Kapitel 9

 

Als ich aufwachte, schien bereits die Sonne. Verflucht, ich hatte verschlafen. Ich quälte mich aus dem Bett und war froh, dass heute Sonntag war und ich mich zumindest nicht beeilen musste, ins Büro zu kommen oder so. Da ich mir meine Zeit selbst einteilen konnte, war ich ohnehin viel freier als Camille, die sich um ihre Buchhandlung kümmern musste, wenn Iris ihr nicht aushalf, oder Menolly, die den Wayfarer leitete. Ich konnte mir meine Tage so einteilen, wie es mir gefiel. Natürlich verdiente ich auch viel weniger als meine Schwestern, aber das war mir nicht so wichtig.

Ich schob kurz den Kopf aus dem Fenster und stellte fest, dass der Tag trocken und kühl war, aber nicht eiskalt. Die Temperatur lag knapp über null Grad, und das bisschen Schnee, das hier in Seattle gefallen war, schmolz langsam zu Schneematsch dahin.

Ich dehnte und streckte mich, bog den Rücken durch, rollte die Schultern und stellte mich dann kurz unter die Dusche. Dann durchwühlte ich den Kleiderschrank und fand eine gemütliche schwarze Jogginghose und ein süßes T-Shirt mit dem Aufdruck Feen – Was sonst? vorne drauf, über einem Bild von Tinkerbell in Betty-Boop-Pose. Die arme kleine Glöckchen war ganz schön ins Hintertreffen geraten, seit wir durch die Portale gekommen waren und die Leute gesehen hatten, wie die Feen wirklich waren.

Ich fuhr mir mit der Bürste durchs Haar, wusch mir das Gesicht, putzte die Zähne und ging dann nach unten, wo mich köstlicher Frühstücksduft empfing. Iris und Camille stapelten Blaubeer-Pfannkuchen frisch aus der Pfanne auf dem Tisch, dazu Ahornsirup, Würstchen, einen Riesenberg Rührei und kaltes Apfelmus aus dem Kühlschrank mit frischer Schlagsahne. Iris hatte meine Milch schon fertig – warm, mit einer Prise Zimt und Zucker.

Ich leckte mir die Lippen. »Ihr zwei wart ja heute schon fleißig. Habt wohl euren häuslichen Tag?« Camille warf mir ein blasses Lächeln zu, und unser Ausflug von gestern Abend senkte sich schwer auf meine gute Laune herab.

»Denkst du über gestern nach?« Ich rückte mir einen Stuhl zurecht, kostete meine Milch, stellte fest, dass sie genau richtig war, und ließ sie mir schmecken. Vielleicht hatte ich wirklich viel von meinem Optimismus und meiner naiven Alles-wird-gut-Überzeugung verloren, seit wir in die Erdwelt gekommen waren, aber Werspinnen hin oder her – nichts und niemand würde sich jemals zwischen mich und mein Frühstück stellen.

»Ja, und außerdem habe ich immer noch nichts von Trillian gehört«, antwortete sie.

Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht hat der König der Svartaner ihn dortbehalten. Oder Tanaquar? Ich blicke nie ganz durch, wie Trillian eigentlich in diesen Krieg verwickelt ist, und er hat es mir auch nie gesagt.« Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, ihn danach zu fragen, aber darum ging es jetzt nicht.

Camille deponierte die letzten Pfannkuchen auf dem Tisch, dann ließen sie und Iris sich auf ihren Plätzen nieder. Wir waren allein – kein Freund saß mit am Tisch – und Menolly schlief sicher in ihrem Unterschlupf. Maggie krabbelte auf dem Boden herum und war vollauf damit zufrieden, mit einem Holzlöffel, den Iris ihr gegeben hatte, auf eine Plastikschüssel zu schlagen. Kichernd lieferte sie uns ein chaotisches Trommelkonzert.

Gargoyles gingen zwar hauptsächlich auf zwei Beinen, aber wenn sie noch Jungtiere waren, brachten ihre Flügel sie aus dem Gleichgewicht, so winzig diese Anhängsel noch sein mochten; deshalb krabbelten sie eher wie Menschenkinder. Wir hatten Maggie von einem der AND-Mediziner untersuchen lassen, und er war zwar kein Spezialist für Kryptiden, hatte aber erklärt, seiner Meinung nach entwickle sie sich normal. Zumindest so normal, wie es eben möglich war, wenn man ihre Herkunft bedachte.

»Trillian fungiert als Bote zwischen Tanaquar und dem Svartaner-König. Ich glaube, er heißt Vodox«, sagte Camille. »Ich dachte ja, er sei nach Svartalfheim zurückgekehrt, nachdem ich ihm davongelaufen war; inzwischen weiß ich, dass er die ganze Zeit über heimlich zwischen seiner Stadt und Y’Elestrial hinund hergereist ist. Dass ganz Svartalfheim jetzt mit Sack und Pack in die Anderwelt übersiedelt hat, macht es ihm natürlich leichter, aber wenn Lethesanar ihn erwischt, ist er so gut wie tot.«

Iris schüttelte den Kopf. »Ein harter Bursche, dieser Junge, aber er steht zu seinem Wort. Ich würde ihn nicht auf hundert Meilen an mich heranlassen wollen, wenn er mein Feind wäre, aber als Freund? Als Freund will ich ihn an meiner Seite.« Sie blickte zu Camille auf. »Es überrascht mich, dass der AND dein Dienstverhältnis noch nicht gekündigt hat – wegen eurer Beziehung, meine ich.«

»Mich auch, und es macht mir Sorgen«, sagte Camille. »Ich warte ständig darauf, dass das Beil fällt. Na ja, zurück zu Trillian. Er hat die besten Verbindungen, aber alles nur inoffiziell. Er hat keinen Titel, er wird unter der Hand bezahlt, und nur sehr wenige wissen überhaupt, was er tut.«

Das klang nach Trillian; er gab sicher einen erstklassigen Spion ab. »Was hast du heute vor?«, fragte ich Camille.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde wohl auf ihn warten, denke ich. Morio kommt nachher vorbei, wir wollen den Schild untersuchen. Und dann fahren wir raus und besuchen Smoky.« Sie wurde ernst. »Wir werden den ganzen Nachmittag lang weg sein.«

»Ich weiß, dass er für seine Hilfe einen hohen Preis verlangen wird, aber ich sehe wirklich keine andere Möglichkeit, dorthin zu kommen. Wenn man bedenkt, was wir gestern Abend gefunden haben...  « Ich dachte an die Höhle und die Leiche des Klempners und schauderte.

Camille schüttelte den Kopf. »Ich weiß. Die Spinnlinge haben diesen Kerl übel zugerichtet. Ich mag gar nicht daran denken, wie sie da herumkrabbeln. Können die sich eigentlich, wenn sie sich verwandeln, auch größer machen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, und das möchte ich wirklich nicht herausfinden.«

Camille runzelte die Stirn. »Ich auch nicht, aber da sie die Gestalt einer gewöhnlichen Spinne annehmen können, warum nicht? Ich fühle mich nicht mehr sicher. Am besten suche ich gleich mal nach einem Ungeziefer-Bekämpfungsspruch.«

»Du könntest auch einfach Insektenspray nehmen«, sagte Iris und blickte mit einem Glitzern in den Augen auf. »Das wäre vielleicht zuverlässiger.«

Ich unterdrückte ein Kichern.

Camille warf Iris einen vernichtenden Blick zu, aber Iris und ich sahen das Lächeln, das sich unter ihrer finsteren Miene versteckte. »Das Spray könnte schädlich für Maggie sein. Und ich weiß, dass meine Magie unzuverlässig ist, aber Morio hilft mir sehr, die launischen Energien zu zügeln, die meine Sprüche beeinflussen.«

»Bist du sicher, dass du heute Nachmittag nicht noch jemanden außer Morio dabeihaben willst?« Ich hatte wirklich keine Lust, mitzufahren und Smoky um eine Mitfahrgelegenheit anzubetteln, aber ich würde es tun, wenn Camille sich damit wohler fühlte.

Um ehrlich zu sein, jagte der Drache mir eine Scheißangst ein. Zugegeben, in seiner menschlichen Gestalt sah er umwerfend gut aus, und in Drachengestalt war er ehrfurchtgebietend – aber er war so alt, dass er mehr Macht hatte, als irgendjemand brauchen konnte. Ein kleiner Fehltritt konnte bedeuten, dass man auf der Speisekarte fürs Abendessen landete. Camille wusste ihn zu nehmen, aber er hatte offenbar auch Spaß daran, sich mit ihr zu kabbeln. Wenn das irgendjemand anderes versuchte, würde er denjenigen am Stück verschlingen und dezent rülpsen.

Sie schüttelte den Kopf. »Danke, aber Smoky scheint auf mich am besten zu reagieren – ich gehe. Wie wäre es, wenn du Iris zu Hause hilfst? Und dich mal ein bisschen entspannst. Ich habe das Gefühl, dass wir alle ziemlich bald um eine kleine Pause beten werden.«

Ich war leichtert und beschloss, Iris ein Friedensangebot zu machen. »Klingt gt gut. Iris, darf ich dich heute Nachmittag zum Shoppen in die Stadt fahren? Ich schulde dir was für den ganzen kaputten Julbaumschmuck.«

Iris’ Miene hellte sich auf. »Shoppen? Sagtest du Shoppen? Versprich mir nur, dass du dich beherrschen und dich nicht mitten in einem Einkaufszentrum verwandeln wirst.«

Ich wurde rot und nickte. »Ich werde mir alle Mühe geben. Garantieren kann ich nichts, aber jetzt bin ich ja gewarnt. Ich werde auf der Hut sein, wenn Dekorationen in der Nähe sind.«

Iris schnaubte. »Du meinst, es ist dann meine Aufgabe, dich davon abzulenken? Das ist ja, als sollte man ein Kind mit etwas beschäftigen, während man mit ihm durch die Spielzeugabteilung bummelt.«

»Ja, so ungefähr.« Ich blickte zu Camille auf. »Gut, ich habe fertig gefrühstückt; ich sehe mir mal dein Auto an.« Ich schlüpfte in meine Jacke und trat hinaus in die lähmende Kälte des Tages.

Der Vorgarten war kahl, aber im Frühling würde er in prächtigen Farben erstrahlen. Iris war fleißig gewesen, sie hatte überall Gartenzauber und Blumenzwiebeln verteilt, die im nächsten Jahr zum Leben erwachen würden. Doch sogar mit dem gefrorenen Schneematsch, der unseren Parkplatz in Schlamm und die Bereiche vor und neben dem Haus in Tümpel verwandelt hatte, besaß unser Land eine wilde Schönheit. Wir würden es nie zu gepflegten Rabatten und perfekt getrimmten Hecken bringen – das war die Domäne der Elfen und Menschen. Nein, die Feen waren für ihre wilden Landschaften bekannt. Und wir hatten genug von Vaters Blut in uns, um diesen Aspekt an jedem Ort, an dem wir wohnten, zum Vorschein zu bringen.

Ich blickte zu dem Wäldchen hinter unserer großen Wiese hinüber. Der Pfad zum Birkensee lockte, aber ich hatte zu tun, so gern ich jetzt auch ein wenig herumgestreift wäre. Ich war keine Straßenkatze, die sich in den Gassen der Stadt herumtrieb. Nein, ich blieb lieber auf dem Land und tollte auf den Trampelpfaden und Feldwegen herum, ob als Zwei- oder Vierbeiner. Ich schob die Sehnsucht nach einem stillen Spaziergang beiseite und wandte meine Aufmerksamkeit Camilles Wagen zu.

Der Lexus war eine Pracht, und Camille hielt ihn in erstklassigem Zustand, zum Entsetzen ihres Bankkontos. Zumindest setzte sie ihre Fähigkeit, so gut wie jeden männlichen VBM mit ihrem Charme umzuwerfen, wirklich nutzbringend ein. Sie schaffte es immer, Preisnachlässe auf Wartungsarbeiten oder Ersatzteile zu bekommen, und auch Menolly und ich nahmen sie mit, wenn an unseren Autos etwas inspiziert werden musste.

Ich holte den Kristall hervor, den Königin Asterias Bote uns gebracht hatte, und schloss die Augen. Die Magie pulsierte in meiner Hand, und ihr stetiger Rhythmus wärmte meine Haut. Ich war keine Hexe, aber diese Energie hatte eine seltsam vertraute Schwingung.

Die Elfenmagie war viel älter als die der meisten Zauberer oder Magier. Camille war an die Mondmutter gebunden, und die Wurzeln ihrer Magie reichten weit zurück in die Nebel der Geschichte, aber die Elfen...  Ihre Magie war die der Bäume und Wälder, der tiefen, dunklen Höhlen und uralten Flüsse, die wild und frei durch das Land strömten. Die Elfen wandelten in den Wäldern, und sogar Elqaneve, ihre Stadt, war zwar fest im Boden der Anderwelt verwurzelt, aber ursprünglich aus Mutter Erde erwachsen.

Langsam und in gleichmäßigem Tempo umrundete ich Camilles Auto und beobachtete aufmerksam den Kristall. Er flackerte sacht, hellblau, frostig weiß, und dann, als ich den Kofferraum erreichte, erblühte in dem Sonnenstrahl in der Mitte ein rosiges Glimmen. Bingo. Ich öffnete den Kofferraumdeckel, und der Kristall flammte auf. Und dann hielt ich inne. Ich weiß nicht, was mich zurückhielt – Instinkt vielleicht oder einfach so ein Gefühl. Jedenfalls zog ich die Hand wieder zurück und holte die Taschenlampe hervor, die ich in meiner Jacke hatte. Ich knipste sie an, und was ich dann sah, machte mich sehr froh, dass ich nicht einfach in die Dunkelheit gegriffen hatte.

Recht weit hinten war eine Metallscheibe von der Größe einer Münze am Boden des Kofferraums befestigt. Eine Wanze, zweifellos. Aber sie wurde bewacht, und zwar von zwei braunen Spinnen mit mehrgliedrigen braunen Beinen. Sie hätten einfache Kellerspinnen sein können, aber das waren sie nicht. Sie hätten auch Werspinnen sein können, aber ich wusste, dass sie auch das nicht waren. Sie waren Wächter, so verzaubert, dass das kalte Wetter ihnen nichts anhaben konnte. Wachposten. Und sie hätten mich gebissen, wenn ich in den Kofferraum gegriffen hätte, ohne nachzusehen.

Langsam zog ich die Hand ganz zurück, denn ich wollte sie nicht erschrecken. Wenn sie sich hinter die Auskleidung oder unter die Sitze verkrochen, würden wir sie nie finden. Dann wären sie im Vorteil, und höchstwahrscheinlich hatten sie es auf Camille abgesehen. Sanft schloss ich den Kofferraum und rannte zurück in die Küche, wo Camille und Iris gerade die Spülmaschine ausräumten.

»Du hast tatsächlich eine Wanze im Auto«, sagte ich, »und zwei Wächter, die darauf aufpassen. Ich glaube, sie sind verhext, was bedeutet, dass Insektenspray ihnen vermutlich nichts anhaben wird. Wir müssen sie einfangen oder sofort töten. Sie dürfen uns nicht entwischen.«

Iris runzelte die Stirn. »Ich habe einen Spruch, der funktionieren könnte«, sagte sie. »Aber dafür brauche ich eine Feder von einem Aasfresser und ein Stück von einem Spinnennetz.«

»Spinnennetz habe ich«, sagte Camille. »Aber was für eine Feder meinst du?«

»Krähe, Rabe – irgendein Vogel, der Aas frisst.« Iris faltete das Geschirrtuch zusammen. »Ich hole meinen Zauberstab.«

Als sie in der Kammer hinter der Küche verschwand, sah ich Camille an. »Iris macht sich immer nützlicher. Ich bin froh, dass sie da ist.«

»Ich auch«, erwiderte Camille grimmig. »Ich frage mich, wie viele von diesen Biestern in meinem Auto hocken. Ich weiß nicht, ob ich den ganzen Weg raus zu Smoky in dem Ding fahren will. Wer weiß, was die sonst noch da drin versteckt haben?«

»Der Jägermond-Clan muss überall auf dem Gelände des Puma-Rudels Spione versteckt haben, und ich wette, sie wollten wissen, was wir dort zu suchen hatten. Also haben sie die Wanze gestern Abend angebracht, während wir draußen unterwegs waren. Den Göttern sei Dank, dass wir auf der Rückfahrt den Mund gehalten haben.«

Stirnrunzelnd blickte ich zur Decke auf. Mich kribbelte es beim Gedanken an die achtbeinigen Widerlinge, und obwohl ich wusste, dass das nur psychosomatisch war, kratzte ich mich am Arm. »Außerdem frage ich mich...  Wenn sie uns bis hierher folgen konnten, sind sie dann gerade dabei, auch in unserem Haus Spione zu verteilen? Mir wird das Ganze total unheimlich, Camille.«

Sie schlang einen Arm um meine Schultern. »Ist schon gut. Alles wird wieder gut«, flüsterte sie. »Die Banne haben keinen Alarm gegeben.« Sie verstummte. »Das ist seltsam. Die Banne sind nicht angesprungen, als wir gestern Nacht aufs Grundstück gefahren sind – dabei sind diese Spinnen Feind genug, um sie auszulösen. Ich frage mich, was da passiert ist?«

»Ich weiß nicht, aber der Jägermond-Clan wird mir immer unsympathischer, je mehr wir über ihn erfahren.«

»Wenn Trillian zurückkommt, frage ich ihn um Rat«, sagte Camille. »Er kennt sich mit dunkler Magie aus. Ich habe das Gefühl, dass diese Werspinnen ziemlich scheußliche Sachen draufhaben.« Seufzend ließ sie den Arm sinken und griff zum Telefon. »Ich rufe Morio an und bitte ihn, mit seinem Jeep herzukommen. Wahrscheinlich ist er sauber, aber lass mir den Kristall hier, damit ich ihn überprüfen kann. Wie wäre es, wenn du dir schon mal deinen Jeep und Menollys Jaguar vornimmst? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Ich hole die Feder und das Spinnennetz für Iris.«

Wieder lief ich klappernd die Stufen vor dem Haus hinunter und durchlief die Prozedur mit dem Kristall noch einmal an meinem Jeep und dann an Menollys Jaguar. So weit, so gut – nichts. Ich blickte zum Haus zurück, als Camille und Iris erschienen. Iris trug ein dünnes grünes Gewand, das ihre Kurven zur Geltung brachte. Sie war alt genug, um unsere Tante zu sein, und sie war viel kleiner als wir, aber trotzdem sexy wie eine Jungfrau an einem Sommermorgen.

Als die beiden die Treppe herunterkamen, warf ich Iris die Wagenschlüssel zu. Sie fing sie auf, schloss rasch den Kofferraum auf und warf sie zu mir zurück. Camille reichte Iris das Spinnennetz, das der Hausgeist sich prompt in den Mund stopfte, und dann die Feder, die Iris in den Wind hielt. Ohne großes Trara oder auch nur ein leises Plopp verschwand die Feder, und Iris murmelte etwas, das ich nicht verstand.

Dann beugte sie sich vor und blies in den Kofferraum, in Richtung der Spinnen und der Wanze. Eine Frostwolke schoss aus ihrem Mund; alles, was sie traf, wurde schockgefrostet, und ich erschrak dermaßen, dass ich mich beinahe auf den Hintern gesetzt hätte. Das Innere des Kofferraums sah aus, als hätte darin ein Blizzard gewütet. Die Spinnen waren festgefroren. Iris hielt ein Marmeladeglas in den Kofferraum, schnippte die Spinnen mit der Spitze ihres Zauberstabs hinein und schraubte den Deckel zu.

Sie trat zu Camille und mir, die wir schwer beeindruckt etwas abseits standen, und hielt das Marmeladeglas hoch. Die Spinnen waren starrgefroren, aber ich hatte das Gefühl, dass sie nicht tot waren. »Hab sie! Jetzt kümmert ihr euch um die Wanze, während ich diesen Jungs eine einfache Fahrkarte in die Unterwelt besorge. Dann räume ich hier auf und ziehe mich um, damit wir einkaufen fahren können.«

Als sie die Verandatreppen hinaufstieg, schüttelte ich den Kopf. »Sie ist ein Wunder. Wie sind wir bloß ohne sie zurechtgekommen? Ich wette, der AND bezahlt ihr nicht mal den Mindestlohn. Die ziehen Geister doch immer über den Tisch.«

Camille runzelte die Stirn. »Ja, und ich weiß, dass sie sich strikt geweigert hat, in die Anderwelt zu übersiedeln. Sie ist ja auch eine Erdwelt-Fee. Es gefällt ihr hier.« Sie küsste mich auf die Wange. »Danke, dass du diese Wanze aufgespürt hast.«

Ich drückte sie kurz an mich und ging dann zu meinem Jeep, schwang mich auf den Fahrersitz und starrte aufs Armaturenbrett.

Camille folgte mir und setzte sich auf den Beifahrersitz, um mit mir auf Iris zu warten. »Was ist los? Hast du etwas auf dem Herzen?«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte ich und starrte durch die Windschutzscheibe. »Diese ganze Sache hat mich nur ziemlich erschüttert. Ich mache mir Sorgen um Vater und Tante Rythwar. Und ich fühle mich zu Zach hingezogen, obwohl er mich nervös macht. Dieses ganze Puma-Rudel macht mich nervös. Die verbergen irgendetwas, Camille, aber ich komme nicht dahinter, was es ist. Aber es muss ziemlich wichtig sein.«

Noch während ich sprach, wusste ich, was an mir nagte, seit ich einen Fuß auf das Land des Rainier-Rudels gesetzt hatte. Die Pumas verbargen ein Geheimnis, das so tief vergraben war, dass man es nur mit einem Bagger zum Vorschein bringen konnte. Ein Geheimnis, für das sie starben.

»Glaubst du, die Pumas sind mit den Dämonen im Bunde? Mit Schattenschwinge?«, fragte Camille.

Ich dachte einen Moment lang darüber nach. »Nein, das passt nicht zusammen. Ich glaube nicht, dass sie die Bösen sind. Dieser Schild gehörte nicht ihrem Clan. Ich glaube, er stammt vom Jägermond-Clan. Und ich glaube, dass die es auf die Pumas abgesehen haben, und wir sollten schnell herausfinden, warum – ehe die Werspinnen alle da draußen umgebracht haben.« Ich versuchte, meine Furcht loszuwerden, und schüttelte den Kopf.

»Die Werclans und Stämme hier in der Erdwelt sind viel territorialer als die Clans zu Hause in der Anderwelt«, sagte Camille. »Vielleicht geht es bei der ganzen Geschichte um Rache. Vielleicht hat das gar nichts mit unserem Degath-Kommando zu tun. Und vielleicht hat das Degath-Kommando gar nichts mit uns zu tun. Könnte der Jägermond-Clan die Dämonen hergeholt haben, als Unterstützung im Krieg gegen das RainierRudel?«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Möglich wäre es wohl. Die Clans zu Hause scheinen besser miteinander auszukommen. Um Vollmond herum kann es bei denen auch brenzlig werden, aber sie sind nicht so sehr in ihre eigene kleine Welt eingekapselt wie die Erdwelt-Clans. Natürlich werden sie in der Anderwelt als normale Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert. Vielleicht müssen sie deshalb nicht so verschworene Gemeinschaften bilden.«

Iris erschien wieder in der Tür, in Rock und Pullover. Sie hielt einen Samtblazer in der Hand und schlüpfte auf dem Weg zu meinem Jeep hinein.

»Ich habe die Spinnen entsorgt. Sie waren keine Werwesen, sondern verhexte Winkelspinnen. Sie sind vollständig verbrannt, keine Sorge.«

Mir stand plötzlich ein unschönes Bild vor Augen, und ich warf ihr einen Blick zu. »Äh, du hast sie doch nicht im Ofen verbrannt, oder?«

»So etwas würde ich nie tun«, erwiderte sie schockiert. »Das wäre eine grausame und übertriebene Bestrafung. Ich habe sie in die Mikrowelle gesteckt.«

Blinzelnd starrte ich sie an. Camille öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn aber gleich wieder.

Iris zuckte mit den Schultern. »Was denn? Sie zu zerquetschen, hätte nicht viel genützt; womöglich hätte irgendjemand sie reanimieren können. Ich wollte sie endgültig erledigen. Mikrowellen und Magie vertragen sich nicht besonders gut, also schien mir das die beste Lösung zu sein. Ich habe sie natürlich vorher eingepackt, damit es keine Schweinerei in der Mikrowelle gibt.«

Ich gebe ja zu, dass ich gelegentlich eine Maus, eine Ratte oder einen Schmetterling gegessen habe, aber plötzlich schien mein Frühstück die falsche Richtung einzuschlagen. Camilles Gesichtsausdruck sagte mir, dass es ihr genauso ging.

»Äh, ja...  danke schön.« Camille sprang aus dem Jeep. »Ich bringe Maggie zu Menolly in den Keller, bevor ich mit Morio wegfahre, falls ihr bis dahin nicht zurück seid«, sagte sie und ging zurück ins Haus.

Ich winkte ihr nach und beugte mich dann hinüber, um Iris beim Einsteigen zu helfen, aber sie kletterte ohne Hilfe auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. »Okay, los geht’s. Ich will den Schlussverkauf ausnutzen, bevor es zu voll wird«, sagte sie.

Ich konnte nur daran denken, wie froh ich war, dass Iris auf unserer Seite stand, als ich auf die Straße einbog und wir uns auf den Weg zum Belles-Faire Town Square machten – einer der wichtigsten Einkaufsmeilen in der Gegend.

 

Zwei Stunden später hielt ich wieder vor dem Haus. Ich warf Iris einen Blick zu. Sie schaute immer noch finster drein.

»Redest du immer noch nicht mit mir?«, fragte ich. »Ich habe dir doch gesagt, dass es mir leidtut.«

Iris sprang hinunter auf den Boden und zerrte eine Handvoll Einkaufstüten aus dem Jeep. Ich eilte zu ihr, um den wütenden Hausgeist zu besänftigen.

»Das wollte ich doch nicht! Es war nicht meine Schuld«, sagte ich und versuchte, ihr ein paar Einkäufe abzunehmen. Sie riss mir eine besonders hübsch glänzende Tüte aus der Hand.

»Ich kann nicht glauben, dass du das tatsächlich getan hast«, fauchte sie und stapfte die Stufen zur vorderen Veranda hinauf. Ich folgte ihr langsamer, beladen mit den Tüten, die sie nicht mehr geschafft hatte.

»Hör doch, vielleicht gelingt es mir irgendwann, mich besser in den Griff zu kriegen, aber bis dahin musst du einfach akzeptieren, dass ich meine zweite Natur nicht immer unter Kontrolle habe.« Ich versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Für eine so kleine Frau war sie überraschend schnell.

Sie ließ ihre Tüten vor der Haustür fallen und fuhr herum. »Und wie hätten wir es diesen armen Kindern erklären sollen, wenn du den Truthahn getötet hättest? Du hast das arme Ding ja praktisch skalpiert. Ich mag einen schönen Braten zu Thanksgiving oder am Julfest, aber ich vergewissere mich zumindest, dass der Truthahn tot ist, bevor ich versuche, ihn zu essen! Und sieh dich nur an – du hast lauter Federn am Rock. Was für eine Sauerei.« Sie stieß energisch die Tür auf.

Kläglich blickte ich auf meinen Rock hinab, an dem tatsächlich noch ein paar letzte, zerknautschte Federn hingen. Ups. Ich zupfte sie seufzend ab. Es war wirklich nicht meine Schuld, dass sie mitten in der Gosford’s Plaza einen Streichelzoo aufgebaut hatten. Und es war auch nicht meine Schuld, dass der ziemlich dicke Truthahn in diesem Gehege so lecker ausgesehen hatte.

»Hör zu, ich rede mit dem Laden, ich bringe das wieder in Ordnung«, rief ich und eilte ihr nach. »Ich rufe sie an und erkläre ihnen, dass du nichts dafür konntest und dass sie dich nicht meinetwegen mit einem Hausverbot belegen dürfen. Okay?«

»Das ist das Allerschlimmste! Gosford’s ist mein Lieblingsgeschäft. Dort hinausgeworfen zu werden – das kommt überhaupt nicht in Frage!« Iris schnaubte und legte ihre Einkäufe auf den Küchentresen. »Wie auch immer, es ist nur...  ach, nichts...  «

Ich sah, wie ein Lächeln versuchte, sich durch ihre finstere Miene an die Oberfläche zu kämpfen. »Du musst schon zugeben«, sagte ich, »dass das saukomisch war.«

»Nicht für den verdammten Vogel«, sagte sie und unterdrückte dann ein Kichern. »Ach, na schön. Es war komisch, aber nichts auf der Welt wäre so komisch, dass es meinen Rauswurf aus dem Shopping-Paradies wert sein könnte.«

»He, du hast selbst gesagt, dass wir es geschafft haben, alles zu besorgen, was du wolltest. Und ich habe dafür bezahlt, also solltest du nicht so sauer auf mich sein«, nuschelte ich und durchforstete den Kühlschrank. Ich wollte Geflügel, und zwar auf der Stelle. In einem Tupper auf der obersten Ablage fand ich Reste einer Mahlzeit von KFC; lächelnd zog ich sie heraus und ließ es mir schmecken. »Willst du was?«, fragte ich und bot ihr eine Hähnchenkeule an.

»Nein, ich möchte nichts, vielen Dank!«, erwiderte Iris verschnupft und machte sich daran, unsere Beute auszupacken. Aber zumindest lächelte sie wieder. Sie breitete die Dekorationen und Kerzen aus, faltete dann die Tüten zusammen und ging auf die hintere Veranda hinaus, um sie wegzuräumen. Plötzlich stieß sie einen schrillen Schrei aus. Ich ließ mein Hühnerbein fallen und rannte zur Hintertür.

Iris stand da wie angewurzelt und starrte auf ein großes Netz, das quer vor der Tür gespannt war. Es war aus dicken, kräftigen Strängen gewoben – so ein Spinnennetz hatte ich noch nie gesehen. In der Mitte, gehalten von Fäden wie aus Stahl, hing ein brummiger alter Kater, der hier in den Wäldern herumstreifte. Mein Freund Cromwell. Er war staubtrocken, völlig ausgesaugt, und in einem Gummiband um seinen Hals steckte ein zusammengefalteter Zettel.

Ich schauderte, trat vor und spürte, wie in meinem Herzen ein Feuer zu lodern begann. Stumm befreite ich den Kater aus dem Netz, trug ihn zu der Kommode, in der Iris ihre Gartengeräte aufbewahrte, und löste das Papier aus dem Gummiband. Ich wollte nur noch eins: denjenigen töten, der ihm das um den Hals gehängt hatte.

Cromwell war ein Streuner, der in seinem Leben eine Menge Kämpfe ausgefochten hatte. Wir hatten uns ein paarmal unterhalten, wenn ich im Licht des Vollmonds umhergestreift war. Er war von Kindesbeinen an ganz auf sich allein gestellt gewesen, und er mochte Menschen nicht besonders, aber er machte seine Runde von Haus zu Haus. Die meisten Nachbarn stellten jeden Abend ein bisschen Futter für ihn raus. Manchmal waren die Waschbären vor ihm da – dann ging er eben weiter zum nächsten Haus und fraß dort.

Er war alt, und er war krank, sterbenskrank vermutlich, aber er hatte sich stur ans Leben geklammert, angetrieben vom Willen zu überleben, allen Widrigkeiten zum Trotz.

»Das hat er nicht verdient«, sagte ich und kämpfte mit den Tränen. Ich ballte die Fäuste; wer auch immer ihn ermordet hatte, ich wollte ihn fühlen lassen, wie es war, wenn einem das Leben mitsamt der Würde ausgesaugt wurde.

Iris trat hinter mich und rieb mir sacht den Rücken, so hoch sie eben kam. »Es tut mir sehr leid. Ich habe ihn manchmal hier herumschleichen sehen. Er war ein Freund von dir, nicht wahr?«

Ich blickte auf sie hinab und fragte mich, wie viel sie über mein Leben als Katze wusste. Ich nickte und griff nach einem Jutesack, um ihn zuzudecken, aber sie hielt mich mit einer Geste zurück und sagte: »Ich bin gleich wieder da. Halte Wache bei ihm.«

Während ich wartete, faltete ich den Zettel auf. In schnörkeliger Schreibschrift – dünn und spinnenbeinig und sehr präzise geschrieben – stand da: Neugier ist der Katze Tod. Halte dich vom Rainier-Puma-Rudel fern, sonst ergeht es dir und deinen Schwestern wie deinem Freund hier.

Iris erschien mit einer seidenen Kissenhülle, bestickt mit Tulpen und Tausendschön. Die Hülle war eine von ihren eigenen, und ich warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Stumm steckte ich den Zettel in die Tasche, hob dann Cromwell hoch und schob ihn sacht in sein seidenes Leichentuch. Iris band die Enden des Kissenbezugs mit violettem Samtband zu und sah mich dann abwartend an.

Ich wandte mich wieder dem Netz zu und stieß ein lautes Fauchen aus. Iris schob mich beiseite. Mit einer einzigen Handbewegung ließ sie das Netz gefrieren, und es fiel zu Boden und zerbarst in tausend Stücke. Ich schnappte mir den Spaten und bedeutete ihr, Cromwell mitzunehmen. Wir trugen ihn hinaus in den Garten, und ich grub ein Loch unter einer jungen Eiche.

Iris legte ihn hinein. »Möchtest du ein paar Worte sagen?«

Ich dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. Cromwell hätte sicher nichts von Zeremonien gehalten. Er war kein Schoßkätzchen. Er war ein Kämpfer gewesen, ein echter Kater. Als Mensch wäre er ein altgedienter Soldat oder Krieger gewesen. Er hätte bestimmt keine hübschen Worte und blumigen Abschiedsreden gewollt. Ich drückte nur die Finger an die Lippen und warf ihm eine Kusshand nach. »Möge die Herrin Bast dich in ihre Arme schließen, mein alter Freund«, flüsterte ich. Dann schaufelte ich das Grab wieder zu.

Auf dem Weg zum Haus zeigte ich Iris den Zettel.

Sie tat die Warnung mit einem Schulterzucken ab. »Ihr werdet euch doch davon nicht aufhalten lassen, oder?«

Ich schnaubte. »Die haben sich die falschen Mädels ausgesucht und den falschen Kater ermordet. Iris, wir haben uns Dämonen in den Weg gestellt und den Kampf gewonnen. Ein Nest voll Spinnen ist nichts im Vergleich zu solchen Feinden.« Trotzdem – als wir die hintere Veranda erreichten, konnte ich nicht anders, als argwöhnisch die Wände, Decken und Zimmerecken abzusuchen, um mich zu vergewissern, dass wir nicht beobachtet wurden.