst! Ich hätte dich verletzen können. Oder Maggie.«

Ach, zur Hölle, ich hatte es schon wieder getan. Ich war eine der wenigen Personen, die Menolly überrumpeln konnten, doch damit setzte ich meine Gesundheit aufs Spiel. Camille trug jetzt noch die Narben am Arm, die bezeugten, was passierte, wenn unsere Schwester erschrak. Aber ich hatte nicht daran gedacht, dass sie in ihrem Schreck Maggie verletzen könnte.

Stirnrunzelnd starrte ich zu Boden. »’tschuldigung.«

Sie setzte Maggie zurück in den Laufstall. »Camille und ich haben dich schon so oft dafür getadelt, dass –«

Das war zu viel. Ich riss mir die Jacke herunter und warf sie auf den Tisch. »Und ich habe es so satt, dass ihr beiden mich tadelt! Ich habe Mist gebaut – es tut mir leid. Ich werde in Zukunft besser aufpassen, aber du musst endlich aufhören, mich zu behandeln wie deine dumme kleine Schwester. Verdammt, Menolly, ich bin älter als du. Ich bin vielleicht nicht so hart und gefährlich wie du, und ich kann keine Blitze schleudern wie Camille, aber deswegen bin ich noch lange nicht dumm. Ich dachte, ich hätte mich laut genug bemerkbar gemacht, als ich in die Küche gekommen bin. Stopp. Offenbar bin ich leiser, als ich dachte. Stopp. Das wird nicht wieder passieren. Stopp. Also hör endlich auf, mich wie eine kleine Idiotin zu behandeln. Ende der Nachricht.«

»Du bist aber heute schlecht gelaunt.«

Ich stieß ein genervtes Seufzen aus, und Menolly zuckte mit den Schultern. »Also schön«, sagte sie. »Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass wir damit deine Gefühle verletzt haben, Kätzchen.«

Sie kapierte es einfach nicht und würde es wohl auch nie kapieren. Manchmal waren Schwestern wirklich nervtötend. »Nicht so wichtig.« Stirnrunzelnd steckte ich mir einen weiteren Maischip in den Mund. »Hör mal, ich habe interessante Neuigkeiten für dich und Camille. Kommst du kurz mit ins Wohnzimmer?«

Nun verzog Menolly unwillig das Gesicht. »Trillian ist da drin«, sagte sie mit einer Miene, als hätte sie einen üblen Geschmack im Mund. Ich warf ihr einen warnenden Blick zu, und sie gab nach. »Ach, schon gut. Gehen wir.«

Ehe ich ihr ins Wohnzimmer folgte, füllte ich einen großen Teller mit Spaghetti und schnappte mir eine Gabel und eine Serviette. Menolly setzte sich auf das Klavier in einer Ecke des Zimmers und warf Trillian fiese Blicke zu. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn auf den Tod nicht ausstehen konnte, aber weder Trillian noch Camille achteten auf sie.

Als ich mich auf einem Sessel niederließ, um den anderen von Zachary zu erzählen, klingelte es an der Haustür. Menolly ging hinaus und kam gleich darauf mit reservierter Miene zurück. Hinter ihr trat eine verhüllte Gestalt ins Wohnzimmer, so lautlos, dass nicht einmal ich mit meinem ausgezeichneten Gehör das Flüstern ihrer Schritte hören konnte.

»Können wir etwas für Euch tun?«, fragte ich, stellte den Teller auf den Couchtisch und erhob mich. Das war kein VBM – Vollblutmensch, meine ich. Und auch keine gewöhnliche Fee. Wir alle konnten die starke, beinahe greifbare Präsenz von Erdmagie im Raum spüren.

»Im Gegenteil, ich bin es, der euch behilflich sein kann«, sprach eine sanfte Stimme in den Falten des Gewands. Die Gestalt schob die Kapuze ihres üppigen Umhangs zurück, und wir starrten plötzlich auf einen Elf. Er war hell und so schlank wie Schilfrohr, mit bleichem Haar von der Farbe der ersten Sonnenstrahlen am Morgen. Er trug ein Stirnband mit einem Wappen, das wir als Symbol von Elqaneve erkannten, dem Hof von Königin Asteria. Das war Trenyth, der Privatsekretär der Königin. Wir hatten seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihm gehört.

Mir stockte der Atem. War dem Geistsiegel etwas zugestoßen? Oder Tom Lane?

»Bitte setzt Euch«, sagte ich und deutete auf den nächsten Sessel.

Trenyth neigte leicht den Kopf, blieb jedoch stehen. »Ich danke Euch, aber ich stehe lieber.« Während er sprach, hielt er den Blick fest auf Menolly gerichtet. »Ich kann nur wenige Augenblicke bleiben, denn Ihre Majestät braucht meine Dienste zu Hause bei Hofe. Doch ich bringe Euch ein Geschenk des Hofes – von unseren Magiern. Königin Asteria hat dies hier für Euch anfertigen lassen.« Er holte einen kleinen Beutel aus waldgrünem Stoff aus der Tasche und reichte ihn mir.

Ich starrte das Beutelchen an. Der Stoff war so weich wie nichts, was ich je zuvor berührt hatte, und er strahlte Magie aus – schwere Magie, geboren aus Erde und Stein, Bein und Kristall. Das Siegel der Königin war auf den Stoff gestickt. Schweigend reichte ich das Beutelchen an Camille weiter.

Sie öffnete es, und ein schillernder, dicker Splitter aus poliertem Kristall kullerte in ihre Handfläche. Einschlüsse strahlten von innen nach außen, wie ein plötzlicher Sonnenstrahl, zu Eis erstarrt. »Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Feuer-und-Eis-Zauber.« Trenyth deutete auf die Sonne, die im Quarz gefangen war. »Dieser Kristall wird jede Tätigkeit von Spionen aufdecken: Fallen, Wachen, Banne und Lauschvorrichtungen, technische wie magische. Wenn die Sonne im Inneren hellrot aufleuchtet, wisst Ihr, dass Ihr Euch in der Nähe einer solchen Vorrichtung befindet. Die Königin hat unsere Magi mit der Herstellung des Kristalls beauftragt, kurz nachdem Ihr vor zwei Monden ihr Audienzgemach verlassen hattet – dies ist das Ergebnis ihrer Mühen.«

Camille seufzte erleichtert auf. »Oh, ich danke Euch, und bitte richtet ihr unseren herzlichen Dank aus. Wir haben im Augenblick nicht viel zu berichten, aber wir bleiben wachsam.«

»Dankt mir noch nicht. Ich bringe Euch außerdem eine Warnung«, sagte er. »Unsere Erdwelt-Informanten haben uns mitgeteilt, dass vor einigen Tagen ein Degath-Kommando eines der Elementar-Portale durchbrochen hat. Die Hüterin des Portals wurde tödlich verwundet. Sie überlebte den Angriff gerade lange genug, um Pentakle, der Mutter der Magie, davon zu berichten. Pentakle versuchte die Eindringlinge zu verfolgen, doch leider verlor sie ihre Spur. Allerdings hat sie Grund zu der Annahme, dass die drei in Richtung Seattle ziehen. Haltet also die Augen offen.«

»O Große Mutter, noch ein Degath-Kommando? Und sie haben bereits getötet? Wisst Ihr zufällig, um was für Dämonen es sich handelt?« Auf einmal hatte ich einen Knoten im Magen. Ein weiterer Kampf stand uns bevor.

Trenyth schüttelte den Kopf. »Da gibt es eine Schwierigkeit. Wir sind nicht einmal sicher, dass alle drei Dämonen waren – doch Schattenschwinges Emblem prangte auf ihren Schilden, und sie trugen das Abzeichen der Höllenspäher. Wir wissen, dass zumindest einer von ihnen ein Jansshi-Dämon ist, doch die Hüter der Portale hatten große Schwierigkeiten, die Natur der beiden anderen zu bestimmen.«

Ich zermarterte mir das Hirn, fand aber nicht einmal in den dunkelsten Ecken irgendeine Assoziation. »Ich glaube, von diesen Jansshi habe ich noch nie gehört.«

Camille räusperte sich. »Sie ähneln den Jiang Shi, aber ich glaube, sie haben noch nie menschliche Gestalt angenommen. Die Jiang Shi sind als hüpfende Leichen bekannt«, erklärte sie. »Sie sind die Zombies Chinas.«

Der Elf nickte. »Aber die Jansshi sind schlimmer. Sie sind keine Wiedergänger, sondern echte Dämonen, jedoch dumm und bösartig. Sie fordern die Herzen ihrer Opfer als Lohn, um sie dann zu fressen. Betrachtet sie als die Schläger und Bauernopfer der Unterirdischen Reiche. Schattenschwinge muss diesen gesandt haben, um der Truppe brutale Kraft zu verleihen. Die Jansshi sehen menschlich aus, aber mit abscheulich deformierten Bäuchen und eingesunkener Brust.«

»Herzen?« Zacharys Freunden hatte man die Herzen herausgerissen. Vielleicht war es doch keine abtrünnige Leichenzunge. Aber was hatte ein Degath-Kommando auf dem Land des Rainier-Rudels verloren?

»Ja, und die der Wächter am Portal, die ebenfalls getötet wurden, fehlten auch.«

Es drehte mir den Magen um, und ich hob die Hand. »Sagt mir nur eins: Wurde den Leichen das Blut ausgesogen? Waren sie vertrocknet, als wären all ihre inneren...  als wären sie mumifiziert worden?« Meinem eigenen Magen zuliebe wollte ich mich nicht allzu anschaulich ausdrücken.

Trenyth schüttelte den Kopf. »Nein. Warum?«

»Ich weiß nicht...  vielleicht ist es gar nichts«, sagte ich, doch mir war übel. Als ich auf meinen Teller Spaghetti hinabschaute, drohte mein Magen mit einem Aufstand, und ich rannte in die Küche, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Während ich zusah, wie das Wasser wirbelnd im Abfluss verschwand, verlief sich meine vage Hoffnung, Bad Ass Luke und seine Kumpane könnten ein einmaliger Zwischenfall gewesen sein, mit den letzten Tropfen. Runtergespült in die Kanalisation.

Camille hatte recht. Wir standen kurz vor dem Ausbruch eines Krieges und versuchten, die völlige Zerstörung zu verhindern. Das würde uns vielleicht gelingen, solange Schattenschwinge immer nur ein Kommando auf einmal ausschickte – aber was sollten wir tun, wenn er die Sache energischer anging?

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, machte Trenyth sich zum Aufbruch bereit. »Verwahrt den Kristall an einem sicheren Ort. Königin Asteria wird bald wieder Kontakt zu Euch aufnehmen.« In der Tür hielt er inne. »Von Y’Elestrial habt Ihr keine große Hilfe zu erwarten, das kann ich Euch sagen«, fügte er hinzu, wollte sich aber nicht näher dazu äußern. Sekunden später war er wie ein Geist in der Nacht verschwunden.

Wir vier starrten einander an und wussten kaum, was wir sagen sollten.

Schließlich meldete sich Camille zu Wort. »Okay, er schickt uns also ein weiteres Trüppchen Dämonen, mit denen wir den Boden wischen müssen. Zumindest haben wir rechtzeitig davon erfahren. Bevor ich heute Nacht ins Bett gehe, werde ich die Banne verstärken. Menolly, wenn im Wayfarer irgendetwas Ungewöhnliches passiert, berichte uns sofort davon. Habt eure Handys immer griffbereit.«

»Ich glaube, ich habe schon eine Verbindung gefunden, aber ich weiß nicht, wie die beiden Geschichten zusammengehören«, sagte ich, setzte mich in einen der riesigen Polstersessel und schlug ein Bein über. »Ich habe heute das Werwesen kennengelernt, das draußen im Wald herumgeschlichen ist, und ich weiß jetzt, warum es uns beobachtet hat. Er ist mein neuer Klient.«

Camille runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Wie heißt er? Was wollte er?«

Ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Zach. »Wer auch immer die fünf ermordet hat – er hat ihnen die Herzen herausgerissen.«

»Aber ich dachte, die Dämonen wären erst vor ein paar Tagen durch das Portal gebrochen. Diese Sache mit den Morden geht schon seit mehreren Wochen«, warf Menolly ein. »Wir dürfen uns nicht von unserer Paranoia dazu verleiten lassen, voreilige Schlüsse zu ziehen.«

Stirnrunzelnd zuckte ich mit den Schultern. »Das stimmt. Ich habe auch schon daran gedacht, dass wir es vielleicht mit einer abtrünnigen Leichenzunge zu tun haben könnten, wegen der fehlenden Herzen. Aber ich habe keine Ahnung, was es mit dieser Mumifizierung auf sich hat.«

Camille runzelte die Stirn. »Das ist ein interessanter Gedanke. Leichenzungen nehmen sich immer das Herz.«

»Ja«, sagte ich schaudernd. Wir hatten diese Wesen bereits in Aktion gesehen. Sie hinterließen bei mir immer leichte Übelkeit und eine vage Furcht. »Eines steht jedenfalls fest: Irgendjemand ermordet Angehörige seines Clans auf brutalste Weise. Ich hätte gern, dass ihr beide am Samstagabend mit mir da hinausfahrt.«

»Natürlich«, sagte Camille. Menolly nickte. Trillian schmollte, bis ich ihm sagte, auch er könne gern mitfahren, aber daraufhin lehnte er mein Angebot ab.

»Ich wollte nur einbezogen werden«, sagte er und zwinkerte mir mit diesen eiskalten Augen höhnisch zu. Camille versetzte ihm einen Klaps, und er warf ihr einen Blick zu, der mich vor Angst hätte erstarren lassen, sie aber nur zum Lachen brachte.

»Erst einmal müssen wir so viel wie möglich über Jansshi-Dämonen herausfinden«, sagte Menolly. »Wir müssen ihre Schwächen kennen, sofern sie denn welche haben. Was mir Sorgen macht, ist, dass Trenyth gesagt hat, sie wären dumm. Wenn der Jansshi-Dämon der Schläger des Kommandos ist, wer zum Teufel spielt dann das Gehirn? Ich glaube, ich will gar nicht wissen, womit wir es noch zu tun bekommen.«

»Geht mir genauso«, brummte ich.

In diesem Moment war von oben das Klingeln heller Glöckchen zu hören. Das konnte nur eins bedeuten.

»Der Flüsterspiegel«, sagte Camille und sprang auf. Sie rannte die Treppe hinauf in ihr Arbeitszimmer, und wir hetzten ihr hinterher.

Der Flüsterspiegel war ein Produkt der Zauberergilde und erfüllte in etwa die Funktion eines Bildtelefons; das war unsere Verbindung nach Hause. Da unsere Stadt kurz vor dem Ausbruch eines Bürgerkriegs stand, hatten wir uns nicht darüber gewundert, dass kaum noch Nachrichten aus Y’Elestrial durchsickerten. Der AND hatte sich seit einem Erdwelt-Monat nicht mehr bei uns gemeldet. Wir waren so besorgt, dass wir schon darüber gesprochen hatten, nach Hause zu reisen und uns zu vergewissern, ob es Vater auch gutging.

Er gehörte der Garde an und war Hof und Krone treu ergeben, doch seine Loyalität wurde auf eine harte Probe gestellt – von unserem Troll von einer Königin. Na ja, natürlich kein echter Troll. Sie war hübscher und hauste nicht unter einer Brücke. Aber Lethesanar war dem Opium verfallen und hegte eine besondere Vorliebe für grausame Foltermethoden. Als wir das letzte Mal von Vater gehört hatten, hatte er sich bemüht, neutral zu bleiben, doch bald würde seine Treue wahrhaftig auf dem Prüfstand stehen. Wenn er tat, was sein Gewissen ihm vorschrieb, würde er in großer Gefahr schweben. Die Königin brachte Verrätern etwa so viel Milde entgegen wie Menolly den Perversen, die sie als Happy Meal bezeichnete.

Camille ließ sich auf einem Stuhl vor dem Flüsterspiegel nieder, der unter einem Bord an der Wand angebracht und mit einem schwarzen Samttuch bedeckt war. Sie riss das Tuch herunter, und Menolly und ich beugten uns über ihre Schultern. Trillian lehnte in der offenen Tür.

In dem Rahmen aus magischem Silber, das aus den Tiefen des Nebelvuori-Gebirges zu Hause in der Anderwelt stammte, schimmerte das Glas schwach bläulich. Der Nebel im Spiegel wirbelte chaotisch durcheinander und wartete auf die richtige Stimme, um die Verbindung von einer Dimension zur nächsten zu öffnen.

»Camille«, sagte sie. Der Spiegel funktionierte ganz ähnlich wie Computer-Software zur Stimmidentifizierung oder Spracherkennung. Nachdem ich eine Weile erdseits gelebt hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass die VBM uns mit ihren Fortschritten bald einholen würden. Ich hatte eine Faszination für ihre Technologie entwickelt – nun ja, auch unsere, denn unsere Mutter war ja menschlich gewesen – und mich auf Computer gestürzt wie eine Katze auf ein ganzes Beet voll Katzenminze.

Einen Augenblick später begann der Nebel sich zu verwirbeln, dann löste er sich auf, und wir starrten in Vaters Gesicht. Er und Camille ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Ich hingegen kam eher nach unserer Mutter, und bei Menolly mischten wohl die Gene irgendeines unbekannten Vorfahren mit.

Vater war mittelgroß und schlank gebaut, und sein Haar hatte dieselbe Farbe wie Camilles – rabenschwarz –, wenngleich er es zu einem festen Zopf geflochten trug. Auch seine Augen glichen ihren, violett mit silbrigen Sprenkeln. Er trug keine Uniform, und das Bild im Hintergrund sagte uns, dass er zu Hause war. Die meisten Soldaten, die schon länger in der Garde Des’Estar dienten, hatten einen Flüsterspiegel zu Hause.

Ich beugte mich vor und warf ihm eine Kusshand zu. »Hallo! Wir hatten uns schon Sorgen um dich gemacht. Was gibt’s Neues?«

Er blinzelte einmal, dann umspielte ein sanftes Lächeln seine Lippen. »Du erinnerst mich so sehr an deine Mutter, möge sie in Frieden ruhen.« Er musterte unsere besorgten Gesichter, und auf seiner Stirn hatten sich Falten eingegraben, die vor einem Jahr noch nicht da gewesen waren. »Menolly? Wie geht es dir, Kind?« Er kam immer noch nicht ganz damit klar, dass sie ein Vampir war. Sein tiefverwurzelter Hass auf die Untoten wurde nur langsam von der Tatsache aufgeweicht, dass seine Tochter nun eine von ihnen war.

Sie nickte ein wenig gekünstelt, doch ich merkte ihnen an, wie sehr sie sich freuten, einander wiederzusehen. »Kann mich nicht beklagen. Jedenfalls nicht viel.«

Camille räusperte sich. »Wir sind so froh, von dir zu hören«, sagte sie erleichtert. »Wir hatten schon daran gedacht, nach Hause zu reisen, um nach dir zu sehen.«

»Was ist denn los?«, mischte ich mich ein. »Geht es dir gut? Ist der Krieg vielleicht vorüber, ehe er richtig begonnen hat?« Ich blieb optimistisch, obwohl ich die Antwort auf meine letzte Frage schon kannte. Aber, he, die Hoffnung macht das Leben erst lebenswert.

»Vorüber? Nein, meine Mädchen, er fängt gerade erst an. Die Gräben sind gezogen. Die Goblins haben eine Allianz mit Lethesanar geschmiedet und schicken ihr Truppen. Die Svartaner und die Elfen unterstützen Tanaquars Anspruch auf den Thron. Die Elfenkönigin hat ganz offiziell Waffenstillstand mit dem König von Svartalfheim geschlossen und Tanaquar Truppen und Waffen angeboten. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ihre Entscheidung für einige Überraschung gesorgt hat.«

»Zweifellos«, murmelte ich. Svartaner und Elfen waren Erzfeinde; beide waren vor Jahrtausenden aus einer einzigen Rasse hervorgegangen. Irgendwann hatte die sich geteilt, und die Svartaner waren in die Schatten gezogen, die Elfen hingegen im Licht geblieben. Dass sie sich nun zusammentaten, konnte nur bedeuten, dass es verdammt ernst wurde.

Vater wusste nicht, dass Königin Asteria uns in Dienst genommen hatte. Strenggenommen waren wir jetzt Verräter an Hof und Krone, aber wenn man zwischen einer Klippe und einem Dämon in der Zwickmühle sitzt, kommt einem der Sprung in den Abgrund plötzlich recht vernünftig vor.

Er stieß seufzend den Atem aus. »Ich habe nur wenig Zeit, und es gibt einiges, das ihr erfahren müsst. Euer aller Leben hängt vielleicht davon ab.«

Schlagartig wurden wir ernst. »Jetzt sag bloß nicht, dass sie es irgendwie geschafft haben, Bad Ass Luke von den Toten auferstehen zu lassen«, sagte ich. »Dämonen und Zombies und Ghule, du meine Güte!«

»Die Lage ist ernst, Delilah«, sagte Vater und warf einen Blick über die Schulter. Ich konnte die gläserne Uhr sehen, die meine Mutter in die Anderwelt mitgenommen hatte, als sie meinen Vater geheiratet und ihre Heimat für immer verlassen hatte. »Meine Schicht fängt bald an, also hört zu, und hört gut zu.«

»Ja, Vater«, sagte ich betreten und schaute zu Boden.

Er räusperte sich. »Es heißt, Lethesanar wolle die Stadt Svartalfheim direkt angreifen. Mein Gewissen lässt nicht zu, dass ich mich an einem solchen Überfall beteilige. Ich bin Hof und Krone treu ergeben, aber nicht einer drogensüchtigen, wirrköpfigen, machtgierigen Kriegstreiberin, die nicht einmal mehr erkennen kann, was unmittelbar vor ihr steht. Falls wir tatsächlich gegen Svartalfheim in die Schlacht ziehen sollen, dann...  « Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Unser Vater bereitete sich darauf vor, von der Garde zu desertieren, und wenn er geschnappt wurde, würde man ihn auf der Stelle aufspießen.

»Was hast du vor?«, fragte ich.

Kopfschüttelnd erwiderte er: »Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht. Ich werde eine Möglichkeit finden, Kontakt zu euch aufzunehmen. Eure Sachen habe ich schon an einem sicheren Ort eingelagert. Eure Tante Rythwar weiß, wo alles ist. Sie musste aus Y’Elestrial fliehen und lebt jetzt weit außerhalb der Stadtgrenzen. Auf ihren Kopf ist ein Preis ausgesetzt.«

Camille schnappte nach Luft. Menolly und ich starrten Vater mit offenen Mündern an. Unsere Tante war eine enge Vertraute von Lethesanar gewesen und hatte in den innersten Kreisen des Hofes gelebt.

»Heilige Scheiße. Was ist passiert?«, fragte ich.

»Sie hat für Tanaquar gearbeitet.« Vater holte tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen. »Lethesanar ist dahintergekommen. Sie hat einen Mordbefehl erlassen und ein Kopfgeld auf eure Tante ausgesetzt. Rythwar hält sich verborgen. Und...  « Er zögerte und wirkte unentschlossen. »Ich weiß nicht, wie ich euch das sagen soll.«

»Raus damit«, sagte ich. Was auch immer seine Neuigkeiten sein mochten, ich hatte das Gefühl, dass uns kein Picknick im Park bevorstand.

»Wegen Camilles...  Beziehung...  zu Trillian könntet ihr bald alle euren Posten verlieren. Wenn das geschieht, kommt so schnell wie möglich durch die Portale zurück, ehe die Königin auf die Idee kommt, sie vollständig zu schließen. Sonst wärt ihr erdseits gestrandet.«

Ich hüstelte. »Uns blieben immer noch die Elementar-Portale, wie die von Großmutter Kojote oder Pentakle. Die fallen nicht unter die Zuständigkeit des AND.« Was mich plötzlich an die Dämonen erinnerte, die zu uns unterwegs waren. »Wir haben hier drüben ein weiteres Degath-Kommando herumlaufen.«

Vater schloss kurz die Augen. »Es tut mir so leid, meine Mädchen. Ich habe das Gefühl, es könnte noch sehr lange dauern, bis sich alles wieder normalisiert.« Er wischte sich die Augen und wirkte älter und müder, als ich ihn jemals gesehen hatte.

»Macht euch bloß keine Hoffnung auf Rückendeckung vom AND«, bemerkte Trillian grimmig. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn ihr tut, was euer Vater gesagt hat, und gleich nach Hause geht.«

»Wir können nicht einfach verschwinden«, widersprach Camille. »Schattenschwinge stellt eine viel zu große Bedrohung dar. Er wird die restlichen Siegel finden, und dann sind Erdwelt und Anderwelt schon so gut wie untergegangen. Es gibt keinen Ort, an dem wir uns davor verstecken könnten.«

»Sie hat recht«, sagte ich und schnaubte bitter. »Was bringt dich auf die Idee, in der Anderwelt wären wir sicher, wenn niemand Schattenschwinge daran hindert, die Erde einzunehmen? Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Wir sind alle am Arsch, und wir sind auf uns allein gestellt.«

Vater hüstelte. »Nicht ganz. Ihr sagtet doch, Königin Asteria hätte euch geglaubt, was Schattenschwinges Pläne angeht.«

Ich warf ihm einen Blick zu und überlegte, wie viel genau er wissen konnte. Camille dachte wohl dasselbe, denn sie warf mir so einen Sollen wir es ihm sagen?-Blick zu. Ich schüttelte leicht den Kopf. Sosehr ich mich ihm anvertrauen wollte – das konnten wir nicht riskieren. Zu viel hing von absoluter Geheimhaltung ab.

»Ja, sie glaubt uns.« Ich stieß den Atem aus und stellte dann die Frage, die uns allen auf der Zunge lag. »Kannst du nicht hierher zu uns kommen? Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht.« Auf Vaters Seite war plötzlich Lärm zu hören. »Da ist jemand an der Tür. Ich muss jetzt gehen. Ich fürchte, ich werde lange keinen Kontakt mehr zu euch aufnehmen können. Denkt daran, eure Tante Rythwar weiß über alles Bescheid. Sie wohnt in einem kleinen Haus am Riellsring-Fluss, in Richtung Nebelvuori-Gebirge. Kurz vor den Sandstein-Fällen stößt man auf eine Lichtung, die von Eichen umringt ist, und dahinter wuchern an einer Stelle viele Waldbeeren. Sie wohnt etwa eine Meile weiter in Richtung Berge. Sucht gar nicht erst nach einem Pfad; es gibt keinen. Und sagt niemandem, wo sie ist.«

Der Lärm wurde lauter; wir hörten jemanden an die Tür hämmern, und dann hallte eine Stimme durch den Raum: »Hauptmann, die Königin verlangt Euer Erscheinen bei Hofe. Wir ziehen noch heute Nacht gegen Svartalfheim, Herr!«

Vater warf uns einen letzten verzweifelten Blick zu. »So beginnt es also«, sagte er. »Falls mir etwas zustoßen sollte, vergesst niemals, dass ich euch liebe. Und dass eure Mutter euch geliebt hat. Folgt eurem Gewissen und tut, was ihr für richtig haltet, ganz gleich, was dabei herauskommen mag. Ich bin so stolz auf euch.«

»Vater –«, rief Camille und streckte die Hände nach dem Spiegel aus.

Ich konnte nur stumm auf das Glas starren, das sich dunkel färbte – und dann zeigte es wieder nur Nebel. »O Große Herrin Bast, entweder zieht er in den Krieg, oder er wird als Verräter gebrandmarkt. Was sollen wir nur tun?«

Menolly seufzte. »Wir werden genau das tun, was er gesagt hat. Wir folgen unserem Gewissen. Delilah, im Augenblick können wir zu Hause nichts ausrichten. Am Ende würde man uns nur ins Gefängnis werfen. Wir werden hier tun, was wir können, und darum beten, dass die Götter Vater und Tante Rythwar beschützen. Vor allem«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr, »sollten wir unseren üblichen Tagesablauf einhalten, falls wir beobachtet werden. Ich muss jetzt zur Arbeit.«

Ich runzelte die Stirn. Wie zum Teufel sollte ich mich auf die Arbeit konzentrieren, wenn so viele schlimme Dinge passierten? Als man uns diese Erdseits-Posten zugewiesen hatte, hatten wir unseren Job lästig und blöd gefunden. Inzwischen war daraus ein Alptraum epischen Ausmaßes geworden. Aber Menolly hatte recht. So gern ich auch schnurstracks nach Hause gegangen wäre, um alles wieder in Ordnung zu bringen – wir konnten dort gar nichts tun.

»Wenn ich Lethesanar je in die Finger bekomme...  «, brummte ich, ließ den Satz aber unvollendet.

Camille legte mir eine Hand auf die Schulter, als wir uns abwandten, um wieder nach unten zu gehen. »Das wird schon wieder. Wart’s nur ab. Vater ist klug, und Tante Rythwar auch. Und wenn sie uns feuern, tja, mir fallen ein Dutzend Sachen ein, die ich lieber machen würde, als für ein bürokratisches Monstrum zu arbeiten.«

Ich lächelte schwach und lachte dann. »Und du nennst mich eine Optimistin? Aber danke, eine kräftige Dosis ›Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‹ kann ich gerade gut gebrauchen.« Wir gingen die Treppe hinunter, doch ich wusste, dass unser aller Gedanken der Familie galten, an der unsere Herzen hingen.