Kapitel 4

 

Am nächsten Morgen sah es nicht besser aus. Wir waren alle nervös, und meine Laune besserte sich nicht gerade, als ich schon auf dem Weg zum Frühstückstisch von Trillian aufgehalten wurde.

Perfekt gestylt wie üblich, trug er schwarze Jeans, einen hellgrauen Rollkragenpulli und Bikerstiefel mit hohen Absätzen. Seine reichlich mit Nieten und Schnallen verzierte Lederjacke saß knackig auf Taille. Er und Camille gaben schon ein irres Paar ab. Irgendwo zwischen Pirat und Urban Ninja, sah Trillian zugegebenermaßen umwerfend aus. Er war ein arroganter Dreckskerl, aber trotzdem umwerfend.

»Morgen«, sagte ich gähnend. Wie üblich war ich die halbe Nacht lang aufgeblieben und plante ein gemütliches Nickerchen nachher im Büro. Ich schnupperte und wurde vom Duft von Würstchen und Pfannkuchen begrüßt, der durch den Flur trieb. »Ist das Frühstück fertig? So, wie es hier riecht, hat Iris schon morgens den Herd angeworfen.«

»Sie ist eine begabte Köchin«, sagte Trillian und hielt mich mit einer leichten Berührung am Arm zurück. »Bevor wir essen, möchte ich dich bitten, etwas für mich zu tun, Delilah.« Seine Augen waren wie flüssiges, geschmolzenes Eis, und wenn ich schwächer gewesen wäre, hätte er mir wohl ein »Klar doch« entlockt, ohne jede weitere Erklärung. Aber ich kannte Trillian zu gut. Wenn er um einen Gefallen bat, konnte es dabei allein um seinen Vorteil gehen.

»Was willst du?«

»Du traust mir immer noch nicht?«, entgegnete er mit leicht hochgezogenem Mundwinkel. Dieses halbe Lächeln machte aus Camille Wachs in seinen Händen, doch ich bekam davon nur eine Gänsehaut. Er war listig und verschlagen. »Ich bitte dich nur darum, Chase davon zu überzeugen, dass ich ihn nicht ausrauben, fesseln oder kastrieren oder seine Wohnung in Schutt und Asche legen werde.« Er verschränkte die Hände im Rücken und schaukelte leicht auf den Fersen vor und zurück, wobei er mich mit einem verschwörerischen Lächeln ansah, das mich an ein lauerndes Krokodil erinnerte. »Dein Freund erlaubt mir nicht, allein in der Wohnung zu bleiben.«

Ich schnaubte. »Das sieht Chase ähnlich. Ich nehme an, euer kleines Arrangement funktioniert nicht besonders gut? Warum beeilst du dich dann nicht einfach und suchst dir eine eigene Wohnung?«

Trillian schnaubte ungeduldig. »Ich habe gewisse Ansprüche.«

»Du meinst, du kannst dir höchstens eine Bruchbude leisten«, entgegnete ich. »Tut mir leid, aber ich habe nicht die Absicht, mich in euren Streit verwickeln zu lassen. Camille und ich haben euch gesagt, dass das eine dämliche Idee ist, aber nein, ihr beiden musstet ja unbedingt gleich zusammenziehen. Jetzt wohnst du erst seit ein paar Tagen da, und schon jammerst du rum.«

Obwohl ich diese Unterhaltung so schnell wie möglich beenden wollte, siegte meine Neugier. »Sag mal, Trillian, wie hast du Chase eigentlich dazu gebracht, dich bei ihm einziehen zu lassen?«

Ich konnte mir das nicht erklären. Chase war ein kluger Mann, der seine Privatsphäre sehr schätzte. Er war absolut kein Umfaller, der sich von irgendjemandem zu etwas drängen ließ, und ich wusste, dass er Trillian nicht traute. Wie es dazu hatte kommen können, dass diese beiden zu Mitbewohnern wurden – auch nur vorübergehend –, war mir ein Rätsel.

Trillian sagte nichts, sondern wandte sich ab, um in die Küche zu gehen, doch ich erhaschte noch einen Blick auf ein Glitzern in seinen Augen. Ich packte ihn an der Schulter und riss ihn herum.

»Du hast ihn behext, nicht wahr? Du hast dieses verdammte Charisma aufgedreht, das ihr Svartaner aus jeder Pore verströmen könnt, und er hatte überhaupt keine Chance, nein zu sagen!« Ich stemmte die Hände in die Hüften, beugte mich vor – ich war ein wenig größer als er – und starrte ihm mitten ins Gesicht. »Das ist der mieseste, arroganteste Trick überhaupt, und –«

»Dürfte ich dich an eine Kleinigkeit erinnern?«, unterbrach er mich milde und inspizierte gelassen seine Fingernägel. »Dein Detective ist Hals über Kopf in dich verliebt, und zwar wegen deines Anteils an Feenblut, meine Liebe. Also wage es nicht, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen. Was hat Camille eigentlich dazu gesagt, dass du unseren glorreichen Polizisten bezaubert hast?«

Abrupt schloss ich den Mund und wich einen Schritt zurück. Er war also dahintergekommen, dass ich meinen Glamour aufgedreht hatte, an jenem Abend, als Chase und ich zum ersten Mal allein gewesen waren. Und Chase wusste immer noch nichts davon. Ich hatte mich hinterher so entsetzlich dafür geschämt – einen nichtsahnenden VBM mit meinem Glamour zu verzaubern! –, dass ich Camille nichts davon gesagt hatte. Sie dachte, Chase hätte den ersten Schritt getan, und Chase glaubte das auch. Menolly ebenfalls. Und ich war fest entschlossen, sie alle in diesem Glauben zu lassen.

Trillian lachte bellend. »Sie weiß es nicht, oder? Du hast ihr nicht gesagt, dass du deinen kleinen Liebhaber verzaubert hast, nicht wahr?«

Ich funkelte ihn böse an. »Chase hat Camille genervt, und sie wollte nichts von ihm, also habe ich...  ich habe ihn nur –«

»Von ihr abgelenkt, damit sie ihre Ruhe hat? Hach, das ist ja unbezahlbar«, sagte er, wobei er von einem Ohr zum anderen grinste. »Na komm, Kätzchen. Gehen wir frühstücken. Du und ich, wir sind uns ähnlicher, als du zugeben möchtest. Camille kann absolut skrupellos sein, wenn sie will, aber sie tut so etwas völlig offen. Du tust immer so lieb, aber hinter dieser Fassade bist du alles andere als ein braves kleines Schmusekätzchen, nicht wahr?«

Ich biss die Zähne zusammen und sagte nichts. Trillian mochte ein Riesenarschloch sein, aber er nannte die Dinge beim Namen. Und mich durchschaute er, als wäre ich aus Kristall. Ich hatte mich schon länger für Chase interessiert, obwohl ich das nicht hatte zugeben wollen, weil ich neugierig war, was Sex und diese ganze Orgasmus-mit-anderen-Leuten-Sache anging. Er war süß und stand quasi zur Verfügung. Aber ich wusste, dass er weiterhin Camille hinterherlaufen würde, obwohl sie ihn nicht wollte, also drehte ich bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bot, meinen Charme auf. Ich hatte genau dasselbe getan wie Trillian, nämlich meinen Glamour dazu benutzt, zu bekommen, was ich wollte.

»Ich habe Camille nichts davon gesagt, weil...  «

»Oh, mir brauchst du deine Gründe nicht zu erklären. Mir persönlich ist das völlig gleichgültig. Aber von jetzt an wirst du dich vielleicht nicht mehr so über meine Beziehung zu Camille aufregen oder es mir verübeln, wenn ich hier und da jemanden ein bisschen behexe.«

Am liebsten hätte ich ihm dieses selbstzufriedene Grinsen vom Gesicht gewischt und darauf bestanden, dass man das überhaupt nicht vergleichen konnte. Dass wir einander überhaupt nicht ähnlich waren und ich nie so tief sinken würde wie ein Svartaner. Aber damit hätte ich nur mich selbst belogen.

»Mir war gar nicht bewusst, dass ich Chase anziehend fand, bis ich ganz sicher war, dass Camille ihn nicht wollte«, sagte ich. »Ich war selbst überrascht, als er tatsächlich so auf mich angesprungen ist.«

Trillian trat zurück, um mich vorzulassen. Kopfschüttelnd schob ich mich an ihm vorbei in die Küche, wo Iris Pfannkuchen und Würstchen briet.

Als er mir folgen wollte, drehte ich mich so plötzlich um, dass er gegen mich prallte. Ich flüsterte: »Wenn du mit Chase ein Hühnchen zu rupfen hast, dann mach das gefälligst selbst. Aber merk dir eins: Wenn du ihm ein Haar krümmst, hetze ich Menolly auf dich. Sie mag dich nicht, und sie wartet nur darauf, dass eine von uns ihr grünes Licht gibt. Täusch dich nicht, ich würde es tun.«

Trillian schnaubte, sagte aber nichts. Er betrat die Küche und beugte sich tief hinunter, um Iris auf die Wange zu küssen.

Sie reichte ihm einen Teller und wies auf den Tisch. »Iss tüchtig, dass du etwas auf die Rippen bekommst, Junge«, sagte sie. »Das Frühstück steht auf dem Tisch, und ich habe noch mehr auf dem Herd.«

Trillian setzte sich, spießte mit der Gabel einen Pfannkuchen auf und bestrich ihn reichlich mit Butter und Honig.

Iris warf mir ein vielsagendes Grinsen zu. Sie war die Einzige, die ihn im Griff hatte. Normalerweise nahm er Vernunft an, wenn Iris ihm einen direkten Befehl gab. Camille hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass Iris Trillian an seine Mutter erinnern musste. Ich hielt das für weit hergeholt, aber wer weiß?

Ich lud mir den Teller mit Pfannkuchen und Würstchen voll und goss mir ein großes Glas Milch dazu ein. Iris sah befriedigt zu, wie ich mir mein Frühstück schmecken ließ. »Und, was hast du heute vor?«, fragte ich sie.

Sie legte den letzten Pfannkuchen auf den hohen Stapel, nahm die Pfanne vom Herd und kletterte auf ihren Barhocker. Geräusche von der Treppe her sagten uns, dass Camille auf dem Weg nach unten war. Als sie in die Küche trat, aufgedonnert wie üblich, breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Essen«, sagte sie und beäugte schon den Tisch, während sie Trillian flüchtig küsste. Als ihre Lippen auf seine trafen, sprühten Funken zwischen ihnen, und einen Augenblick lang konnte ich die Bänder aufschimmern sehen, die sie aneinanderfügten.

Iris meldete sich zu Wort. »Wenn ihr jetzt alle essen und verschwinden würdet, könnte ich mit dem Putzen anfangen. Mittwinter steht vor der Tür, und wir müssen alles für die Feiertage vorbereiten.«

Ich warf Camille einen Blick zu. »Mittwinter wird ohne Vater nicht dasselbe sein wie sonst. Sollen wir uns überhaupt so viel Mühe machen?«

Camille zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch schon überlegt, ob wir es dieses Jahr einfach vergessen sollten, aber das ist eine Tradition, Delilah. Mutter hätte sich gewünscht, dass wir an den Julfeiern festhalten, und offen gestanden könnte ich zu den Feiertagen ein bisschen Heimatgefühle brauchen.«

Zu Hause in der Anderwelt versammelte sich die Stadt am Mittwinter-Abend an den Eulizi-Fällen, die sich in den Y’Leveshan-See ergossen. Der See und der gewaltige Wasserfall waren dann mit Eis bedeckt und glitzerten in der verschneiten Nacht. Alle kamen am Seeufer zusammen, um den Zeitenwechsel zu feiern, wenn die Herrschaft der Schneekönigin und des Stechpalmenkönigs begann. Magie floss dick wie Honig, und wenn die Sonne aufging, schimmerte auf den im Frost erstarrten Feldern und Wiesen eine üppige Schicht frisch gefallenen Schnees.

Unsere Mutter hatte die Traditionen Y’Elestrials mit ihren eigenen vermischt. Wir nahmen nicht nur an den Feierlichkeiten der Stadt teil, sondern schmückten auch unser Haus mit Stechpalmenzweigen und Immergrün. Sie hatte Vater sogar dazu überredet, jedes Jahr einen Baum hereinzubringen, den wir dann mit Zaubern und Kristallen schmückten. Das Haus war während dieser Tage so wunderschön gewesen.

Plötzlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als das Mittwinterfest hier auf dieser Welt, die von den Göttern verlassen worden war, wiederaufleben zu lassen. »Vielleicht...  vielleicht könnten wir ein Ritual am Birkensee abhalten?«

Iris warf mir einen Blick zu, und ein Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Ich finde, das ist eine zauberhafte Idee«, sagte sie. »Heute Abend schmücken wir das Haus. Ich werde gern alles vorbereiten, wenn ihr Mädchen mir die Aufgabe anvertrauen wollt.«

Camille lehnte sich mit erleichterter Miene zurück. »Sehr gern, danke. Du gehörst doch jetzt zur Familie, nicht?«

»Wo wir gerade davon sprechen – Delilah, hast du heute Zeit, im Fairy Tale vorbeizuschauen und mein Kleid abzuholen?« Iris blickte fragend zu mir auf. »Es ist schon bezahlt. Jill hat angerufen und Bescheid gesagt, dass es fertig ist.«

Ich nickte. »Kein Problem. Ich bringe es dir heute Abend mit.«

Camille warf einen Blick auf die Uhr. »Huh. Wir müssen wirklich los. Ich werde während der Arbeit versuchen, mehr über diese Jansshi-Dämonen in Erfahrung zu bringen, sofern da überhaupt etwas zu finden ist.«

Trillian folgte ihr ins Wohnzimmer, und ich stand ebenfalls auf. Wir schlüpften in Jacken und Mäntel, und auf dem Weg zur Haustür warf er mir einen letzten Blick zu. »Du wirst doch mit Chase reden?«, fragte er, einen triumphierenden Ausdruck in den Augen.

Ich warf einen Blick auf Camille und seufzte leise. Trotz meiner Drohung, ihm Menolly auf den Hals zu hetzen, hatte er mich in der Hand, und das wusste er auch. »Ja, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«

Wir traten in den atemberaubend kalten Morgen hinaus und gingen zu unseren Autos, und ich konnte mir die Schadenfreude nicht verkneifen, als Trillian auf einem Fleckchen eisbedeckter Blätter ausrutschte und Camille vor die Füße fiel. Mit höhnischem Kichern trat ich über ihn hinweg und ging zu meinem Jeep.

 

Der pfeifende Wind ließ die Temperatur auf unter null absinken, bis ich mein Büro erreichte. Ich ließ die Handtasche auf den Schreibtisch fallen, klappte mein Rolodex auf und drehte mich dann mit dem Stuhl herum, um aus dem Fenster in den bedeckten Himmel zu schauen. Silberhimmel...  Schneewetter, sagte Camille. Sie konnte den Schnee im Wind riechen, und wenn sie sich mit etwas bestens auskannte, dann waren es die Gerüche von Blitzen, Schnee und Regen.

Ich fand den Namen, den ich suchte, und griff zum Telefon. Ich kannte ein Werwesen mit besten Verbindungen, das in der Stadt wohnte. Sie ging als Mensch durch und hatte sich noch nicht geoutet, aber sie wusste unglaublich viel über die Wergemeinde von Seattle. Wenn mir irgendjemand mehr über die Pumas vom Rainier-Rudel sagen konnte, dann war das Siobhan.

Ich tippte ihre Nummer. Siobhan Morgan war ein Selkie – eine Werrobbe –, und sie wohnte in der Nähe der Ballard Locks, der großen Schleusenanlagen. Ihre Wohnung lag an der 39th Avenue West, direkt am Ufer in der Nähe der Stelle, wo die Shilshole Bay auf die Salmon Bay traf; so konnte sie jederzeit ins Wasser, wenn sie wollte.

Siobhan hatte eine hauchige Stimme und hörte sich immer an, als hätte sie gerade trainiert oder einen Marathon hinter sich gebracht. »Wer ist da?«, fragte sie.

»Miau.«

Sie lachte. »Delilah, wie schön, von dir zu hören. Was gibt’s?«

»Ich wollte dich fragen, ob ich bei dir vorbeischauen könnte. Ich habe ein paar Fragen über einen Wer-Clan draußen am Mount Rainier, und ich hatte gehofft, du weißt vielleicht etwas darüber.« Eine Fliege landete auf meiner Nase, und ich schlug nach ihr. Sogar mitten in einer Kälteperiode im Dezember tummelten sich in diesem Gebäude Fliegen, Ratten und alle möglichen anderen netten Tierchen.

»Um wen geht es denn?«

»Das Rainier-Puma-Rudel«, sagte ich.

Nach einer kurzen Pause entgegnete sie: »Ja, komm vorbei, so in anderthalb Stunden, wenn dir das passt. Ich weiß einiges über das Rainier-Rudel. Eine sehr eng verwobene Gemeinschaft. Sie scheinen ganz in Ordnung zu sein, aber es gab in letzter Zeit einige Gerüchte in der Wergemeinde. Ziemlich vage, aber es ist sicher besser, du informierst dich über sie, bevor du dich mit ihnen einlässt.«

Ich vergewisserte mich, dass ich die richtige Adresse hatte, schnappte mir Jacke und Handtasche und machte mich auf den Weg. Ich würde schnell auf dem Pike Place Market vorbeischauen und Iris’ Sachen abholen, ehe ich zu Siobhan fuhr. Als ich in meinen Jeep stieg, fragte ich mich, ob die Gerüchte, die sie erwähnt hatte, etwas mit den toten Werpumas zu tun haben mochten – und wenn ja, was da draußen eigentlich lief.

 

Auf dem Pike Place Market herrschte weihnachtliches Gedränge. Der halb offene Markt war der ganze Stolz Seattles, mit über zweihundert kleinen Läden, unzähligen Verkäufern, die tageweise Stände mieteten, Straßenmusikern, Zauberern und einer Menge anderen Straßenkünstlern. Camille und mich erinnerte der Markt immer an zu Hause. Menolly bekam ihn leider nie zu sehen – für gewöhnlich schloss der Markt zu der Zeit, da sie endlich das Haus verlassen konnte –, aber Camille und ich kamen sehr gern zum Shoppen hierher. Ich musste nur aufpassen, dass ich den Fischhändlern aus dem Weg ging, die gern Kostproben in die Menge warfen. Das war der Versuchung zu viel.

Ich schlängelte mich zwischen den Gemüseständen hindurch und sog tief den Duft der frischgebundenen Weihnachtskränze und verschiedener frischer Kräuter ein, die jetzt hauptsächlich verkauft wurden, weil zu dieser Jahreszeit kaum Gemüse Saison hatte. Als ich um eine Ecke bog, kamen mir auf dem Bretterboden des Zwischengeschosses drei junge Mädchen entgegengerannt, und die Jüngste, die kaum älter sein konnte als sieben, prallte gegen mich. Die Mädchen blieben schlitternd stehen. Diejenige, die mich angerempelt hatte, blickte auf, riss die Augen auf und wich hastig zurück.

»Sie sind eine von den Feen!«, flüsterte sie so leise, dass ich sie kaum hören konnte.

Ich zwinkerte ihr zu. »Ja, das bin ich. Ich heiße Delilah.« Ich hielt ihr aber nicht die Hand hin; wenn man in der Erdwelt freundlich zu Kindern war, wurde das nur allzu leicht missverstanden. Mir war zwar klar, warum, trotzdem fand ich das furchtbar traurig.

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, und ihre kleinen Freundinnen wirkten ebenso beeindruckt. Schließlich sagte eine von ihnen, mit kurzem rotem Haar und mehr Sommersprossen als heller Haut im Gesicht: »Hallo. Ich heiße Tanya. Sind Sie eine Feenprinzessin? Ich wollte schon immer mal einer Feenprinzessin begegnen!« Sie schnupperte an einer roten Nelke, die sie in der Hand trug.

Ich enttäuschte sie nur ungern, schüttelte aber dennoch den Kopf. »Es tut mir leid, Tanya, aber ich bin keine Prinzessin. Ich bin eine ganz normale Fee. Die meisten von uns sind nicht sehr besonders.«

»Sie sind eine böse Frau«, sagte die Kleine, die in mich hineingerannt war. »Meine Mama sagt, dass ihr Feen alle Nutten seid und dass ihr daran schuld seid, dass Papa uns verlassen hat.«

O ihr guten Götter. Was zum Teufel sollte ich denn darauf erwidern? Wusste die Kleine überhaupt, was das Wort Nutte bedeutete? Ich hoffte um ihretwillen, dass sie keine Ahnung hatte, seufzte tief und sagte: »Manche Feen machen Probleme, und andere nicht. Genau wie bei den Menschen...  « Ich verstummte, unsicher, wie ich ihr erklären sollte, was ich meinte – oder ob ich mir überhaupt die Mühe machen sollte, es zu versuchen.

Tanya, der Rotschopf, grinste mich strahlend an und wandte sich ihrer Freundin zu. »Janie, das ist wie mit den blöden Jungen in der Schule. Nur, weil Billy mich an den Haaren gezogen hat, sind doch nicht alle Jungen blöd.«

»So ist es«, sagte ich und verstummte erneut, als eine große, dünne Frau zu uns trat. Janie, das Mädchen, das meinte, ich hätte ihre Familie zerstört, drückte sich an sie. Mutter und Tochter, das war offensichtlich. Und die Mutter sah aus, als hätte sie mich am liebsten auf der Stelle ersäuft.

»Bleib weg von meiner Tochter, du Miststück«, zischte die Frau, gerade so laut, dass ich sie hören konnte. Ich warf einen Blick auf Janie und fand es sehr schade, dass sie mit dieser Wut aufwachsen würde. Wie hätte sie auch etwas anderes lernen können mit so einem Vorbild?

»Ich wollte mich nicht –«, begann ich, schloss aber gleich wieder den Mund. Es würde ja doch nichts nützen. Aber als ich mich abwandte, um zu gehen, zupfte Tanya an meiner Jacke. Ich schaute auf sie hinunter, und sie reichte mir die Nelke.

»Ich glaube immer noch, dass Sie eine Feenprinzessin sind«, flüsterte sie.

Ich zwinkerte ihr zu. »Vielleicht bin ich das, aber ich habe mich verkleidet und bin heimlich hier, also verrate mich bitte nicht, okay?« Sie kicherte und lief strahlend davon. Ich sah ihr nach. Schön, ich erzählte ab und zu eine harmlose Lüge. Was konnte das schon schaden, wenn ich damit jemandem einen Traum erfüllte?

Die Fairy Tale Boutique, ein Klamottenladen, war der Traum aller Renaissance-Fans, und die Inhaberin, Jill Tucker, war eine begnadete Schneiderin. Sowohl die maßgeschneiderten Sachen als auch die Kleidung von der Stange verkauften sich sehr gut, und Iris hatte sich von ihr in den vergangenen Monaten ein paar Sachen anfertigen lassen. Ich lehnte mich an die Theke und betrachtete lächelnd die Zinndrachen, die über das Regal neben der Kasse marschierten. Camille sollte einen für Smoky kaufen, dachte ich, doch ich verwarf die Idee gleich wieder. Jemandem, der so alt war wie er, würde das sicher albern vorkommen. Außerdem hatte er vermutlich Statuen aus purem Gold irgendwo in seiner Schatzhöhle herumliegen.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Jill drehte sich zu mir um, und ihr Lächeln war ansteckend. Sie hielt ein Maßband und ein Stück Stoff in der Hand, das aussah, als hätte die Weberin das leuchtende Polarlicht eingefangen.

»Ich möchte etwas für Iris abholen? Iris Kuusi.« Iris gebrauchte den finnischen Nachnamen der Familie, an die sie gebunden gewesen war, bis alle ausgestorben waren. Sie erzählte uns oft Geschichten aus ihrer Zeit bei den Kuusis, meistens dann, wenn wir mit einer großen Schüssel Popcorn vor dem Kamin herumlümmelten.

Jill warf das Band und den Stoff auf den Ladentisch. »Ach ja, sie hat erwähnt, dass heute jemand kommen würde, um das Kleid abzuholen. Wir kennen uns doch, oder nicht?« Sie streckte die Hand aus, und ich griff zu und schüttelte sie kurz.

»Ja, ich war einmal mit Iris hier, als sie mehrere maßgeschneiderte Schürzen bestellt hat. Ich bin Delilah D’Artigo.«

»Ach ja, richtig! Ihr Kleid ist fertig. Moment, ich bin sofort wieder da.« Sie schlüpfte in ein Hinterzimmer, das etwa so groß zu sein schien wie eine Besenkammer, und kam mit einer weißen Schachtel zurück, mit einem breiten, roten Band umwickelt. Ein kleines Einhorn aus Zinn baumelte an der Schleife. »Hier ist es. Richten Sie ihr bitte aus, dass sie sich jederzeit an mich wenden kann, falls irgendwelche Änderungen nötig sein sollten. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie und griff wieder nach ihrem Maßband.

Ich bemerkte ihre geschäftige Ausstrahlung und nahm die Schachtel. In letzter Zeit schienen die meisten Leute, die mir begegneten, von den bevorstehenden Feiertagen gestresst zu sein. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte ich, und es kam von Herzen.

»Ihnen auch«, rief sie mir nach, als ich den Laden verließ und dem Ausgang zustrebte.

 

Die Fahrt zu Siobhan führte mich direkt am Discovery Park vorbei – über zwei Quadratkilometer geschützter Wiesen, Gebüsch und Wald auf dem Magnolia Bluff. Zu dem Naturschutzgebiet gehörten auch drei Kilometer Küstenlinie.

Camille und ich kamen oft hierher, um spazieren zu gehen und nachzudenken. Die Schreie der Möwen hallten über den Strand, und irgendwie fiel uns das Atmen leichter, wenn wir von hier aus über die Bucht auf die Olympic Mountains blickten. Ich blieb lieber oben im Wald, während Camille gern direkt an der Küste spazieren ging. Für uns war der Park ein einziger großer Spielplatz.

Ich suchte mir meinen Weg durch die gewundenen Straßen um den Park herum und hielt schließlich vor einem zweistöckigen Gebäude. Das große, alte Haus war in vier Wohnungen aufgeteilt worden. Weit weg von den Türmen aus Glas und Chrom, die überall in der Innenstadt gebaut wurden, hatte Siobhans Haus sich den Charme einer längst vergangenen Ära erhalten. Es machte einen heimeligen Eindruck, beinahe wie eine gemütliche Pension.

Ich sprang aus dem Jeep und ging zur Treppe an der rechten Seite des Gebäudes. Auf jedem Stockwerk befanden sich zwei Wohnungen, und Treppen zu beiden Seiten führten in die beiden oberen Apartments.

Das Haus brauchte dringend einen neuen Anstrich, so viel stand fest. Von Wind und Regen verwittert, blätterte überall die Farbe ab, doch insgesamt wirkte das Gebäude eher müde als verkommen. Große Büsche standen direkt am Haus, und Efeu kletterte die Wände hoch. Der Garten hintenraus war nur eine große Rasenfläche, mit Blick auf die Bucht.

Ich rannte die Treppe hinauf und klopfte an der verwitterten weißen Tür mit der goldenen Aufschrift B-2. Einen Augenblick später ging die Tür auf. Siobhan stand vor mir, groß und dünn, mit langem schwarzem Haar und blasser Haut, die so typisch für einen bestimmten Schlag von Iren war. In ihrem hellgrauen Leinenrock mit passendem Rollkragenpulli erinnerte sie mich an einen Strahl Mondlicht, der in einer kühlen Herbstnacht durchs Fenster hereinfällt.

»Hallo, komm rein«, sagte sie und schloss die Tür hinter mir. Siobhan bewegte sich wie ein Schatten; in einer Sekunde war sie noch da, in der nächsten stand sie am anderen Ende des Raumes.

Ihre Wohnung spiegelte ganz ihre Natur. Gemälde mit Meeresszenen und wilden, schäumenden Wellen schmückten die Wände. Sofa und Sessel waren mit leicht silbrigem Veloursleder bezogen, das Holz der Möbel grau wie Treibholz. Sogar die Blumen spiegelten die Farben des Ozeans – viel Weiß und blasses Violett mit einem rosafarbenen Tupfer hier und da zwischen den hellen Rosen und Orchideen.

»Möchtest du einen Happen essen?«, fragte sie und hielt mir ein Tablett mit Räucherlachs auf Crackern hin. Mein Magen knurrte, und ich nahm mir begierig eines der Häppchen, biss hinein und wischte mir den Mund mit einer Papierserviette ab. Als wir im Wohnzimmer Platz nahmen, von dem aus man die Bucht sehen konnte, fragte ich mich, wie lange sie wohl schon in dieser Stadt lebte. Erdgebundene Feen waren ebenso langlebig wie die der Anderwelt. Siobhan hätte hundert Jahre alt sein können oder auch fünfhundert.

»Wann bist du eigentlich nach Seattle gekommen?«, fragte ich und sah zu, wie der Wind auffrischte und die Wellen aufpeitschte, die weiße Schaumkronen bekamen.

Sie lächelte schief. »Ich bin vor langer Zeit über Ellis Island eingewandert. Damals war ich kaum mehr als ein junges Mädchen, aber mir wurde befohlen, meine Heimat zu verlassen und hier ganz neu anzufangen.«

Ich sah sie fragend an. »Warum denn?«

»Unsere Blutlinie war, und ist, vom Aussterben bedroht. Inzucht hat bereits Probleme verursacht, deshalb haben die Ältesten meiner Kolonie fünfzig von uns, alles jüngere Mitglieder, dazu ausgewählt, in die Neue Welt auszuwandern. Sie wollten, dass wir uns hier ein neues Leben schaffen, unsere Blutlinien über den Ozean bringen und sie mit dem Blut der Selkies des nordamerikanischen Pazifik auffrischen. Hier gibt es die größten Kolonien der Welt, wusstest du das?«

Ich nickte. Ich wusste, dass fast alle Werarten in der Erdwelt Probleme mit dem schrumpfenden Genpool hatten. Während die menschliche Bevölkerung zunahm, schrumpften ihre Populationen zusammen. Wenn man dann noch bedachte, wie schwierig es geworden war, geeignete Territorien zu finden, wunderte es mich nicht, dass einige bereits auszusterben drohten.

»Es ist schwer, ein Erdwelt-Werwesen zu sein, nicht wahr?«, fragte ich.

Sie nickte. »Wir haben nicht so viele Möglichkeiten. Im Gegensatz zu anderen Feen müssen wir Selkies uns mit Partnern unserer eigenen Art paaren, um Nachwuchs zu bekommen. Es ist nicht wie im Film, wo man von einem Werwolf gebissen wird und dann alle seine Eigenschaften annimmt.«

Ich nickte. In der Erdwelt waren gebissene Werwesen steril und kamen viel seltener vor, als die Legenden andeuteten. In der Anderwelt war es genauso. Ich selbst würde niemals ein Werkind bekommen, wegen meines gemischten Blutes – allerdings würde mein Kind auf jeden Fall Feenblut haben. Meine Wer-Eigenschaft war das seltsame Ergebnis meines genetischen Durcheinanders und galt beim Volk meines Vaters als Geburtsfehler.

»Unsere Ältesten haben uns also über das Meer geschickt«, fuhr sie fort. »Und ich bin bis hierher an die Küste gezogen. Aber sie hätten statt meiner lieber eine andere schicken sollen. Ich kann nicht schwanger werden, und für meinesgleichen gibt es hier keine Heiler. Jedenfalls nicht das Kaliber, das ich bräuchte.« Sie seufzte und zog die Augenbrauen hoch. »Ich hatte sehr gehofft, dass ich Junge bekommen würde, und mein Freund war bisher sehr geduldig, aber anscheinend hat das Schicksal uns keine Familie zugedacht.«

Ihre Stimme klang ein wenig erstickt, und ich hätte sie am liebsten umarmt und gedrückt. Da kam mir ein Gedanke. »Soll ich mal mit einem AND-Mediziner reden und fragen, ob sie dich untersuchen würden? Vielleicht könnten die feststellen, woran es liegt. Deine Tarnung würde nicht auffliegen, aber womöglich könnten wir so herausfinden, warum du nicht schwanger wirst.«

Siobhans Augen leuchteten auf, und zum ersten Mal, seit ich sie kannte, wurde aus dem schwachen Abglanz eines Lächelns ein breites Strahlen. »Ach, Delilah, das würde mir sehr viel bedeuten. Ich liebe Mitch, und ich will gar nicht daran denken, dass er sich eine andere Frau suchen könnte. Unsere Zahl ist so geschrumpft, dass alle fruchtbaren Selkies – männlich oder weiblich – ihren Teil dazu beitragen müssen, den Genpool wieder zu vergrößern. Man wird auch von Mitch erwarten, dass er eine andere Selkie schwängert, wenn ich weiterhin kein Kind bekomme, und dann müsste er sie unter seinen Schutz nehmen. Vielleicht schlägt mein enger Umgang mit Menschen auf meinen Charakter durch – ich will ihn mit keiner anderen teilen müssen.«

»Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde tun, was ich kann«, sagte ich.

Sie lehnte sich strahlend zurück. »Also, was wolltest du über das Rainier-Rudel wissen?«

Ich verputzte einen weiteren Lachscracker, beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Den Blick auf den Boden gerichtet, sagte ich: »Zachary Lyonnesse hat mich in meinem Büro aufgesucht. Ich kann dir nicht sagen, warum – das ist vertraulich –, aber ich möchte gern mehr über den Clan erfahren. Was für einen Ruf haben sie? Wie sind sie so? Haben sie Feinde?«

Siobhan runzelte konzentriert die Stirn. »Die Rainier-Pumas sind ein sehr alter Clan. Sie bleiben meist für sich und sind in der Wergemeinde hoch angesehen. Mir fällt niemand ein, der sie nicht mag, außer...  Es gibt zwei Möglichkeiten. Da ist ein kleineres Puma-Rudel im Osten von Washington. Die haben etwas gegen die Rainier-Pumas, sind aber nicht stark genug, um sie offen herauszufordern. Das ist eine Frage von Kraft und Schlauheit.«

»Weißt du, wie der Clan heißt?«

Sie kniff die Augen zusammen und starrte aus dem Fenster. Dann sagte sie: »Ich glaube, sie nennen sich Icicle-Falls-Rudel, aber ganz sicher bin ich nicht. Dann gibt es noch eine Möglichkeit – eine Gruppe, die die Rainier-Pumas als ihre Feinde betrachtet, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, was es da zu streiten geben sollte.«

»Und wer ist das?«, fragte ich und holte mein Notizbuch hervor.

Sie beugte sich vor und flüsterte: »Gerüchteweise habe ich gehört, es habe einige Scharmützel zwischen dem Rainier-Rudel und dem Jägermond-Clan gegeben. Soweit ich weiß, hat diese Feindschaft im Lauf der letzten Jahre einige Todesopfer gefordert. Es könnte sein, dass da so eine Art Blutfehde läuft.«

»Der Jägermond-Clan? Sagt mir gar nichts. Ich nehme an, das sind Werwesen?«

Sie erschauerte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie bezeichnen sich so, aber sie sind keine natürlichen Werwesen. Es gibt Gerüchte, denen zufolge ihre Macht von einem bösen Schamanen stammt, der sie vor über tausend Jahren erschaffen haben soll. Sie sind böse und tückisch und weigern sich, die Regeln der ÜW-Gemeinde zu achten, aber sie sind so gefährlich, dass niemand die Vereinbarungen, denen die Stämme zugestimmt haben, bei ihnen durchsetzen will.«

Der Raum schien dunkler zu werden, während sie sprach, und ein Kribbeln im Nacken warnte mich, dass wir uns auf dünnes Eis begaben. Wir waren so damit beschäftigt gewesen, uns an das Leben erdseits anzupassen und dann gegen Bad Ass Luke und seine Kumpel zu kämpfen, dass ich den inneren Drang ignoriert hatte, Informationen über die hiesigen ÜWGruppierungen zu sammeln und eine Datenbank anzulegen. Chase hatte mir sogar schon seine Unterstützung und freien Zugang zu seinen Akten zugesagt.

»Also eine knifflige Situation. Was weißt du über sie?«

Siobhan bedeutete mir, einen Moment zu warten, ging dann zur Tür und spähte hinaus. Gleich darauf zog sie den Kopf zurück, schloss sorgfältig ab, lehnte sich gegen die Tür und holte tief Luft. Sie ließ den Blick über die Wände und die Decke schweifen und kehrte dann zum Sofa zurück.

»Wie du sicher gemerkt hast, spreche ich nicht gern über sie. Ich bemühe mich – wie alle Mitglieder meiner Robben-Kolonie im Puget Sound Harbor – sie so gut wie möglich zu meiden. Sie können tödlich sein, und das gleich mehrfach.« Sie beugte sich vor. »Der Jägermond-Clan ist ein Nest von Feldwinkelspinnen.«

»Spinnen? Du meinst – Werspinnen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, sie sind keine natürlichen Werwesen, aber ja, sie sind eine Art Gestaltwandler.«

»Ach du Scheiße.« Es drehte mir den Magen um. Wir hatten Werspinnen zu Hause in der Anderwelt, und einige Nester waren ganz in Ordnung und achteten die Regeln der Gemeinschaft; andere hingegen waren verderbt und grausam und verkrochen sich tief in den Wäldern, wo sie im Verborgenen ganze Städte bauen konnten. Wenn der Jägermond-Clan ein unnatürlicher Zweig von Werwesen war, könnte es noch schwieriger sein, sie einzuschätzen.

Obendrein war diese Art von Winkelspinnen giftig und hatte sich in jüngster Zeit im Pazifischen Nordwesten stark ausgebreitet. In ihrer natürlichen Form führten Feldwinkelspinnen Krieg gegen andere Spinnen, um deren Territorium zu übernehmen und die Konkurrenz auszuschalten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie nach derselben Taktik auch gegen andere Clans vorgehen würden.

»Wo haben sie ihr Nest?«, fragte ich, als mir klar wurde, warum Siobhan sich vorhin Decke und Wände so genau angesehen hatte. Jeder Gestaltwandler oder jedes Werwesen, das sich in etwas so Kleines wie eine Spinne verwandeln konnte, genoss enorme Vorteile, wenn es darum ging, unbemerkt den Feind auszuspähen.

Siobhan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich nehme an, irgendwo in den Wäldern, aber darauf würde ich mich nicht verlassen.«

Ich biss in einen weiteren Lachscracker. »Die sind übrigens köstlich. Also, fällt dir noch jemand ein, der etwas gegen das Rainier-Rudel haben könnte?«

Sie lächelte dünn. »Du kannst dir mal das Loco-Lobo-Rudel ansehen, eine Gruppe Lykanthropen, die aus dem Südwesten raufgewandert sind. Wölfe und Pumas vertragen sich nicht besonders gut. Und, wie geht es euch so? Habt ihr Pläne für die Feiertage?«

Während ich mit ein paar vagen Sätzen beschrieb, wie wir die Feiertage verbringen wollten, löste sich langsam die Spannung im Raum. Siobhan hatte entsetzliche Angst vor dem JägermondClan; das war offensichtlich. Ich unterhielt mich noch eine Weile mit ihr und versprach erneut, sie anzurufen, sobald ich mit den AND-Medizinern gesprochen hatte.

Als ich ging, wehte ein scharfer Wind von der Bucht herein, und der Geruch von Schnee drang üppig und erfrischend in meine Nase. Der Nachmittagshimmel schimmerte silbrig, und ich spürte einen Stich im Herzen, als wäre ein Eiszapfen vom Dach abgebrochen und hätte mich durchbohrt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich auf einmal solche Angst verspürte, aber plötzlich wollte ich nur noch sicher zu Hause sein, Zachary anrufen und ihm sagen, dass ich diesen Fall nicht übernehmen konnte. Aber das kam nicht in Frage – nicht, wenn das DegathKommando in die Sache verwickelt sein könnte.

Als ich in meinen Jeep stieg, ließ mich ein Kribbeln zusammenzucken. Eine Spinne, gerade fingernagelgroß, krabbelte über meinen Handrücken. Ich starrte einen Moment lang auf sie hinab, bevor ich sie mit der anderen Hand erschlug und aus dem Fenster schnippte.

»Das war’s dann wohl für dich«, flüsterte ich. »Wenn du ein Spion warst, hast du soeben herausgefunden, wie die D’ArtigoMädels mit ihren Feinden verfahren.« Ich wischte mir die Hand an der Jeans ab, ließ den Motor an und rollte aus der Auffahrt auf die Straße. Sobald ich zu Hause war, würde ich Iris bitten, meinen Jeep auszuräuchern.