Kapitel 16

 

Ich würde lieber noch hierbleiben und mich um Zach kümmern, aber wir müssen jetzt zu Smoky und ihn davon überzeugen, uns zu helfen«, sagte Camille. »Iris ist mit Maggie unten bei Menolly. Sie arbeitet an einem Schutzzauber gegen das Spinnengift.«

»Kommt einfach so schnell wie möglich zurück. Und versucht euch etwas einfallen zu lassen, was wir mit dem Kerl im Wandschrank machen sollen.« Ich wollte meine große Schwester unbedingt bei mir haben, aber es gab zu viel zu tun, und wir hatten zu wenig Zeit. Der Jägermond-Clan hatte den Einsatz gerade kräftig erhöht, indem sie uns in unserem eigenen Haus angegriffen hatten.

Camille und Morio waren gerade auf dem Weg nach draußen, als Chase und seine Mannschaft zur Tür hereinplatzten. Er hatte zwei AND-Sanitäter mitgebracht. Eine von ihnen war Sharah, eine Nichte von Königin Asteria. Sie stellte uns ihren Partner vor. Mallen war blass und dünn und sah aus, als sei er kaum alt genug, um sich zu rasieren, von einem harten Job als Heiler ganz zu schweigen, aber bei den Elfen – noch mehr als bei den Feen – konnte das Aussehen sehr täuschen.

»Passt auf, falls sich hier noch mehr Spinnen verstecken«, warnte ich sie, als sie sich vor das Sofa knieten, auf dem Zach immer noch lag, bewusstlos und kaum mehr atmend.

»Elfen sind immun gegen Spinnengift«, entgegnete Sharah und lächelte mich müde an. »Er ist ein Werpuma, hast du gesagt?«

Ich nickte. »Vom Rainier-Puma-Rudel. Er wurde von einem Feldwinkelspinnling gebissen. Wir haben einen ihrer Spione, gut verschnürt im Besenschrank.«

Als ich zurücktrat, um ihnen Platz zu machen, schlang Chase den Arm um meine Taille. »Ich habe Neuigkeiten über die Goldenrod Road in Snoqualmie.«

»Warte einen Augenblick«, murmelte ich, denn ich wollte erst hören, wie es um Zach stand. Sharah und Mallen maßen gerade seinen Blutdruck, überprüften den Puls und hörten sein Herz ab. Gleich darauf sagte Sharah etwas zu Mallen, das ich nicht verstand, und er reichte ihr einen Beutel aus ihrem Arztkoffer. Sie bereitete eine Spritze vor und jagte sie Zach in den Arm. Sie wartete kurz und gab ihm noch eine Spritze, und als nach einer weiteren Minute immer noch keine Veränderung eintrat, warf sie Mallen kopfschüttelnd einen Blick zu und versuchte es mit einer dritten Spritze.

Ich dachte schon, der Jägermond-Clan hätte nun auch Zach auf dem Gewissen, als sein Arm zuckte. Er kam zu sich! Bevor jemand etwas sagen konnte, versteifte sich sein ganzer Körper, und er begann sich zu verkrampfen. Seine Augen rollten in den Höhlen zurück, er zuckte und zitterte, und weißer Schaum, durchsetzt mit roten Blutflecken, quoll aus seinem Mund und rann ihm seitlich übers Gesicht. Er schlug wild um sich, und ich sprang vor, um ihn festzuhalten.

»Geh mir aus dem Weg!«, schrie Sharah mich an, und ich erstarrte auf der Stelle. Sie wandte sich Mallen zu. »Glassophan – sofort!«

Mallen riss Zachs Hemd auf, während Sharah ein versiegeltes Beutelchen aufriss und eine zweite Spritze herauszog, bis oben hin gefüllt und mit einer furchtbar großen Nadel vorne dran. Sie reichte sie Mallen, der keine Zeit hatte, sanft vorzugehen, sondern die Nadel grob in Zacharys Brust rammte. Ich verzog das Gesicht, als Zach ein Gurgeln von sich gab. Mallen stemmte sich auf die Spritze und drückte das Serum in Zachs Körper; das schreckliche Zucken und Zittern ließ ein wenig nach, und dann, urplötzlich, erstarrte Zach und sank reglos zusammen.

»O Große Mutter, ist er tot?« Entsetzt starrte ich auf ihn hinab.

Sharah drückte ihr Stethoskop auf Zachs Brust, glitschig vor Blut, das aus der Einstichwunde der Spritze sickerte. Sie wartete, schüttelte dann den Kopf, und Erleichterung breitete sich über ihr Gesicht. »Er lebt und müsste in ein paar Minuten zu sich kommen. Ich bezweifle, dass irgendein Spinnengift etwas gegen Glassophan ausrichten könnte.«

»Was ist das?«, fragte ich und kniete mich neben sie, um in Zachs furchtbar blasses Gesicht zu blicken. Der Schaum vor seinem Mund war rosig verfärbt. »Hat er innere Blutungen?«

Sie nickte. »Das Spinnengift war extrem stark. Wenn wir nur ein wenig später gekommen wären, hätte es irgendein lebenswichtiges Organ zersetzt und ihn getötet. Glassophan ist ein Mittel, das sich unsere Technomagi haben einfallen lassen – es neutralisiert sogar Nervengifte.«

»Technomagi?« Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.

Sie lehnte sich zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Königin Asteria hat mehrere unserer Magi damit beauftragt, sich das technische Wissen der Erde anzueignen. Es ist ihnen gelungen, unsere Magie mit dieser Technologie zu verbinden, um den wenigen Elfen, die sich dazu entscheiden, durch die Portale zu gehen, besser helfen zu können. Wir nennen sie deshalb Technomagi.«

Sie mussten auch den Kristall erschaffen haben, mit dem wir die Wanze in Camilles Wagen aufgespürt hatten. Das war eine Information, die noch sehr nützlich werden könnte. Ich deutete auf Zach. »Was braucht ihr für ihn? Decken, Wasser? Du brauchst es nur zu sagen, und ich beschaffe es dir.«

Sie befühlte seine Stirn, und er nuschelte leise. »Sorge dafür, dass er es warm hat und genug Flüssigkeit zu sich nimmt. Weck ihn jede Stunde auf und gib ihm ein Glas Wasser zu trinken. Vor allem aber braucht er Schlaf. Schlaf und Ruhe. Er ist nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen«, fügte sie warnend hinzu. »Er darf sich nicht anstrengen, mindestens ein paar Tage lang, bis seine inneren Organe sich von dem Schaden erholen konnten, den das Spinnengift angerichtet hat. Wir kommen morgen wieder hierher und untersuchen ihn gründlich, dann können wir mehr sagen.«

Ich stöhnte. Wir brauchten seine Hilfe bei unserem Angriff auf das Spinnennest, aber Sharahs Miene sagte mir, dass das nicht in Frage kam.

»Kein Problem«, sagte ich. Und dann, weil ich nicht anders konnte, fragte ich sie: »Bleibst du erdseits, um uns zu helfen?«

Sie räumte ihr Stethoskop weg und half Mallen, ihre Ausrüstung zusammenzupacken. »Wir haben das mit Chase besprochen und beschlossen, dass wir bleiben werden, als Teil eurer neuen Organisation. Wir stehen nicht unter Lethesanars Befehl. In dieser gefährlichen Situation werden wir bleiben, sofern Königin Asteria einverstanden ist. Wir haben unser Gesuch heute Morgen an sie abgeschickt.«

»Da Zach jetzt außer Lebensgefahr ist – was machen wir mit dem Spion?«, fragte Chase. »Lass mich ihn sehen.«

Ich führte ihn in die Küche und öffnete den Besenschrank. Der Mann war immer noch bewusstlos. Iris hatte ihm mit der Bratpfanne mächtig eins übergezogen.

Chase musterte ihn von oben bis unten. »Sieht diesem Geph van Spynne sehr ähnlich. Vielleicht ein Verwandter.«

»Ja, das hatte ich mich auch schon gefragt. Was zum Teufel machen wir nur mit ihm? Wir müssen ihn natürlich verhören, aber danach...  «

Ohne mich anzusehen, sagte Chase: »Warum überlässt du ihn nicht Menolly? Ich glaube, sie hätte nichts dagegen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen.«

Dieser Vorschlag schockierte mich. Immer, wenn ich an Menollys Opfer dachte, glaubte ich, dass sie irgendwo in ihrem Herzen Reue empfinden müsse, selbst wenn sie Perverse waren. Aber das war meine Projektion. Ich hatte keine Ahnung, wie sie wirklich empfand.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Chase. »Du siehst aus, als hätte ich dir eine geknallt.«

»Nein, nein...  «, sagte ich. »Ich bin nur...  das könnte funktionieren. Wenn Camille nach Hause kommt, fragen wir sie, was sie davon hält.« Aber im Grunde wusste ich schon, dass sie zustimmen würde, und ich wusste auch, dass Menolly damit kein Problem haben würde.

Ich war nur nicht sicher, was ich von diesen Reaktionen meiner Schwestern halten sollte. Ich biss mir auf die Lippe und ermahnte mich, dass Mitleid fehl am Platze war, was Schattenschwinge und seine Helfer anging, seien sie nun Dämonen, Übernatürliche oder Menschen. Ich straffte die Schultern und schloss die Schranktür. »Wir befragen ihn, sobald Camille zurück ist. Bis dahin ist er vielleicht wieder wach.«

Es klopfte an der Haustür, ich öffnete und fand Trenyth davor. Hinter ihm stand ein Elf, der aussah, als sei er etwa sechzig, was vermutlich bedeutete, dass er mehrere tausend Jahre alt war. Auf den ersten Blick wirkte er bescheiden und unauffällig, doch sobald ich ihm in die Augen sah, wäre ich am liebsten ins nächste Loch gekrochen, um mich zu verstecken. Macht. Schiere Kraft. Und Genius.

Trenyth öffnete die Schriftrolle in seinen Händen. »Trillian hat eure Nachricht betreffs der möglichen Umlenkung eures Flüsterspiegels auf den Elfischen Hof überbracht. Ihre Majestät hält die Idee für einer Überlegung wert. Daher hat sie einen unserer Technomagi entsandt, der euren Spiegel neu justieren wird – Ronyl.« Er streckte mir das Schriftstück hin. »Ihr müsst dies unterschreiben, damit ich es Ihrer Majestät zurückbringen kann.«

Ich nahm die Schriftrolle und blickte mich nach einem Stift um. Der erstbeste, den ich finden konnte, war ein Schreiber mit rosa Glitzer-Gel, und ich lächelte – wie passend, der Elfenkönigin in rosa Glitzerschrift zu antworten. Ich kritzelte meinen Namen unter das Dokument und gab Trenyth die Schriftrolle zurück.

»Soll ich Euch gleich den Spiegel zeigen?«, fragte ich.

Ronyl nickte mir knapp zu, und ich sah Chase an. »Pass auf Zach auf, und halte die Augen nach diesen verdammten Spinnen offen. Wir wollen nicht, dass noch jemand vergiftet wird.«

»Vergiftet?« Die Stimme des Technomagus war nicht annähernd so tief, wie ich erwartet hatte, sondern ein recht angenehmer, volltönender Tenor. »Ihr habt Schwierigkeiten mit Spinnen?«

»Mit Spinnlingen. Widernatürliche Werspinnen und ihre kleinen Helfer, leider zufällig Feldwinkelspinnen, und die sind giftig. Meinen Schwestern und mir würde ihr Gift vermutlich nicht allzu viel anhaben – andererseits sind wir halb menschlich, wir können also nicht sicher sein. Jedenfalls haben wir nicht die Absicht, Versuchskaninchen zu spielen und es auszuprobieren.« Vom Flur aus wies ich mit einem Nicken auf Zach im Wohnzimmer. »Bedauerlicherweise verfügen unsere Feinde über irgendein magisch aufgemotztes Gift. Und da sie sich in ganz normale kleine Spinnen verwandeln können, sind sie schwer zu entdecken, ehe es zu spät ist. Außerdem sind sie gegen Mondmagie resistent. Mein Freund – er ist ein ErdweltWerpuma – wurde vorhin von einer gebissen. Wir hätten ihn beinahe verloren.«

Ronyl überlegte einen Moment lang. »Ich glaube, ich kann euch mit eurem Ungeziefer-Problem helfen. Bevor ich gehe, werde ich einen Abschreckungszauber auf euer Haus sprechen – der dürfte sämtliche Spinnen vertreiben, magisch gestärkt oder nicht. Der Schutz hält gut drei bis vier Monate. Möchtest du, dass ich das für euch tue?«

Beinahe hätte ich einen Freudentanz aufgeführt. »Die Herrin Bast segne Euch«, sagte ich. »Braucht Ihr dafür irgendetwas?«

Er lächelte schwach. »Glaub mir, Mädchen, für solch kleine Zauber brauche ich kaum etwas, außer der Kraft in meinem eigenen Herzen. Wenn du mir jetzt den Spiegel zeigen würdest, damit ich mich an die Arbeit machen kann...  «

Ich führte ihn in Camilles Arbeitszimmer und zog das Tuch vom Flüsterspiegel. Der Magus untersuchte ihn vorsichtig und strich mit den Fingern über den Rahmen, dann über das Glas selbst. »Schön verarbeitet. Derjenige, der ihn angefertigt hat, versteht sein Handwerk. Ich kann ihn so einrichten, dass ihr direkt mit Trenyths Sekretariat verbunden werdet. Dann würde er allerdings nicht mehr durch eine bestimmte Stimme aktiviert, sondern mittels eines Passworts. Wäre dir das recht?«

»Nur zu.« Ein Passwort bot nicht dieselbe Sicherheit, würde es aber notfalls Iris, Morio oder Trillian erlauben, den Spiegel zu benutzen.

»Ich wünsche allein zu arbeiten. Geh jetzt.« Und damit wandte er sich ab, als sei ich plötzlich unsichtbar geworden. Ich konnte fühlen, wie seine Magie sich um den Spiegel herum aufbaute, und hielt es für klug, ihm zu gehorchen. Alle Zauberer hatten ihre Geheimnisse, und ich wollte auf keinen Fall irgendetwas sehen, das ich nicht hätte sehen sollen. So etwas konnte gefährlich werden.

Als ich zu Chase und den anderen zurückkam, bemerkte ich, dass Trenyth Zachary untersuchte. Ich kniete mich neben ihn.

»Er ist schwer verletzt. Allein der Gabe unserer Heiler ist es zu verdanken, dass euer Freund das überlebt hat«, sagte er mit grimmiger Miene. »Diese Kreaturen, die ihr bekämpft – sie sind mit Schattenschwinge im Bunde?«

Ich nickte. »Wir wollten Königin Asteria darüber Bericht erstatten, konnten sie aber nicht erreichen, außer über Trillian, und wir waren nicht sicher, ob sie ihm zuhören würde, weil...  « Ich brachte mich zum Schweigen, ehe ich das Vorurteil der Elfen gegen die Svartaner ansprechen konnte. Sie als bigotte Heuchler zu bezeichnen erschien mir nicht besonders höflich, wenn man bedachte, wie viel sie für uns taten.

Trenyth warf mir einen Blick zu. »Das sind gefährliche Zeiten. Manchmal müssen alte Allianzen, ebenso wie alte Animositäten, um höherer Ziele willen neu bewertet werden. Trillian ist an unserem Hof willkommen, vorausgesetzt, er benimmt sich. Du kannst mir Bericht erstatten, während Ronyl seine Arbeit beendet.« Er holte ein Notizbuch hervor und lächelte, als er meinen überraschten Blick bemerke. »Wir lernen von anderen. Zwar finden wir eigene Möglichkeiten, Gegenstände wie diesen herzustellen, ohne die Natur zu terrorisieren, doch wir sind gern bereit, nützliche Konzepte der Menschen zu übernehmen. Notizbücher und Kugelschreiber sind doch sehr praktische Erfindungen.«

Ich erzählte ihm, was geschehen war, seit wir ihn zuletzt gesehen hatten, und ließ nichts aus. Als ich fertig war, saß er sprachlos da und starrte mit beinahe ehrfürchtiger Miene auf seine Notizen.

»Ich kann kaum glauben, dass du tatsächlich den Herbstkönig beschworen hast. Du bist entweder eine Närrin oder die mutigste Frau, die mir je begegnet ist.« Er sah sich meine Stirn an. »Und nun trägst du sein Mal. Da ist noch mehr. Irgendetwas an dir hat sich seit meinem letzten Besuch hier verändert, Delilah D’Artigo. Ich spüre es in den Knochen. Du bist unverwirklichtes Potential, eine schlafende Löwin, die erst noch aufwachen und erkennen muss, welche Macht sie tatsächlich besitzt.«

Ich starrte ihn an und fragte mich, wovon er sprach. »Seid Ihr ein Seher?«

»Nein, aber ich kann Energien lesen. Das ist auch der Grund dafür, dass Ihre Majestät mich als ihren Boten ausgewählt hat. Ich kann hinter die Worte blicken und ihr ein genaues Bild dessen vermitteln, was tatsächlich wahr ist.« Er griff nach meiner Hand. »Darf ich?«

Ich streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie sacht in seine und schloss dann die Augen. Seine Berührung war so leicht wie eine Feder und kitzelte meine Haut. Ich fragte mich, ob er eine Frau hatte, eine Familie, ein Zuhause. Bei uns gaben jene, die für Hof und Krone so bedeutende Posten ausfüllten, jegliche Hoffnung auf ein Privatleben und persönliche Erfüllung auf und verpflichteten sich, bis zum Tod zu dienen und zu schützen. Was brachte jemanden dazu, einen solchen Pfad einzuschlagen? Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals meine Familie aufzugeben, aber manchmal – das hatten wir selbst auf die harte Tour gelernt – war das Schicksal eine grausame Herrin.

Während Trenyth meine Energie erkundete, entstand ein Band zwischen uns, und plötzlich standen mir Bilder vor Augen, die mir das Geheimnis seines tiefsten Herzens enthüllten. Er liebte die Königin. Er liebte sie weit über bloßes Begehren hinaus, liebte sie ohne jede Hoffnung, jemals mit ihr zusammen sein zu können. Er verehrte sie wie eine Göttin, sie war sein Mond, seine Sterne.

Überwältigt von dieser Woge von Emotionen versuchte ich mich still zurückzuziehen, damit er nicht merkte, dass ich es fertiggebracht hatte, in seine intimsten Gedanken hineinzustolpern, doch plötzlich riss er die Augen auf. Er schwieg kurz, dann sagte er nur: »Du besitzt hervorragende empathische Anlagen. Wusstest du, dass du in dir zwei Gesichter vereinst, beide mit deiner Seele verbunden, beide ein Teil von dir, aber weder menschlich noch Fee? Du bist ein Zwilling, nicht wahr?«

»Was? Wie meint Ihr das?« Ich hatte keine Ahnung, wovon er da sprach.

Er lehnte sich zurück und ließ meine Hand los. »Delilah, bei Werwesen sind Zwillinge sehr selten. Und noch seltener bringen Feen Zwillinge hervor, die beide Wereigenschaften entwickeln, aber gelegentlich eben doch. Vor allem bei einem gemischten Abstammungshintergrund. Du hattest eine Zwillingsschwester, die gestorben ist, nicht? Und sie war ein Werwesen wie du, richtig?«

Häh? Ich blinzelte, nun vollends verwirrt. Mutter hätte es mir doch gewiss gesagt, wenn ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte. »Soweit ich weiß, nein. Wie kommt Ihr darauf?«

Er blickte überrascht drein. »Weil du zwei Schatten in dir trägst – einer verbirgt sich im Dunkeln, der andere ist längst ans Licht gekommen. Werschatten. Deshalb ging ich davon aus, dass deine Zwillingsschwester verstorben ist. Wenn das geschieht, erbt oft der überlebende Zwilling die zweite Tiergestalt. Letztlich wird der Überlebende dadurch zum Doppelwerwesen – er kann zwei verschiedene Tiergestalten annehmen.«

Ich sprang auf, denn es drehte mir den Magen um. Ich zog mich in die Küche zurück und goss mir ein Glas Wasser ein. Während ich am Hahn stand und trübsinnig aus dem Fenster starrte, trat Chase zu mir und legte sacht die Hand in meinen Rücken.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht. Was Trenyth gerade gesagt hat...  Chase, in meinem Traum war ich in Tiergestalt, aber ich war kein Tigerkätzchen, und jedes Mal, wenn ich versuche, mich zu erinnern, was ich war, ist alles wie weggewischt. Könnte er recht haben? Ist es möglich, dass eine neue Tiergestalt in meinem Inneren versucht, sich nach draußen zu arbeiten? Und was war das für ein Krampfanfall? Was ist da passiert? So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht.«

»Wann hat das alles angefangen?«, fragte er.

Ich überlegte. »Nachdem der Herbstkönig mich gezeichnet hatte. Irgendetwas hat sich verändert, und ich komme nicht dahinter, was genau.« Ich wandte mich ihm zu und sah ihn an. »Ich habe Angst«, gestand ich ihm. Eigentlich wollte ich das nicht zugeben, aber ich konnte meine Furcht nicht mehr verdrängen.

Er küsste mich zärtlich auf die Stirn und liebkoste dann meine Lippen mit der Zunge. Dann zog er mich an seine Brust und drückte mich an sich. »Es ist gut. Alles wird gut. Glaubst du, deine Eltern hätten dir eine verstorbene Zwillingsschwester verheimlicht? Menschliche Eltern verschweigen solche Dinge manchmal, aus allen möglichen Gründen.«

Ich versuchte, mich in Mutter hineinzuversetzen, scheiterte aber kläglich. Ich mochte ihr sehr ähnlich sein, aber in diesem Punkt musste ich ehrlich zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, was sie in dieser Situation getan hätte.

»Meine Mutter war ein Mensch; vielleicht wollte sie nicht, dass ich davon weiß – dass ich mich schuldig fühle. Aber Vater hätte es mir ganz gewiss gesagt. Oder Camille. Na ja, sofern sie davon gewusst hätte.« Ich löste mich von ihm, setzte mich an den Tisch und barg den Kopf in den Händen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich tatsächlich eine zweite Tiernatur habe, wann wird sie sich manifestieren? Und werde ich sie kontrollieren können?«

Chase setzte sich seufzend zu mir und schob mir einen Teller Kekse hin. »Iss etwas. Und was deine Eltern angeht, na ja...  da habe ich wirklich keine Ahnung. Du solltest deinen Vater danach fragen, wenn du wieder Gelegenheit bekommst, mit ihm zu sprechen. Und wenn du tatsächlich eine zweite Tiergestalt in dir hast...  Du wirst wohl einfach abwarten müssen, was passiert.«

Er hatte recht, und ich wusste es. Es hatte keinen Sinn, so darauf herumzukauen, aber das war leichter gesagt als getan. In diesem Moment knallte die Haustür, und Camille platzte in die Küche, gefolgt von Morio und Smoky. Ich starrte sie an.

»Das ging aber schnell«, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.

»Wir waren schon fast an der Abfahrt bei Renton, als uns jemand auf der Straße entgegengeschlendert kam – Smoky.«

Der lächelte nur selbstzufrieden. »Solange unsere Vereinbarung wirksam ist, merke ich es, wenn du an mich denkst«, erklärte er milde. Camille errötete und begann zu stottern, doch er hob die Hand. »Also dachte ich, ich spare dir einen Teil des Weges und komme dir entgegen.«

»Willst du uns damit sagen, dass du feststellen kannst, wo Camille ist, solange sie dir noch diese einwöchige Ausschweifung schuldet, auf die du dich so offenkundig freust?«, fragte ich. Das kam mir zwar ein wenig obszön vor, könnte aber äußerst nützlich sein, falls Camille etwas zustoßen sollte.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Sie muss an mich denken, damit ich sie erspüren kann. Heute hat sie daran gedacht, zu mir herauszufahren und mich abzuholen, und so war ich in der Lage, ihren Aufenthaltsort festzustellen und euch allen etwas Zeit zu sparen.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich kann also nicht direkt deine Gedanken lesen, sosehr ich mir das wünschen würde.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich.«

»Ich bin ein Drache. Es wäre sehr töricht, irgendetwas anderes von mir zu erwarten.« Seine Worte schienen den Raum mit dem Echo einer Warnung zu erfüllen – ein leiser Hinweis darauf, dass er nichts gegen ein Spielchen einzuwenden hatte, aber jederzeit die Regeln ändern konnte, wie es ihm passte.

»Vermutlich«, sagte Camille leise. »Das werde ich wohl noch herausfinden, was?«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Smoky und entspannte sich. »Alles zu seiner Zeit.«

Ich berichtete ihnen rasch von Ronyl und dem Spiegel und Zachs Zustand. »Zach fällt aus, uns fehlt also ein Mann. Wir sollten jetzt den Spion verhören, aber vorher muss ich Camille noch etwas fragen – unter vier Augen.«

Chase stand auf und gab Morio und Smoky einen Wink. »Kommt, Jungs, sehen wir mal nach Zach und den Sanitätern.« Sie begriffen und verschwanden sofort.

Camille warf mir einen seltsamen Blick zu. »Was ist denn los? Chase hat sie ja schleunigst rausgeschafft.«

»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen, und ich will eine ehrliche Antwort.«

Sie blinzelte. »Natürlich. Worum geht es denn?«

»Hatte ich eine Zwillingsschwester oder einen -bruder? Einen Zwilling, der bei unserer Geburt gestorben ist?« Ich hielt den Atem an und hoffte auf ein Ja – und auf ein Nein zugleich. Ja würde bedeuten, dass meine Eltern mich belogen hatten. Ja würde bedeuten, dass Camille mir all die Jahre lang etwas Wichtiges verheimlicht hatte. Ja würde bedeuten, dass ich gewissermaßen einen Teil von mir schon bei der Geburt verloren hatte. Aber Nein würde bedeuten, dass ich einen Teil meines Zwillings in mir trug und dass dieser Teil von ihm noch lebte.

»Ob du was hast? Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Antworte einfach – ja oder nein.« Ich wollte die schlichte Wahrheit ohne irgendwelches Herumgedruckse.

»Wie wäre es mit Ich weiß es nicht? Ich glaube nicht, aber mit völliger Sicherheit kann ich dir das nicht sagen.« Sie log nicht, das sah ich ihr an. »Möchtest du mir jetzt erklären, was das Ganze soll?«

Ich erzählte ihr, was Trenyth mir gesagt hatte, und ihr Gesichtsausdruck wechselte von verblüfft zu besorgt. »Ich brauche also eine Antwort auf die Fragen: Was ist das für eine zweite Natur, die ich bisher unbemerkt mit mir herumtrage, und hatte ich tatsächlich einen Zwilling?«

Die Stille im Raum dämpfte meine Gedanken, während ich darauf wartete, dass sie etwas sagte. Während die Uhr tickend die Sekunden maß, dachte ich an meine Kindheit und versuchte mich zu erinnern, ob ich je das Gefühl gehabt hatte, dass etwas fehlte. Ja, ich hatte immer das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören, aber das war uns allen so gegangen. Ich hatte von dem Tag geträumt, an dem ich endlich irgendwohin passen würde. Aber eine Außenseiterin zu sein und eine Schwester oder einen Bruder zu vermissen, das waren zwei völlig verschiedene Dinge. Und sosehr ich mich bemühte, ich fand nirgends so etwas wie einen angeborenen, tief in meinen Zellen verschlossenen Hinweis darauf, dass ich als Zwilling zur Welt gekommen war.

Schließlich schüttelte Camille den Kopf. »Delilah, ich weiß nicht. Ich kann mich nicht so deutlich an die Zeit erinnern, bevor du geboren wurdest. Na ja, ich habe vage Bilder im Kopf, von unseren Eltern und von zu Hause...  ein paar Ausflüge und Reisen...  aber Mutter hat mich noch vor deiner Geburt zu Tante Rythwar geschickt. Alle drei Schwangerschaften waren sehr schwer für Mutter, es gab Probleme, weil sich ihr Blut über die Plazenta mit unserem vermischt hat.«

»Ich will nur hoffen, dass diese zweite Gestalt, was immer sie auch sein mag, nicht zum falschen Zeitpunkt hervorspringt und mich völlig überrumpelt.« Müde stand ich vom Stuhl auf. »Ich werde wohl Vater danach fragen müssen, wenn wir ihn das nächste Mal sprechen.«

Camille schlang einen Arm um meine Taille und lehnte den Kopf an meine Schulter. »Und ich will hoffen, dass wir je wieder mit ihm sprechen können«, sagte sie und brach damit das Schweigen, mit dem wir unsere Angst zu bezwingen versuchten.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Noch anderthalb Stunden, bis Menolly aufsteht. Wir bereiten besser eine Liste der Fragen vor, die wir dem Spion stellen wollen. Ich habe das Gefühl, dass wir gegen mehr als eine Handvoll Spinnen kämpfen werden, und vielleicht können wir ihm ein paar nützliche Informationen abpressen.«

Der Gedanke war ernüchternd; wir gesellten uns zu den anderen ins Wohnzimmer. Vor uns lag eine Nacht, die nichts als Blutvergießen und Tod versprach, und all die anderen Dinge, vor denen ich mich am liebsten in meinem Zimmer verkrochen hätte, um die Welt auszusperren.

 

Zach war wach, als wir ins Wohnzimmer kamen, und Sharah und Mallen wollten gerade gehen. »Haltet ihn ruhig, gebt ihm reichlich Flüssigkeit, Suppe, Saft und so weiter, und passt auf, dass er nicht noch einmal gebissen wird. Nächstes Mal könnte es tödlich enden.«

Ich brachte sie zur Tür, winkte ihnen nach und blickte in den Himmel. Camille schaute mir über die Schulter.

»Wir bekommen noch mehr Schnee«, sagte sie.

»Bist du sicher?« Ich musterte die hohe Schneedecke am Boden. »Wir haben schon zehn Zentimeter.«

»Seattle ist vielleicht eher für seinen Regen berühmt, aber glaub mir, ich rieche es in der Luft, und ich spüre es in den Knochen. Es kommt ein Schneesturm, der die Stadt für ein paar Tage lahmlegen wird. Er zieht schon auf, und zwar schnell. Ich bin froh, dass Iris doch nicht in die Buchhandlung gegangen ist.«

»Wenn du recht hast, sollten wir alles vorbereiten, damit wir sofort losfahren können, sobald Menolly aufgewacht ist.« Wir gingen wieder hinein, als der Magus gerade die Treppe herunterkam, und er folgte uns ins Wohnzimmer.

»Euer Flüsterspiegel stellt jetzt eine Verbindung zu Trenyths Sekretariat her«, sagte er und nickte dem Boten der Königin zu. »Niemand dürfte den Unterschied bemerken, außer er untersucht den Spiegel selbst; dann würde er feststellen, dass Elfenmagie darin steckt, und wissen, dass etwas nicht stimmt. Falls eure Heimatstadt versucht, Kontakt zu euch aufzunehmen, werden sie glauben, der Spiegel sei einfach kaputt.« Er warf einen Blick auf Zach. »Ach ja, das Spinnenproblem. Ich mache das von draußen. Dauert nur einen Augenblick.«

Als Camille sich anschickte, ihm zu folgen, schüttelte er den Kopf. »Danke, ich arbeite allein«, sagte er in beinahe hochnäsigem Tonfall.

»Schön«, sagte sie. Ich sah ihr an, dass sie sich eine bissige Bemerkung verkniff. Aber es war nicht klug, Verbündete zu verärgern, selbst, wenn sie einen brüskiert hatten. Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon, und Camille ging dran.

Als Ronyl nach draußen ging, wandte ich mich Zach zu, der sein Handy gezückt hatte und leise mit jemandem sprach. Sobald er aufgelegt hatte, setzte ich mich zu ihm und nahm seine Hand. »Wie fühlst du dich?«

»Wie knapp einem Schicksal als Spinnensuppe entronnen. Während ihr in der Küche wart, haben Trenyth, Sharah und Mallen das Zimmer durchsucht. Sie haben die Spinne gefunden, die mich gebissen hat, und sie plattgemacht.«

»Wir haben einen ihrer Spione gefesselt im Wandschrank sitzen«, sagte ich. »Vermutlich ist die Spinne mit ihm hereingekommen. Wen hast du da angerufen?«

»Das Rudel, um Bescheid zu geben, dass ich in Sicherheit bin.« Er warf mir einen beinahe entschuldigenden Blick zu. »Sie haben mir gesagt, dass Rhonda schon auf dem Weg hierher ist.«

Ich starrte ihn an, und mein Herz begann zu pochen. Wie sie wohl sein würde? Schön? Stärker als ich? Hatte er ihr von mir erzählt? Und warum zum Teufel kümmerte mich das überhaupt? Während ich so dasaß, ein falsches Lächeln ins Gesicht geklebt, kniete Chase sich neben mich, und ich spürte förmlich, wie er Zach begutachtete und meine Reaktion auf diese Neuigkeit abzuschätzen versuchte. Ich hatte keine Ahnung, was in aller Welt ich mit den beiden machen sollte.