Kapitel 7
Zachary lehnte sich an das Geländer der vorderen Veranda, als drei weitere Männer hinter ihm aus dem Haus kamen. Sie verströmten Angst, so spürbar wie Hitzewellen im Sommer.
Die Männer sahen sich sehr ähnlich, was mich zu der Frage führte, wie weit Inzucht in diesem Rudel schon verbreitet sein mochte. Alle Männer hatten goldblondes Haar, topasfarbene Augen und breite Nasen, und alle waren groß und muskulös. Die anderen schienen älter zu sein als Zachary, und einer hinkte schwer. Ich erschauerte und wunderte mich darüber, was mich so nervös machte. Dann wurde mir klar, dass mein Körper auf die Nähe eines ganzen Rudels männlicher Werkatzen reagierte. Sie mochten Pumas sein und ich eine Tigerkatze, aber wir waren alle Katzen, und das spürte ich deutlich.
Camille, Menolly und Morio traten vor, als wollten sie mir Rückendeckung geben. Ich sah Zachary noch einen Moment lang in die Augen und wies dann mit einem Nicken über die Schulter auf die anderen. »Meine Schwestern Camille und Menolly. Und Morio. Er ist ein guter Freund von uns.«
Zachary fasste sich und schüttelte den Kopf. »Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Das mit deinem Cousin tut mir sehr leid«, sagte ich, obwohl meine Worte in dieser kalten, verschneiten Nacht nur ein dünner Trost sein konnten. Der Sturm hatte sich festgesetzt, und inzwischen bedeckte eine dicke Schneeschicht den Boden.
Camille streckte die Hand aus, und Zachary ergriff sie zögerlich. »Schade, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen. Ist dein Cousin... ist er noch da, wo ihr ihn gefunden habt?«
Zach nickte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ja. Ich konnte den Rat überreden, ihn liegen zu lassen, bis ihr kommt. Ich dachte, euch würde vielleicht etwas auffallen, das wir übersehen haben.«
»Wie wäre es, wenn du uns gleich dorthin bringst?«, schlug ich vor.
Er bedeutete uns, ihm seitlich um das Haus herum zu folgen. Die drei Männer, die ebenfalls aus dem Haus gekommen waren, reihten sich hinter uns ein. Einer fauchte leise, als Menolly an ihm vorbeiging, doch sie warf ihm nur einen langen, scharfen Blick zu. Er schloss den Mund und starrte den restlichen Weg lang auf den Boden.
Die Villa war riesig, und wir marschierten mehrere Minuten lang, ehe sie außer Sicht war. Zach lenkte uns einen Pfad entlang, der in ein lichtes Wäldchen führte. Als wir unter die Bäume traten, war er ein paar Meter vor uns. Ich holte zu ihm auf.
»Ich wünschte, wir hätten früher hier sein können, aber wir mussten bis Sonnenuntergang warten. Ich wollte Menolly gern dabeihaben. Sie hat unglaublich scharfe Sinne.«
»Sie ist ein Vampir, nicht wahr?«, fragte er und starrte auf den verschneiten Pfad hinab. Der Mond würde in einer Stunde aufgehen, doch bei diesem Wetter würde die Mutter hinter Wolken verborgen bleiben. Das schwache Licht wurde von Schnee und Wolken reflektiert, und am Himmel spielte dieser leichte Glanz, der immer Schneefall ankündigte. Da alle in der Gruppe auf die eine oder andere Weise übernatürlich waren, fanden wir unseren Weg ohne Lampen, allein beim Zwielicht der schneehellen Nacht.
Ich seufzte tief. »Menolly gilt unter Vampiren immer noch als Neuling; sie wurde vor zwölf Erdjahren verwandelt, aber sie hat sich einem rigorosen Training unterworfen und gelernt, ihre Impulse zu kontrollieren. Sie ist nicht gefährlich, außer du machst sie furchtbar wütend oder bist ein Perverser. Camille und ich stehen übrigens zu hundert Prozent hinter ihr, also erkläre deinen Männern unsere Haltung, wenn du den Eindruck hast, das könnte nötig sein. Wer die Hand gegen Menolly erheben will, kann sich vorher schon mal sein Grab schaufeln.«
Obwohl Zachary eine verborgene Flamme in meinem Inneren entfachte, würden meine Loyalität und die Treueide zu meiner Familie immer den ersten Platz einnehmen.
»Verstanden«, sagte er. »Niemand wird ihr zu nahe kommen. Allerdings sage ich dir lieber gleich, dass Tyler Vampire nicht mag. Aber er wird sich zusammenreißen.« Als wir den Waldrand erreichten, hob er die Hand und bedeutete uns stehen zu bleiben. »Wir sind gleich zurück«, sagte er und winkte seine drei Freunde beiseite.
»Was soll das werden?«, fragte Camille.
Ich lächelte schief. »Ich glaube, er will ihnen nur einschärfen, die Pfoten von uns zu lassen – von uns allen. Ich habe das Fauchen gehört«, sagte ich und warf Menolly einen um Verzeihung heischenden Blick zu. »Ich habe Zach gerade daran erinnert dass höhnische Hassbezeugungen keine Art sind, Gäste zu behandeln, die man um Hilfe gebeten hat.«
Menolly schnaubte. »Als könnten diese jämmerlichen Werwesen mir Angst machen. Aber ich danke dir trotzdem, Kätzchen«, fügte sie leise hinzu. »Du weißt ja, dass ich auch hinter dir stehe.«
»Du wirst langsam erwachsen, Süße.« Camille klang sehr erfreut.
»Ich habe euch doch gesagt, dass ich nicht mehr die kleine Schwester bin, für die ihr mich haltet.« Ich zwinkerte ihr zu und drehte mich dann um, denn Zachary kam mit den drei anderen Männern zurück.
»Ich habe ganz vergessen, euch meine Freunde vorzustellen. Das sind Tyler Nolan, Ajax Savanaugh und Venus Mondkind.«
Venus war der mit dem Hinkebein. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht viel unter Leute ging. Er sah wilder aus als die anderen, mehr wie ein Werwesen der Anderwelt als ein Erdwelt-ÜW. Ich konnte den Ansatz seiner Reißzähne sehen, wenn er lächelte. Die Werwesen in der Erdwelt hatten sich so entwickelt, dass ihre Zähne sich mit ihnen veränderten, hauptsächlich bei Vollmond. Wir Werwesen der Anderwelt hingegen behielten immer ein paar Aspekte unserer tierischen Natur, auch dann, wenn wir nicht in unserer Tiergestalt waren.
Tyler, derjenige, der Menolly angefaucht hatte, nickte zurückhaltend. Ajax tat es ihm gleich. Venus hingegen schenkte uns ein bekümmertes Lächeln.
»Willkommen, werte Feen, und unseren Dank dafür, dass ihr uns zu Hilfe kommt«, sagte er und verneigte sich. Sein Blick war auf Menolly gerichtet, obwohl er zu uns allen sprach. »Als Zachary seine Idee vorbrachte, euch um Unterstützung zu bitten, waren nicht alle dafür. Doch nun, denke ich, kann ich im Namen aller erklären, dass wir sehr froh wären, wenn ihr euch bereit erklären würdet, uns zu helfen. Bitte fühlt euch auf unserem Land willkommen.«
Als er vortrat, wichen die anderen zurück, sogar Zachary. Offensichtlich genoss Venus in dieser Gemeinschaft hohes Ansehen. Seine Autorität war beinahe greifbar. Ich fragte mich, ob er der Häuptling war, oder wie auch immer sie ihren Anführer nennen mochten, doch dann spürte ich eine plötzliche Berührung an meiner Aura, eine Art Tasten, während er mich anstarrte, und da wusste ich, was er war.
Venus Mondkind war der Anführer der Rainier-Pumas, in der Tat, obwohl er kein König war. Er war ihr Schamane, und er wirkte Magie wie Camille, geschmiedet aus der Kraft des Mondes wie ein silberner Pfeil.
Camille spürte es auch. Sie neigte sacht den Kopf, als er auf sie zutrat. »Alter Vater«, sagte sie, »du läufst mit der Mondmutter, nicht wahr?«
Er lächelte mit tiefen Fältchen um die Augen und griff nach ihrer Hand, die sie ihm ohne Zögern reichte. »Ja, Kind, ich laufe mit dem Mond, so wie du. Aber deine Verbindung zu ihr ist in deiner Seele verankert. Die Mondmutter war schon immer bei dir, lange vor deiner Geburt.«
»Das hat meine Patin bei meiner Geburt gesagt, als die Runen für meinen Lebenspfad gelesen wurden«, sagte sie mit erstaunter Miene.
Venus nickte. »Siehst du? Ich hingegen bin in meinen Eiden durch mein Werblut gebunden, und durch die Magie, die ich von kleinauf bei meinem Vater lernte. Die Mondmutter erlaubt mir, ihre Magie für das Rudel zu tragen, doch bin ich nicht ihr Sohn, so wie du ihre Tochter bist.« Er beugte sich vor und küsste sie sacht auf die Stirn; ein schwacher Glanz schimmerte an der Stelle, wo seine Lippen ihre Haut gestreift hatten. »Du wirst als unsere Freundin auf unserem Land geschützt, solange du diese Ehre nicht verletzt.«
Sie nickte und knickste, als Venus zu Morio weiterging. »Bruder Fuchs, wir sind sehr unterschiedlicher Natur, und doch gehörst auch du zu den Wandelwesen. Die Gestaltwandlung ist dir vertraut. Sei unser Gast und Freund, solange du dich an unsere Gebräuche hältst.« Wieder beugte er sich vor, diesmal, um Morios Stirn zu küssen. Ein schwacher Lichtschimmer sprang von seinen Lippen auf die Haut des Yokai-kitsune über.
»Alter Vater, ich werde mein Bestes tun, mich dieser Aufgabe würdig zu erweisen«, sagte Morio, so ungerührt wie immer. Doch seine Stimme bebte ein wenig und verriet mir, dass er Venus’ Macht sehr wohl spüren konnte. Und dass die Magie von Venus Mondkind so machtvoll sein könnte wie unser aller Kräfte zusammen. Dass er dennoch diese Morde nicht hatte aufklären können, sagte mir, dass wir in gewaltigen Schwierigkeiten steckten.
Venus griff nach Menollys Händen, und sie überließ sie ihm zögerlich. Er drehte ihre Handflächen nach oben und schob dann die Ärmel ihres Rollkragenpullovers zurück, um die Narben zu enthüllen, die der Elwing-Blutclan mit seiner Folter hinterlassen hatte. Sie würden nie verblassen, da sie keine Zeit zum Verheilen gehabt hatten, bevor Menolly gestorben war. Ihr ganzer Körper war von Foltermalen übersät.
»Ach, Mädchen, was haben sie dir angetan?« Venus blickte auf und sah in ihr Gesicht, das einen seltsamen, geduldigen Ausdruck zeigte. »Du bist eine Dämonin, und doch bist du so viel mehr. Fee, Mensch, Vampir... keine deiner Bezeichnungen trägt deine ganze Geschichte, nicht wahr?«
Während er sprach, schienen seine Worte uns mit einem Gespinst aus Musik zu umgeben. Ich konnte das Donnern dunkler Wolken hören, die über Wälder und Felder rasten. Der Schnee fiel immer dichter und umkreiste uns wie ein Wirbelwind weißer Tänzer, die verzweifelt nach einem letzten Kuss haschten, ehe sie zerschmolzen.
Menolly wirkte überrascht, doch statt etwas zu sagen, wofür wir alle von diesem Land verbannt werden könnten – was ich halb erwartet hatte –, überraschte sie wiederum mich, indem sie schwieg. Sie erlaubte Venus, ihre Stirn zu küssen. Ihre Nasenflügel blähten sich, und ich wusste, dass sie sein Blut roch, seinen Puls hörte, doch sie blieb still stehen, wie eine Porzellanfigur, an deren kaltes Fleisch sich Schnee klammerte.
»Wandle auf unserem Land als Gast und Freundin, Tochter der Mitternacht, doch nähre dich nicht von unserem Volk oder unseren Tieren, denn sonst werden wir dich töten müssen. Das verstehst du doch?« Der Schamane sah ihr tief in die Augen, und sie nickte, immer noch schweigend.
Zu mir kam er als Letztes. Als er meine Hände in seine nahm, spürte ich einen glühenden Funken des Erkennens, der durch meinen Körper flammte, mich tief in der Erde verwurzelte und sich dann wieder emporschwang, um sich mit seiner Aura zu verbinden. Ich hatte eine plötzliche Vision von einem jüngeren Venus, der durch die Hügel streifte, sich vom Puma in einen Menschen und wieder zurückverwandelte und nach etwas suchte, so ungreifbar, dass es keine Worte dafür gab. Er hatte sich mit männlichen und weiblichen Liebhabern vergnügt, wie es ihm gefiel, und nackt zwischen den Seidenpflanzen getanzt, die wie bunte Inseln an den Bergflanken wuchsen.
Wild und ungezügelt war er, selbst Teil der Essenz des Mount Rainier – er gehörte zu diesem Land. Allmählich verstand ich, warum die Puma-Enklave hier so viele Hektar Land aufgekauft und eine eigene kleine Gemeinschaft aufgebaut hatte. Sie gehörten zu diesem Vulkan, und die Bindung an ihn lag ihnen schon bei der Geburt im Blut.
»Katzenkind, du bist verloren, nicht wahr? Du hast kein wahres Rudel. Du hast deine Familie, aber keinen Clan und keinen Ort, den du Heimat nennen kannst.« Seine Worte verwoben sich zu einem sanften Rhythmus, der mich in seinem Flüstern einfing. »Fürchte dich nicht davor, ein Windwandler zu sein.«
Ich zuckte zusammen. Windwandler... wie ich diesen Namen hasste und wie sehr ich die Kinder verabscheut hatte, die uns damit verhöhnt hatten, als wir noch klein gewesen waren. Windwandler streiften durch die Welt, ohne sich je irgendwo niederzulassen, immer allein, immer auf Wanderschaft. Die Vorstellung, eine von ihnen zu werden, hatte mir entsetzliche Angst gemacht. Als unsere Mutter gestorben war, hatte ich mich verzweifelt an Camille geklammert, doch ganz gleich, wie viel Liebe sie mir schenkte, sie konnte nie die Stelle unserer Mutter einnehmen.
Venus umfing meine Hände und drückte sie sanft. »Fürchte dich nicht vor deinem Pfad, Liebes. Manche sind vom Schicksal dazu bestimmt, mit dem Wind zu wandern, den Göttern zu dienen, der Bestimmung zu folgen. Du und deine Schwestern, ihr überspannt zwei Welten... mehr noch, um die Wahrheit zu sagen, doch das sparen wir uns für später auf. Lass alle Sorgen los. Für den Augenblick bist du eine Freundin unseres Rudels und darfst frei durch unser Land wandeln. Und falls dich der Drang überkommt, wenn die Mondmutter schwanger ist, bist du hier willkommen, gemeinsam mit unserem Volk sicher und behütet durch die Wälder zu streifen, obwohl du neben uns einem Welpen gleichen wirst.«
Seine Lippen streiften meine Stirn, und ich spürte eine Kraftwelle, die mich durchströmte. Er zwinkerte mir zu und drückte noch einmal meine Hände. »In dir steckt mehr, als man mit bloßem Auge zu sehen vermag, meine kleine Tigerkatze. Ich denke, du wirst überrascht sein, was du finden könntest, wenn du tief in deine Seele blickst.«
Ich fragte mich, was er damit meinte, hatte aber das Gefühl, dass ich das schneller herausfinden würde, als mir lieb war. Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe zu richten. Alle warteten, und es war offensichtlich, dass Zachary, Ajax und Tyler dieses Ritual schon öfter miterlebt hatten. Sie standen aufmerksam da, mit ernsten Mienen, die Handflächen vor dem Körper zusammengepresst.
Venus trat zurück. »Wir sind bereit. Bringen wir sie jetzt zu Shawns Leichnam.«
Zachary sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, doch da er ein Werwesen war – und ein männliches noch dazu –, musste er vor den anderen Haltung bewahren. Ich hatte keine Ahnung, ob Ajax und Tyler zu den Ältesten des Rudels gehörten, doch es war offensichtlich, dass niemand Venus’ Befehle in Frage stellte.
Ich griff langsam nach Zachs Hand. Schweigend gingen wir los. Hinter uns unterhielten sich Camille und Venus im Flüsterton, und dieses Mal machte ich mir nicht die Mühe, das Gespräch zu belauschen. Menolly und Morio folgten ihnen, und Ajax und Tyler bildeten die Nachhut.
Die Douglasien waren dick verschneit, ihre Stämme überwuchert von Blaubeeren und Dornenranken, und sie drängten sich enger um uns zusammen, als wir das Wäldchen betraten. Die Haine und Wälder zu Hause waren voller Leben, aber die Wälder erdseits machten mich nervös. Sie waren verschlossen und geheimnisvoll und versuchten nie, jene zu berühren, die vorübergingen; sie waren urtümlich und chaotisch, verglichen mit den Wäldern der Anderwelt – bis auf die dunkelsten Dickichte, die Stadtfeen meistens mieden. Die Wälder hier lebten nach ihren eigenen Bedingungen und betrachteten Menschen als überflüssig. Waldgeister und Dryaden wurden toleriert, aber nur die Tiere waren hier wirklich sicher.
Andererseits hatten diese alten Wächter vielleicht allen Grund dazu, misstrauisch zu sein und ihre Geheimnisse in ihren Stämmen und Jahresringen zu verbergen. Immerhin befanden sie sich im Krieg mit der globalen Wirtschaft, mit Spekulanten und Bauunternehmern, die an den uralten Riesen Völkermord verübten. Kein Wunder, dass sie sich von den zweibeinigen Wesen dieser Welt distanziert hatten.
Die leuchtenden Augen von hundert Waldbewohnern musterten uns hinter den dunklen Büschen und Stämmen hervor, und ich hörte das ferne Schlagen einer Trommel, während wir durchs Dickicht marschierten. Vor uns störte ein plappernder Bach die Stille.
Der schwache Umriss der Arrastra war mitten im Bachbett auszumachen. Arrastras waren Mühlsteine, von Eseln angetrieben, die man dazu benutzt hatte, Erz zu mahlen, um an das kostbare Gold zu gelangen, das die Hoffnungen und Träume der Bergleute nährte. Vermutlich hatten sie in dieser Gegend nicht viel gefunden, dachte ich, aber soweit ich wusste, hatten sich in diesen Hügeln vor hundert Jahren die Goldsucher nur so gedrängt. Den Feen war Silber zwar kostbarer als Gold, doch wir verstanden die Verlockung von Edelmetall.
Camille und Venus verfielen in Schweigen. Mir sträubten sich die Haare im Nacken; der Schauplatz des jüngsten Mordes musste ganz nahe sein.
Zachary wies mit einem Nicken auf eine lichte Stelle im Wald. »Wir sind dem Fluss bis zu dieser Lichtung gefolgt. Dort haben wir alle Leichen gefunden. Wir haben Fallen aufgestellt und Wächter postiert. Shawn war auf Wache hier draußen, und irgendetwas hat ihn überrumpelt.«
»Hatte Delilah nicht gesagt, ihr wolltet die Wachen auf das Haupttor beschränken?«, fragte Menolly hinter uns.
»Das hatten wir vor«, antwortete Venus an Zachs Stelle. »Aber Shawn hat uns davon überzeugt, dass er sicher wäre, wenn er einen zweiten Mann mitnimmt. Offenbar musste Jesse sich erleichtern, und während er im Gebüsch verschwunden war, ist der Mörder über den armen Shawn hergefallen. Als Jesse ihn fand, war Shawn bereits tot.«
Zach schüttelte den Kopf. »Wir wissen einfach nicht mehr weiter. Der Rat hat endlich eingesehen, dass wir mit der Sache allein nicht fertig werden. Wenn es so weitergeht, wird es bald kein Rainier-Puma-Rudel mehr geben. Wir bereiten schon alles vor, um die Frauen und Kinder zum Blue-Road-Stamm am Mount Balser zu schicken. Dort sind sie sicher, bis wir den Wahnsinnigen gefunden haben, der unsere Leute killt.«
»Blue-Road-Stamm?«, fragte Camille. »Eine andere Gruppe von Werpumas?«
»Nein, Bären«, sagte Venus. »Eine Gruppe amerikanischer Ureinwohner. Wir haben eine offizielle Allianz mit ihnen geschlossen, für den Fall, dass einer unserer Vulkane je ausbrechen sollte. Wir haben aus der Katastrophe am Mount St. Helens gelernt – damals wurde der Elchhirten-Clan beinahe ausgelöscht.«
»Wenn wir hier irgendetwas tun wollen, dann bringen wir es endlich hinter uns«, mischte sich Ajax ein. »Ich will meinen Sohn nach Hause bringen und ihn zur Ruhe betten.« Seine Stimme klang fest und sicher, doch in diesem Augenblick begriff ich, warum der ältere Mann so distanziert wirkte. Wenn Shawn Zacharys Cousin war, musste Ajax Zachs Onkel sein, und es war sein Sohn, der hier draußen tot im Schnee lag.
Camille öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte aber nur den Kopf, und Zachary führte uns hinaus auf die Lichtung, die sich in der Nähe des Bachs auftat. Das Wasser floss noch, aber die Felsen am Ufer waren rutschig von Schnee und Eis. In der Mitte der Lichtung war eine große Feuerstelle in den Boden versenkt, und das Gebiet darum herum war gerodet und geglättet worden. Zach hatte erwähnt, dass das frisch verheiratete Paar hier draußen gecampt hatte. Diese Stelle wurde offenbar für Versammlungen und als Lagerplatz benutzt.
Ein Windstoß fegte vorbei, und ich roch einen Hauch von Blut. Über die Schulter blickte ich zu Camille und Menolly zurück. Ich sah ihnen an, dass sie es ebenfalls rochen. Menollys Gesichtsausdruck verriet schiere Gier, und ich war froh, dass sie erst vor kurzem getrunken hatte.
In der Nähe des Bachs, neben einem Felsbrocken, lag der Leichnam eines jungen Mannes. Von seinem Körper war nicht allzu viel übrig. Weizenblondes Haar war mit geronnenem Blut verklebt, und seine Haut hatte die Beschaffenheit von altem Leder – ausgedörrt wie die einer Mumie. Seine Kehle war aufgeschlitzt worden, und sein Kopf hing in einem hässlichen Winkel vom Hals. Ich verzog das Gesicht und wandte mich ab, denn ich ertrug den entsetzten Ausdruck nicht, der für immer auf seinem Gesicht erstarrt war.
Eine Böe peitschte die wirbelnden Flocken durcheinander, und dann teilten sich die Wolken für einen Augenblick, und der Mond lugte durch die Lücke und beschien den frisch gefallenen Schnee und das Gesicht des jungen Shawn. Er und Zach sahen sich sehr ähnlich, aber er war wohl noch ein Teenager gewesen. Jetzt würde er nie erwachsen werden, niemals heiraten, Kinder bekommen oder einen Beruf ergreifen. Ich holte tief Luft und bemühte mich, nicht die Fassung zu verlieren.
»Wer hätte ihn in so kurzer Zeit derart zurichten können? Du hast gesagt, sein Begleiter wäre nur kurz pinkeln gegangen. Das kann höchstens ein paar Minuten gedauert haben, aber offenbar ist jedes bisschen Flüssigkeit aus seinem Körper ausgesaugt worden.« Menolly kniete sich neben den Leichnam und schüttelte den Kopf. »Nicht einmal ein Vampir könnte so etwas anrichten.«
»Alle Opfer waren in diesem Zustand. Erst dachten wir, es sei vielleicht irgendein seltsamer natürlicher Prozess am Werk gewesen – die ersten Opfer haben wir ja erst nach einer Weile gefunden«, erklärte Venus. »Jetzt seht ihr, warum wir solche Angst haben. Was auch immer das tut, es ist in der Lage, sich hereinzuschleichen, seine Opfer vollständig auszusagen, ihnen das Herz herauszureißen und zu verschwinden, ehe wir ihm auf die Spur kommen können. Oder auch nur einen Blick darauf erhaschen.«
Er setzte sich auf den Boden in den Schnee und nahm sacht eine von Shawns Händen in seine. »Ich habe versucht, den Mörder im Traum zu sehen, aber da ist stets eine Nebelbank, die ich nicht durchdringen kann. Und die Zauber und magischen Fallen, die ich aufgestellt habe, bewirken nichts. Nichts funktioniert.«
Ajax stand neben Menolly und starrte trübe auf den plätschernden Bach. »Wenn du irgendetwas herausfinden kannst – egal was, wenn es uns nur hilft –, dann ist dir meine unsterbliche Dankbarkeit sicher«, erklärte er mit rauher Stimme. »Ich stehe dir und deinen Schwestern stets zu Diensten; ich werde tun oder bezahlen, was ihr verlangt – wenn ihr nur herausfindet, wer meinen Sohn ermordet hat.« Dann brach der große Mann zusammen; Tränen liefen ihm über die Wangen, während er unter dem schimmernden Mond leise weinte.
Camille kniete sich neben Venus, beugte sich dicht über Shawns Leichnam und schnupperte an seinem Hemd. »Da ist ein Geruch, den ich nicht erkenne.«
»Das ist uns auch schon aufgefallen«, sagte Venus. »Ich glaubte den Geruch der meisten Geschöpfe in dieser Gegend genau zu kennen, aber dieser ist mir neu. Und dennoch sträuben sich mir davon die Haare. Ich denke immerzu, ich müsste wissen, von was er stammt.«
Ich setzte mich neben Menolly und erschauerte, als mein Hintern auf den verschneiten Boden traf.
»Der Geruch gehört zu keinem Untoten, den ich kenne«, sagte Menolly einen Moment später. »Und was Dämonen angeht... beinahe, aber nicht ganz. Was meinst du, Camille?«
Camille beugte sich hinab und blickte in Shawns glasige Augen. »Ich wünschte, Leichenzungen könnten Werwesen befragen, aber wenn er kein Feenblut hatte – und seien es nur ein paar Tropfen –, hat es keinen Sinn, eine hinzuzuziehen.« Sie blickte zu Zach auf, der den Kopf schüttelte.
»Nein, leider. Reines Erden-Werwesen.«
»Dachte ich mir«, sagte sie und setzte ihre Untersuchung der Leiche fort. Sie strich mit dem Zeigefinger über Shawns Lippen, hielt ihn sich dann unter die Nase und sog die Luft ein. »Du hast recht, Menolly – ein ganz schwacher Geruch nach Dämonen, aber da ist noch etwas – etwas darüber. Das ist wirklich sehr seltsam.«
Ich blickte mich auf der Lichtung um. Meine Gedanken schweiften ab, und ich schlenderte beinahe unbewusst zum Ufer, das an dieser Stelle steil in den Bach abfiel. Das sanft gebogene Ufer führte zu einem steilen Abhang unter einem kleinen Plateau hoch über uns. Das war der Pinnacle Rock, der über dem Fluss aufragte. Ein vages Gefühl trieb mich dazu, mir das näher anzusehen, und sobald ich die steinige Wand aus harter Erde berührte – vermutlich über lange Zeit vom Wasser hier angeschwemmt –, wusste ich, dass ich hinaufklettern musste.
»Wo kommt man hier hin?«, rief ich über die Schulter zurück. Zachary und Tyler kamen zu mir herüber, dicht gefolgt von Menolly. Venus, Camille und Morio bereiteten gerade Shawns Leichnam für den Transport vor. Ajax starrte nur in den endlos dahinströmenden Bach.
Zach blickte an dem Abhang empor. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich war noch nie da oben.«
»Was ist mit dir, Tyler?«, fragte ich.
Tyler schüttelte den Kopf. »Ich glaube, die Mühe kannst du dir sparen.«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte ich. »Da oben ist irgendetwas.«
Menolly trat vor. »Lass mich mitkommen, Kätzchen«, sagte sie. Sie begann sofort zu klettern, und es war, als sähe ich der alten Menolly zu, bevor sie getötet und verwandelt worden war. Geschickt stieg sie an der Steilwand empor, wobei sie noch mit den Fingernägeln Halt fand, wenn es sein musste.
Ich holte tief Luft. Ich war fit und durchtrainiert; ich müsste diese Wand bewältigen können. »Okay, versuchen wir’s trotzdem«, sagte ich.
»Bist du sicher? Wahrscheinlich landest du im Bach«, sagte Tyler. »Wie wäre es, wenn ich schnell unsere Ausrüstung hole und als Erster hinaufsteige, damit ich dich sichern kann?«
»Nicht nötig. Ich passe schon auf. Wasser mag ich nicht besonders, aber mit Höhen habe ich kein Problem.« Ich folgte Menollys Pfad, tastete mich hinauf und benutzte meine Instinkte, um Halt für Hände und Füße zu finden. Der Duft gefrorener Erde drang mir scharf in die Nase, und ich presste mich an das Steilufer. Einen Fuß nach dem anderen, eine Hand nach der anderen. Nach dem nächsten Halt tasten. Da ein Gesteinsbrocken. Und hier eine kleine Vertiefung. Ich nutzte jeden Halt – Äste, Steine, kleine Zweige, die aus der Wand hervorlugten, um mich abzustützen, während ich meinen Körper mit purer Muskelkraft fest an die Steilwand presste.
Als der Schnee noch dichter zu fallen begann, sah ich nichts mehr als weiße Flocken und die harte Erde vor mir. Ich blickte auf, aber Menolly war nirgends zu sehen; sie verschmolz mit der Steilwand. Sie hätte mit Leichtigkeit nach oben schweben können, aber sie hatte sich für den schwierigeren Weg entschieden – um sich selbst auf die Probe zu stellen. Aber sie klammerte sich auch an die Person, die sie im Leben gewesen war, statt die Fähigkeiten des Vampirs zu nutzen, zu dem sie geworden war. Nicht aus Angst – sie traf nur ihre Wahl.
Wir alle trafen eine Wahl, dachte ich und geriet kurz in Schwierigkeiten, bis mein Fuß einen kleinen Vorsprung fand. Wir alle fällten unsere Entscheidungen und lebten dann damit. Tante Rythwar hatte sich entschieden, Lethesanar den Rücken zu kehren. Vater hatte sich entschieden, der Krone treu zu bleiben, aber nicht der Königin. Und meine Schwestern und ich hatten uns dafür entschieden, erdseits zu bleiben und sowohl diese als auch unsere eigene Welt zu schützen, so gut wir konnten.
»Ich habe ein Sims gefunden«, unterbrach Menollys Stimme meine Gedanken.
»Wie weit noch?«, rief ich.
»Drei Meter, dann hast du es geschafft«, sagte sie.
Und sie behielt recht. Ein paar Minuten später streckte ich den Arm auf einen Felsvorsprung, und sie packte mich am Handgelenk. Mit einem kräftigen Zug hatte sie mich oben.
Keuchend ließ ich mich auf den Felsvorsprung fallen, blickte mich um und versuchte festzustellen, wo wir waren. Das Sims war gut drei Meter breit und ragte nur eine Fingerlänge über den Abhang vor. Wenn man dort unten stand, konnte man unmöglich sehen, dass hier oben so viel Platz war, selbst tagsüber. Die Steinplatte zog sich einen guten Meter weit in die Bergflanke hinein, die mit Kletterpflanzen und Dornenranken bedeckt war. Ich sah näher hin. Da, unter den schneebedeckten Blättern, klaffte der Eingang zu einer Höhle.
»Eine Höhle?«, bemerkte ich.
»Sieht so aus, als wäre der Eingang längst zugewuchert«, sagte Menolly. »Aber sieh mal, hier – die Ranken sind beiseitegeschoben worden. Und da«, fügte sie hinzu und deutete auf eine kleine Öffnung. »Irgendetwas war hier zugange. Wir sollten uns mal drinnen umsehen.«
Sie schüttelte den Schnee von den trockenen Blättern, und wir zogen langsam die Ranken beiseite, die den Zugang verdeckten. Ein paar ließen sich leicht bewegen, und ich sah, dass sie recht hatte. Die Stengel waren schon teilweise gebrochen.
Ich spähte nach drinnen. »Wenn wir nur eine Lampe hätten. Ich kann zwar einigermaßen sehen, und du auch, aber ich wäre lieber sicher, dass uns nichts Wichtiges entgeht.«
»Bleib hier – geh ja nicht ohne mich da rein«, sagte sie und trat leichthin über den Rand des Simses. Wie ein Drachen, den der Wind erfasst, wurde sie von einer Böe emporgeweht und begann dann zu fallen wie eine Feder. Menolly konnte nicht richtig fliegen, außer sie versuchte, sich in eine Fledermaus zu verwandeln, aber diesen Teil des Vampirismus beherrschte sie noch nicht so gut, dass sie ihn benutzen könnte. Aber schweben konnte sie gut.
Wenn sie nicht irgendetwas erschreckte, würde sie einfach langsam zu Boden treiben. Die Fähigkeit hatte ihre Grenzen, und Menolly lernte immer noch, sie richtig einzusetzen, aber sie war wirklich praktisch. Zum Beispiel, um den Julbaum an der Decke zu befestigen oder mich am Nackenfell von den Vorhängen zu pflücken, wenn ich wieder einmal daran hochgeklettert war.
Gleich darauf erschien sie wieder, und Camille klammerte sich in Todesangst an sie, die Arme fest um Menollys Taille geschlungen. Sie landeten sanft im dicken Schnee.
Camille schaltete ihre Taschenlampe ein und richtete sie auf den Höhleneingang. »Was haben wir denn hier?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte ich. »Sehen wir mal nach.«
Damit riss ich die Ranken beiseite und trat vor.
Etwas Klebriges schlug mir ins Gesicht, und ich zuckte zusammen und erschreckte Camille, die direkt hinter mir stand.
»Was ist passiert? Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Die Finger waren mit seidigen Fäden verklebt. Scheiße.
»Ja, aber das gefällt mir gar nicht«, sagte ich und trat ganz in die Höhle hinein.
Camille folgte mir und ließ den Lichtstrahl durch den Raum flackern; Menolly kam als Letzte. Die Höhle glitzerte im Strahl der Taschenlampe, gefüllt mit Tausenden von Spinnennetzen. Sie waren perfekt, hell wie Kristall und in zahllosen verrückten Mustern arrangiert – eine chaotische Vision in Seide. Es war keine Symmetrie zu erkennen, nur ein Kaleidoskop verrückt gewordener Schönheit.
»Spinnen«, flüsterte Camille. »Sind das... «
Menolly glitt durch die Netze und wischte sie einfach ab, als verscheuche sie eine Mücke. In der Mitte der Höhle beugte sie sich vor, um etwas zu betrachten, dann winkte sie uns herbei. Ich fand einen Stock, mit dem ich mir die Netze aus dem Weg schaffen konnte, und Camille und ich gingen zu Menolly hinüber. Sie kniete neben etwas, das wie eine vertrocknete Schote aussah, aber es war viel zu groß für einen Maiskolben oder anderes Gemüse.
»Du solltest Zachary fragen, ob in letzter Zeit noch andere Mitglieder des Rudels verschwunden sind – ob sie jemanden vermissen«, sagte sie.
»Äh.« Ich wollte nicht fragen, aber es musste sein. »Ist das... «
»Ja, eine weitere Leiche, sieht genau so aus wie die anderen. Ich glaube, wir können jetzt ohne Zweifel sagen, dass wir nach dem Jägermond-Clan als Täter suchen und dass sie das Revier des Rainier-Rudels zu ihrer privaten Speisekammer gemacht haben.«