Kapitel 12

 

Als er durch den flammenden Schleier trat, erschien erst ein, dann ein zweiter Stiefel mit Schichtabsatz. Die prachtvollen Stiefel glänzten schwarz und makellos. Bei jedem Schritt rieselte Rauhreif von den Absätzen.

Der Saum eines Umhangs wurde sichtbar, wirbelnde herbstliche Blätter blähten sich wie an einem federbesetzten Cape. Als der Herbstkönig von seinem Reich in unsere Welt herübertrat, war ich starr vor Angst und Faszination zugleich. Er trat von dem Grabhügel herab, und die Stille um uns war greifbar; ich konnte jeden auf dieser Lichtung atmen hören.

Der Herbstkönig. Es konnte keinen Zweifel geben. Dies war der Herr der Flammen, der Herr der Herbststürme, die an den Fenstern rüttelten, der Herr der Kürbisse, des scharfen Geruchs von Erde und verrottendem Laub. Die schweigende Gestalt trieb den Duft ferner Feuer im Nordwind vor sich her.

Er trat auf uns zu; sein Haar war so schwarz wie seine Stiefel, das Gesicht blass, die Haut beinahe durchscheinend. Zwei Flammen aus übernatürlichem Feuer durchbohrten meine sämtlichen Barrieren, als er mich anstarrte, und plötzlich war ich nackt und verletzlich. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so durchschaut und ausgeliefert gefühlt.

»Zurück mit dir, Drachenbrut.« Er drängte sich an Smoky vorbei und streckte die Hände nach mir aus – zehn diamantene Dolche aus gekrümmtem Eis waren auf mich gerichtet. »Du bist es, die mich zu sehen wünscht. Komm zu mir, Mädchen, und sag mir, was du willst.«

Smoky warf einen einzigen Blick auf den Herbstkönig und wich zurück. Ich schluckte gegen mein aufstrebendes Mittagessen an. Wenn ein Drache so prompt gehorchte, musste derjenige, der die Befehle erteilte, gewaltige Macht besitzen. Ich zwang mich vorzutreten.

Camille trat hinter mich. »Ich bin bei dir«, flüsterte sie mit zitternder Stimme.

Ich dachte an ihren Ausflug zu Großmutter Kojote und fragte mich, wie sie den allein durchgestanden hatte. Bei den Göttern, ich würde dem Herbstkönig nicht ganz allein gegenüberstehen wollen. Nein, auf keinen Fall. Dazu war ich nicht mal ansatzweise mutig genug.

Ich starrte auf seine Hände und überlegte, ob ich sie ergreifen sollte. Eine leise Stimme in meinem Inneren drängte mich dazu. Ich vertraute auf meinen Instinkt und gab ihm meine Hände.

Feuer und Eis. Der Schock hätte mich beinahe umgehauen. Eine Hand fühlte sich an, als brenne sie, die andere, als sei sie durchgefroren. Als die beiden gegensätzlichen Kräfte meine Arme emporstiegen und sich zwischen meinen Schultern vereinigten, stießen sie mich förmlich auf ihn zu. Ich taumelte in seine Arme, und er schloss seinen Umhang aus Blättern um meine Schultern und zog mich an sich.

Aus der Dunkelheit unter dem Umhang konnte ich Camille und Smoky schreien hören, und dann erschütterte ein Lärm wie Donner die Lichtung, und alles war still. Ich wehrte mich, doch der Herbstkönig hielt mich gepackt und drückte mich so fest an sich, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich versuchte, mich zu verwandeln, doch es ging nicht. Seine Magie war zu stark. Also konzentrierte ich mich darauf, weiterzuatmen.

Einatmen...

. . . die feuchten Gerüche von Moder und Schimmel, von Feuern um Mitternacht wirbelten um mich herum. Sie trieben auf einer Brise heran, dem Nordwind, wie flüsternde Zungen aus Eis und Frost, wie die kalte Liebkosung des Herbstes.

Ausatmen...

. . . Langsam ließ ich die Luft aus meiner Lunge entweichen und ein wenig von der Kälte mitnehmen. Und noch einmal –

Einatmen...

. . . der Geschmack von Friedhofserde und Totenmanns Hand auf meiner Zunge, und dann beugte er sich vor und küsste mich auf die Stirn, brandmarkte mich mit einer Flamme, die sich bis auf den Kern in mich hineinbrannte.

Ausatmen...

. . . und als ich zum zweiten Mal den Atem ausstieß, ließ er mich los, ich taumelte rückwärts, stolperte über eine Wurzel und knallte auf den Hintern. Hastig rutschte ich von ihm fort, halb kriechend, halb krabbelnd. Camille schnappte nach Luft und fiel neben mir auf die Knie. Ich blickte auf und sah, wie die anderen sich schüttelten, als wären sie eben erst aufgewacht. Smoky bedeutete Zach und Morio, vorsichtig zu sein und sich nicht vom Fleck zu rühren.

Ich starrte zum Herbstkönig auf, der schweigend und wartend dastand. Als Camille mir auf die Füße half, merkte ich, dass sich meine Stirn seltsam anfühlte, als hätte sich dort etwas in die Haut gebohrt. Ich wandte mich ihr zu, um sie zu fragen, ob sie da etwas sehen könne, doch noch ehe ich den Mund aufmachen konnte, fuhr sie zusammen und starrte in mein Gesicht.

»Oh, Kätzchen«, sagte sie leise. »Deine Stirn!«

»Was ist damit? Ich spüre, dass irgendetwas mit mir passiert ist, aber ich weiß nicht, was.« Ihr Gesichtsausdruck machte mir Angst. Hatte er mich in ein Froschweib verwandelt? Oder in das Ungeheuer aus der Schwarzen Lagune – das übrigens zufällig den Lemurianern sehr ähnlich sah, einer Spezies von WasserKryptos aus der Anderwelt.

Camille streckte die Hand aus und berührte sacht meine Stirn. »Delilah, du hast ein Brandmal in Form einer schwarzen Sense auf der Stirn.«

»Was? Was zum Teufel...  ?« Ich rappelte mich hoch und fuhr zum Herbstkönig herum, der immer noch schweigend dastand. »Was ist das? Was habt Ihr mit mir gemacht?« Meine Wut war stärker als meine Angst, und ich stürmte auf ihn zu.

Der Herbstkönig blickte auf mich herab – er war gut eins neunzig groß – und lächelte gerissen, wobei sich seine Mundwinkel nur millimeterweit hoben. »Du kommst zu mir auf der Suche nach Informationen. Es hat immer seinen Preis, wenn man die Erbauer der Welten aufsucht. Jeder, der mich um Hilfe bittet, bezahlt mir etwas.«

Ich zögerte und wollte einwenden, das sei nicht fair, weil er mir gar keine Wahl gelassen hatte, aber ein Blick in seine Augen sagte mir, dass das nichts nützen würde. Was getan war, war getan. Es gab kein Zurück, kein Anders-Überlegen, kein Weglaufen.

»Was habt Ihr mit mir gemacht?«, fragte ich erneut.

Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es erfahren. Und nun stell deine Fragen, ehe mir langweilig wird und ich wieder gehe.« Er deutete auf einen umgestürzten Baumstamm, auf den er sich offenbar setzen wollte.

Ich zögerte, dann ging ich voran, wobei ich mich immer noch fragte, was mit mir passiert war. Würde denn keiner von uns unversehrt hier herauskommen? Ich setzte mich auf den moosbewachsenen Baumstamm.

Der Herbstkönig nahm neben mir Platz, und ich rückte so weit von ihm ab, wie ich konnte, ohne unhöflich zu werden. Er betrachtete mich. »Es ist lange her, seit zuletzt jemand dumm genug war – oder mutig genug –, mich aufzusuchen«, bemerkte er nachdenklich. »Was möchtest du wissen?«

Ich holte tief Luft. Nicht allzu tief, denn ich konnte immer noch den Rauch, die Friedhofserde und die nächtlichen Feuer um ihn herum riechen, aber tief genug, um mich zu beruhigen.

»Wir müssen etwas über eine Gruppe von Spinnlingen erfahren. Werspinnen – der Jägermond-Clan. Ihr seid Herr über alle Spinnen, deshalb dachten wir, Ihr wärt vielleicht bereit, uns zu helfen. Sie scheinen sich mit Dämonen aus den Unterirdischen Reichen verbündet zu haben, und wir fürchten, sie könnten Schattenschwinge dienen.«

Zachary überraschte mich. Er überwand seine Furcht lange genug, um sich zu Wort zu melden. »Wisst Ihr, dass sie mein Volk ermorden? Ich komme vom Rainier-Rudel, und die Spinnen schlachten uns ab.«

Der Herbstkönig blinzelte und zeigte zum ersten Mal Anzeichen von Überraschung. Er schürzte die Lippen, und eine Rauhreif-Wolke zischte aus seinem Mund und formte eine kleine Tafel aus Eis und Schnee in seiner Hand. Ich verrenkte mir fast den Hals, um einen Blick darauf zu werfen, doch alles, was ich erkennen konnte, waren ein paar seltsame Zeichen.

Einen Augenblick später zerschmolz die Tafel. »Ihr alle seid in Gefahr. Kyoka ist wieder zum Leben erwacht; er hat sich einen neuen Körper gestohlen.«

»Kyoka?«, fragte ich.

Der Herbstkönig räusperte sich. »Vor tausend Jahren war Kyoka ein Schamane, hier auf dem nordamerikanischen Kontinent. Er herrschte über seinen Stamm grausam und unbarmherzig, und letzten Endes führte seine Gier seinen Untergang herbei. Er verlor das Gleichgewicht und die natürliche Ordnung aller Dinge aus den Augen und benutzte seine Magie, um sein eigenes Volk in widernatürliche, abscheuliche Wesen zu verwandeln. Ich entließ ihn aus meinen Diensten und erklärte ihn zum Ausgestoßenen. Er hat die Natur der Spinnen geschändet.«

Er wandte sich Zach zu. »Einarr, einer deiner Vorfahren, reiste übers Meer in die Neue Welt und geriet mit Kyoka in Streit.«

»Mein Vorfahr?« Zachary blickte verwundert drein, richtete sich aber auf und hörte aufmerksam zu. Familiäre Wurzeln bedeuteten ihm sehr viel, das sah man ihm an.

»Du bist ein direkter Nachkomme von Einarr Eisenhand. Als er die Küste Nordamerikas erreichte, verlor Einarr seine erste Frau und mehrere Gefährten an die Werspinnen. Also schwor er, Kyoka aufzuspüren und zu töten. Und viele Jahre später gelang es ihm, seine Verwandten zu rächen.«

»Warum habt Ihr diesen Kyoka nicht getötet, obwohl Ihr wusstet, dass er böse ist?«, fragte Zach.

Der Herbstkönig würdigte ihn kaum eines Blicks. »Warum sollte ich? Kyoka hat das Gleichgewicht gestört, aber das tun viele Geschöpfe, viele Ereignisse. Wenn ich jedes Mal eingreifen wollte, weil das Muster zerrissen und neu gewebt wird, hätte ich keinen Augenblick Ruhe mehr.«

Morio berührte Zachs Schulter, schüttelte den Kopf und bedeutete ihm damit, nicht zu widersprechen. Zach sah nicht glücklich aus, hielt aber den Mund.

»Zurück zu unserer Geschichte«, sagte der Herbstkönig. »Um meine Hochachtung vor seiner Tapferkeit zu beweisen, machte ich Einarr ein Geschenk. Ich verlieh ihm die Gabe, sich in einen Berglöwen zu verwandeln, und all seine Nachkommen, die sein Blut in sich tragen, werden mit dieser Fähigkeit geboren und wandeln in meinem Schatten, ob sie es wissen oder nicht. Puma, Panther, Berglöwe – sie alle sind meine Kinder.«

Und da wusste ich es – ich wusste, welches Geheimnis der Herbstkönig uns nicht enthüllt hatte. »Und habt Ihr Einarr noch etwas gegeben? Ein Schmuckstück vielleicht?«

Er sah mir in die Augen, und wieder fühlte ich mich wider Willen zu ihm hingezogen. Ich wollte unter seinen Umhang kriechen, mich einkuscheln und tausend Jahre schlafen.

»Du siehst zu viel«, sagte er. »Ja, ich habe ihm eines der Geistsiegel gegeben, aber wo es jetzt ist, weiß ich nicht. Über tausend Jahre sind seither vergangen. Ich bezweifle, dass der Jägermond-Clan überhaupt weiß, wonach er sucht, aber die Dämonen wissen es. Davon kannst du ausgehen.«

Ich fühlte mich, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen. Das Degath-Kommando war also nicht unterwegs, um ein bisschen zu morden und zu plündern. Sie suchten nach dem zweiten Geistsiegel, und sie hatten einen hübschen Vorsprung. Ich wandte mich Camille zu. »Offenbar glauben sie, dass das Rainier-Rudel das Siegel noch hat, von Generation zu Generation unter Einarrs Nachkommen vererbt.«

»Wo du recht hast, hast du recht, aber ich wünschte, es wäre nicht so.« Sie sah den Herbstkönig an. »Und Kyokas Rückkehr war der Auslöser dafür, dass der Jägermond-Clan jetzt für die Dämonen arbeitet?«

Er nickte und blies eine weitere Eistafel in seine Hände, die er langsam las. Als er sprach, rollte seine Stimme wie zorniger Donner über die Lichtung. »Offenbar ist er nicht als einer von ihnen zurückgekehrt. Die Dämonen sind hinterlistig. Als Einarr Kyoka zerstörte, wurde seine Seele in die Tiefen gebannt, hinab in die Unterirdischen Reiche. Und dort blieb er, bis Schattenschwinge an die Macht gelangte. Und Schattenschwinge hat Kyoka einen neuen Körper und einen Auftrag gegeben: sein Volk zu einen und die Nachkommen Einarrs zu vernichten. Währenddessen schleichen sich die Dämonen ein und stehlen das Siegel. Kyoka ist in Gestalt eines Mannes zurückgekehrt. Und eines Werwesens, ja, aber er ist keine Werspinne.«

»Wusste ich es doch!« Ich sprang auf. »Die Werspinne, die Cromwell getötet und aufgehängt hat, wurde von einem Werpuma begleitet. Das muss Kyoka gewesen sein!« Ich wirbelte herum und packte Zachs Schultern. »Er versteckt sich direkt vor eurer Nase – mitten in eurer Siedlung, Zach. Er versucht herauszufinden, wo das Siegel ist, während er ein Mitglied des Rudels nach dem anderen umbringt.«

Zachary erbleichte. »Das bedeutet ja, dass einer der Neuankömmlinge tatsächlich ein Verräter ist. Ich muss zurück zum Revier. Was, wenn ich zu spät komme?«

Ich starrte ihn an, und mir wurde klar, dass sich seine Panik noch verzehnfachen würde, wenn er wüsste, was die Geistsiegel eigentlich waren. Im Augenblick hatte Zach noch keine Ahnung, wie schlimm es wirklich stand.

»Noch eine Frage«, sagte ich und wandte mich wieder dem Herbstkönig zu. »Wo finden wir den Jägermond-Clan? Wisst Ihr, wo sie ihr Nest haben?«

Er blinzelte langsam. »Vorbei an einer Stadt östlich eures Wohnorts, wo das Wasser über die Felsen stürzt, findest du einen Hügel am Fuß des Berges, der mit hohen Bäumen bewachsen ist. Suche nach einer goldenen Straße und folge ihr den Hügel hinauf. Dort wirst du ihr Nest finden.« Der Herbstkönig erhob sich, wandte sich wieder dem Flammenschleier zu und blickte noch einmal über die Schulter zurück.

»Es ist nicht zu spät. Noch nicht. Aber ihr müsst euch beeilen. Jetzt geht und vernichtet sie. Sie sind eine Perversion, nicht länger Teil meiner Welt, nicht länger meine Kinder.« Damit verschwand er in dem Pentagramm, und die Barriere schloss sich. Wir blieben zurück, allein mit unserer Panik.

Smoky fand als Erster die Sprache wieder. »Das zweite Geistsiegel?« Er sah Camille an.

Wir hatten uns bemüht, ihm die Sache mit den Geistsiegeln zu verheimlichen, aber als er uns zu einem Besuch bei der Elfenkönigin begleitet hatte, hatte er doch davon erfahren. Unsere Hoffnung, dass er sie einfach vergessen würde, erwies sich als vergeblich, denn Drachen haben ein sehr gutes, detailgetreues Erinnerungsvermögen, vor allem, wenn es um Schätze aller Art geht.

Ich fragte mich, ob er sich gegen uns wenden und versuchen würde, es selbst zu finden. Im Augenblick war er uns eine Hilfe, aber wir durften nie vergessen, dass Drachen in allererster Linie Söldner waren, denen es darum ging, Reichtümer anzuhäufen.

»Habt ihr ihn denn nicht gehört?« Zach sprang auf und zeigte auf den Pfad. »In unserem Revier lebt ein Verräter, und er könnte in diesem Augenblick wieder einen meiner Freunde ermorden! Ich muss sofort nach Hause.«

»Wartet einen Augenblick«, sagte Smoky. »Ich bin gleich wieder da. Versucht ja nicht, ohne mich durch den Wald zu gelangen.« Er verschwand durch eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, in der Seite seines Hügels.

Camille starrte zum Himmel auf und hob die Hand zum Gruß; die Mondmutter spähte zwischen den Wolken hindurch. Seufzend sah sie Zach an, dann mich. »Zach, wir sollten dir wohl erklären, was hier läuft«, sagte sie. »Du hast das Recht zu wissen, womit du es zu tun bekommst, aber du musst uns schwören, dass du niemandem davon erzählen wirst.«

Er blinzelte und warf mir einen Blick zu. Ich nickte. So wütend ich auch sein mochte, ich würde mein Ego eine Weile zügeln müssen. »Sie hat recht. Du darfst niemandem verraten, was wir dir gleich sagen werden.«

»Also schön«, sagte er zögerlich. »Ich verspreche es.«

»Das reicht nicht«, sagte ich. »Wir verlangen einen Bluteid. Wir können kein Risiko eingehen. Du hast ja keine Ahnung, wie viele Leben von deiner Verschwiegenheit abhängen könnten.«

Wieder dieses Blinzeln. »Gut, dann tun wir es.«

Ich zog mein silbernes Messer aus dem Stiefel. »Ich werde dir den Eid abnehmen«, sagte ich. Er sah mich fragend an, und ich fügte hinzu: »Wir sind beide Werwesen, auch wenn es bei mir ein Geburtsfehler ist.«

Er verzog das Gesicht, und ich hielt den Dolch hoch. Die Klinge schimmerte, als ich sie über seine Handfläche zog. Ich war nicht zimperlich, wenn es um Bluteide oder Verletzungen ging – nur wenn jemand versuchte, das Produkt aufzuschlabbern. Ein schmales Rinnsal bildete sich auf seiner Hand, und ich drückte sie kräftig, damit noch mehr Blut floss.

Zachary schnitt eine Grimasse, hielt aber still.

»Beim Blut aus deinen Adern, beim Blut deiner Ahnen, schwörst du, dein Versprechen zu halten, und willst du verflucht sein, wenn du uns belügst?«

»Ihr habt mein Wort«, sagte er langsam.

Bluteide waren verbindliche Vereinbarungen, besser als jeder Vertrag, zumindest unter den Feen und den Erdseitigen Übernatürlichen. Falls Zach sein Wort brechen sollte, wäre es unser gutes Recht, ihn zu jagen und zu töten, ohne Folgen befürchten zu müssen – außer natürlich, die Polizei mischte sich ein.

»Jetzt sagt mir, was hier läuft«, bat er.

»Denk daran, du hast Stillschweigen geschworen.« Ich seufzte tief. Mit Hilfe von Camille und Morio erklärte ich Zach, was in den U-Reichen vor sich ging und welche Bedeutung die Geistsiegel für die Erde und die Anderwelt hatten. Als wir fertig waren, saß er auf dem Boden, vollkommen sprachlos. In diesem Moment erschien Smoky wieder aus seinem Hügel und winkte uns, ihm zu folgen.

Er hatte sich umgezogen und trug nun weiße Jeans, die einen verdammt knackigen Hintern zur Geltung brachten, und einen hellgrauen Rollkragenpulli. Sein fast knöchellanges Haar war säuberlich geflochten. Ich starrte ihn an, und mir wurde plötzlich bewusst, wie umwerfend er tatsächlich aussah. Ehe ich merkte, was ich da tat, warf ich Camille einen neidvollen Blick zu. Holla – aus diesem Zug steigst du sofort wieder aus, dachte ich, ehe er mit dir davondampft.

»Gehen wir. Der Weg ist nach Einbruch der Dunkelheit zu gefährlich für euch«, sagte er. Camille und Morio eilten ihm nach.

Ich packte Zachs Hand, um ihn auf die Füße zu zerren, doch er wirbelte mich zu sich herum. Wortlos zog er mich an sich, und seine Lippen suchten die meinen.

Vor lauter Überraschung ließ ich mich von ihm küssen. Er schmeckte wie ein dunkler Portwein, weich und warm. Zach stieß ein kehliges Knurren aus und presste sich an mich. Die Hand in meinem Rücken packte mich fester, und mit der anderen rieb er über meinen Hintern. Als ich so richtig merkte, was wir da taten, stieß ich ihn von mir.

»Zach, nein...  nicht hier. Nicht jetzt.«

Er riss mich zurück in seine Arme und drückte die Lippen an mein Ohr. »Du willst mich so sehr wie ich dich«, flüsterte er.

»Ich bin kein echtes Werwesen, also hörst du lieber sofort damit auf, ehe dein Clan dahinterkommt.« Ich schlug ihm auf die Finger. »Wir müssen Smoky einholen. Wir müssen hier weg.«

Zachary brummte zustimmend und ließ mich los, wenn auch widerstrebend. Unsicher, was ich sagen sollte, drehte ich mich um und rannte voraus, bis ich Camille und Morio eingeholt hatte. Ich konnte Zachs Schritte hinter mir hören.

»Delilah! Delilah?«, rief er, aber ich ignorierte ihn und eilte durch den Wald. Mein Körper wollte Zachary Lyonnesse. Aber seine Bemerkungen darüber, was das Rainier-Rudel von uns hielt, klangen mir noch in den Ohren – ein grausamer Angriff auf mein Selbstwertgefühl. Ich konnte nicht einfach darüber hinwegsehen. Noch nicht.

Als wir endlich aus dem Wald auf die Lichtung vor dem Haus traten, traf mich die Realität mit aller Macht, und ich schob jegliche Gedanken an Zach beiseite. Wir waren auf dem Heimweg, ja, aber würden wir es noch schaffen, Kyoka und den Jägermond-Clan daran zu hindern, das Geistsiegel zu finden? Wo auch immer das Ding stecken mochte.

Als wir Morios Subaru erreichten, wollte ich nur noch eine heiße Dusche, ein langes Nickerchen und eine Menge zu essen. Smoky entschied sich dafür, mit uns in die Stadt zu fahren.

Völlig entnervt von diesem Nachmittag, fragte ich: »Sollen wir dich beim Puma-Rudel absetzen, ehe wir nach Hause fahren? Läge am Weg.«

Zach seufzte laut. »Scheiße, ich will nach Hause, aber was, wenn wir in eine Falle laufen?«

»Hast du jemandem gesagt, wohin du gehst?« Camille schloss die Augen; ich wusste, dass sie darum betete, er möge den Mund gehalten haben.

Er seufzte wieder, diesmal langgezogen. »Ja, ich habe es Venus Mondkind gesagt. Sonst niemandem.«

»Dann haben wir vielleicht noch eine Chance«, sagte Morio. »Venus ist kein Verräter.«

»Er ist keiner der Neuankömmlinge, nicht wahr?«, fragte ich.

Zachary schüttelte den Kopf. »Nein, dann wäre er niemals unser Schamane, Aber es sind drei Neue zu uns gezogen, alle in den letzten sechs Wochen. Shannon und Dodge vom CascadeClan aus Oregon. Sie stammen ursprünglich aus dem RainierRudel und sind vor ein paar Jahren nach Süden gezogen, also wissen wir, dass die beiden in Ordnung sind. Und dann ist da noch...  Tyler.«

Tyler? Irgendetwas klingelte bei mir, und es hörte sich gar nicht gut an. »Was hat er gesagt, wo er herkommt? Wer hat ihm Referenzen gegeben?«

»Er kam aus dem Süden, aus New Mexico. Er hat behauptet, er käme von den Desert Runners, und er hatte auch ein Empfehlungsschreiben. Aber...  Ich bin nicht sicher, wer seine Referenzen überprüft hat. Ich werde mich umhören und versuchen, das herauszufinden«, sagte er. »Also, wollt ihr im Revier vorbeifahren? Oder mich mit zu euch nach Hause nehmen? Mein Pick-up steht noch bei euch.«

Camille schüttelte den Kopf. »Wir fahren zu uns nach Hause. Tyler soll keinen Verdacht schöpfen, nur für den Fall, dass er unser Mann ist. Außerdem müssen wir gemeinsam überlegen, was wir als Nächstes unternehmen sollen.«

Morio stimmte ihr zu und setzte sich hinters Lenkrad. Smoky öffnete die Fondtür und winkte Camille zu sich, die eben neben Morio einsteigen wollte.

»Steig mit mir hinten ein. Zachary kann vorn sitzen.« Seine Stimme klang herrisch, und sie warf ihm einen finsteren Blick zu, doch er beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie sofort gehorchte. Morio warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu, aber Smoky lächelte nur selbstzufrieden, und es wurde kein Wort mehr darüber verloren.

Er legte einen Arm um Camilles Schulter, und sie ließ es sich gefallen. Ich sah ihr nicht an, ob sie interessiert oder genervt war. Wie ich sie kannte, vermutlich beides. Ich kam zu dem Schluss, dass man mit einem befehlshaberischen Drachen wohl am besten fertig wurde, indem man seine Arroganz ignorierte und sich auf naheliegende Dinge konzentrierte.

»Also gut, dann kann es ja losgehen«, sagte ich. »Ab nach Hause, Morio, und steig ordentlich aufs Gas.«

Morio ließ den Motor an, und wir begannen die zweistündige Fahrt nach Hause. Drei, falls viel Verkehr sein sollte. Niemand sprach. Es war, als sei jeder von uns in seiner eigenen Welt verloren.

Zach stand offenbar unter Schock, und dazu hatte er auch allen Grund. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlen musste, wenn man erfuhr, dass jemand, dem man vertraute, der schlimmste Feind des eigenen Clans war, obendrein von den Toten auferstanden. Camille sah aus, als sei sie ziemlich erschöpft und bräuchte mal eine ordentliche Schultermassage. Und Morio hielt den Blick stur auf die Straße gerichtet, während er uns durch den Berufsverkehr steuerte. Und ich? Meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Brandmal auf meiner Stirn zurück und was es bedeuten mochte.

Ich fühlte mich anders, aber ich konnte nicht genau sagen, wie. Jetzt, da wir sicher im Auto saßen, kramte ich in meiner Handtasche herum, holte meinen Kompaktpuder hervor und klappte den Spiegel auf. Wie gelähmt starrte ich auf das Mal. Eine schwarze Sense, die an eine Mondsichel erinnerte, schimmerte mitten auf meiner Stirn; sie glänzte, als wäre ein LackTattoo in meine Haut eingeschmolzen. Vorsichtig hob ich die Hand und strich mit den Fingern über das Mal.

Ein Schauer kroch mir den Rücken hoch, und mir stockte der Atem, als ich wieder von der Energie des Herbstkönigs wie von seinem Umhang umhüllt wurde. Eine Stimme hallte durch meinen Hinterkopf, und ein leises Lachen mischte sich in die Worte. »Du gehörst jetzt mir. Meine Zeit ist deine Zeit.«

»Was? Was soll das heißen?« Ich versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus, und plötzlich starrte ich wieder in seine Augen, zwei schwarzrote Flammen. Ich verlor mich in diesem nie erlöschenden Feuer und ließ ihn meine Hand nehmen. Der scharfe Geruch frisch umgegrabener Erde stach mir in die Nase. Ich stand am Rand des Abgrunds, bereit, abzuspringen und ewig zu fallen. Als ich merkte, was mit mir geschah, wehrte ich mich und versuchte, mich loszureißen.

Er strich mit der Hand über meine Stirn und hob dann mein Kinn an. Mit einem finsteren Lachen sagte er: »Dann geh, Wandling. Du wirst zu mir zurückkehren. Alle meine Auserwählten finden früher oder später den Weg nach Hause. Bis dahin halte Ausschau nach mir, wann immer du in den Spiegel blickst. Jedes Mal, wenn du Rauch und Nebel siehst, wirst du an den Geruch und die Berührung des Herbstes denken, denn ich bin dein Schicksal.«

Und dann war er fort, und ich starrte auf mein Spiegelbild in der Puderdose. Er beobachtete mich – ich sah ihn hinter meiner linken Schulter. Ganz schwach, nur ein Geist aus meiner Erinnerung, aber er war tatsächlich da. Ich schrak zusammen und riss die Finger von dem Mal auf meiner Stirn zurück.

Camille starrte mich an. »Was ist los? Delilah, geht es dir nicht gut?« Wir waren nicht umsonst Schwestern – sie wusste, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Erzähle ich dir später«, sagte ich, denn vor den anderen wollte ich nicht darüber reden. »Hört mal, ist euch irgendetwas aufgefallen, das von unserer Begegnung mit dem Herbstkönig herrühren könnte? Habt ihr...  Visionen, oder sonst irgendwas bemerkt?«

Camille warf mir einen scharfen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Du hast recht. Über so etwas denken wir später nach, wenn wir sicher hinter unseren Hausbannen sitzen.«

»Entschuldigt mal, würdet ihr bitte leise sein? Es schneit ziemlich heftig, der Verkehr ist furchtbar, und ich versuche mich hier zu konzentrieren«, sagte Morio und blickte finster in den Rückspiegel. Aber er sah nicht nach dem Verkehr hinter uns. Er starrte auf Smokys Hand, die sich um Camilles Schulter schmiegte. Es war also doch möglich, den scheinbar undurchdringlichen Fuchsdämon fürchterlich zu reizen.

Als wir endlich zu Hause ankamen, platzten wir aus dem überfüllten Wagen wie Schaumgummischlangen aus diesen Scherzartikel-Dosen. Ich blickte mich im Vorgarten um und bemerkte, dass Iris fleißig gewesen war. Die vordere Veranda war mit einer blinkenden Lichterkette geschmückt, und an der Wand neben der Haustür hing ein gewaltiger Kranz. Die grünen Zweige, mit rotem Band und glitzernden goldenen Perlen geschmückt, dufteten köstlich, sogar aus dieser Entfernung.

Als wir die Treppe hinaufstiegen, versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, was der Herbstkönig über den JägermondClan gesagt hatte.

Vorbei an einer Stadt östlich von euch, wo das Wasser über die Felsen stürzt, in den Hügeln am Fuß des Berges...

Die Stadt östlich unseres Wohnorts war vermutlich einer der vielen Pendler-Vororte, die sich am östlichen Ufer des Lake Washington ausbreiteten – eine gigantische Fläche urbaner Erweiterung, ein Städtchen, das ins nächste überging, genährt von Microsoft, Nintendo und Dutzenden anderer High-Tech- und Software-Unternehmen in dieser Gegend. Was den Wasserfall anging, war ich nicht so sicher. Wir hatten noch gar keine Zeit gehabt, all die Naturschönheiten zu erkunden, die mich froh sein ließen, dass man uns hierher geschickt hatte und nicht in irgendeine Wüste, wo Wasser und Wälder nur noch ferne Erinnerungen waren. Stirnrunzelnd beschloss ich, Chase anzurufen und ihn um Rat zu fragen.

Als wir das Haus betraten, eilte Iris uns entgegen. Sie hatte Maggie bei sich, und ihre besorgte Miene hellte sich auf, sobald sie sah, dass wir alle in einem Stück heimgekehrt waren.

»Den Göttern sei Dank, dass ihr wieder da seid. Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht.«

»Wir?« Ich blickte mich um und bemerkte erst jetzt, dass Chases Wagen in der Einfahrt stand. »Chase ist hier?«

»Ja, und er kann es kaum erwarten zu hören, dass es euch gutgeht. Er ist herübergekommen, sobald er Feierabend machen konnte. Ach, und Trillian ist wieder da. Es war ein interessanter Abend, das kann ich euch sagen.« Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände, und ich hatte das Gefühl, dass Chase und Trillian es ihr nicht leichtgemacht hatten.

»Ich kann mir die Unterhaltung lebhaft vorstellen«, sagte ich, doch dann fiel mir etwas auf. »Stimmt was nicht, Iris?«

»Hm, na ja, heute Abend ist einiges geschehen.« Aus ihrem Tonfall zu schließen, nichts Gutes. Sie starrte mich einen Moment lang an und legte dann den Kopf schief. »Delilah, was hast du da auf der Stirn?«

»Noch mehr Neuigkeiten...  und ich bin nicht sicher, ob sie gut oder schlecht sind.« Ich deutete zum Wohnzimmer. »Sind Trillian und Chase da drin?«

Sie nickte. »Ich gehe in die Küche und mache euch schnell etwas zu essen. Geht und setzt euch. Aber fangt ja nicht ohne mich an!« Damit waren wir entlassen.

Wir strömten ins Wohnzimmer, und mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass ich es mir zumindest sparen konnte, Chase wegen des Wasserfalls anzurufen. Mir fiel auch ein, dass ich Zachary geküsst hatte und das wohl Chase beichten sollte. Ich wollte nicht, aber das war ich ihm schuldig. Bedrückt blickte ich mich nach ihm um.

Zu meiner Überraschung saß er mit Trillian am Spieltisch und spielte Schach. Trillian spielte Schwarz, Chase Weiß, was mir sehr passend erschien, und beide waren so in ihr Spiel versunken, dass sie uns nicht bemerkten.

Camille warf mir einen spöttischen Blick zu und schlich sich an die beiden heran, doch sie musste irgendein Geräusch gemacht haben, denn Trillian sprang plötzlich von seinem Stuhl auf und packte sie, ehe sie »Buh!« schreien konnte. Er zog sie in seine Arme, warf Smoky einen trotzigen Blick zu und küsste sie, lange und lüstern.

»Schön, dich wieder da zu haben, wo du hingehörst«, sagte er so laut, dass es alle hören konnten. »Nämlich bei mir.« Er sah Smoky herausfordernd an, als wollte er sagen: Und was willst du dagegen tun?

Smoky schnappte nicht nach dem Köder, sondern ging zum Sofa, setzte sich und schlug ein Bein über. Morio begrüßte Trillian und Chase mit einem Nicken und ließ sich seufzend auf einem der Fußschemel nieder. Zach starrte Chase an. Wenn wir nicht schnell etwas unternahmen, würde in unserem Wohnzimmer bald eine Testosteron-Schlacht ausbrechen.

Chase streckte die Arme aus. »Baby, ich bin ja so froh, dass du wieder da bist.«

Was zum Teufel sollte ich jetzt machen? Camille wusste, wie man mit so einer Situation fertig wurde, und ihre Liebhaber wussten, dass Camille ihre Aufmerksamkeit auch anderen schenkte. Ich aber nicht.

Ich holte tief Luft, ging zu Chase hinüber und gab ihm einen warmen, herzlichen Kuss. Er schlang die Arme um mich, und ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit beruhigte meine ausgefransten Nerven. Aber waren Sicherheit und Geborgenheit genug?

Als Iris mit einem Tablett voll kaltem Braten, Käse, Brot und verschiedenen Aufstrichen hereinkam, bedeutete ich allen, sich zu setzen. »Wo ist Menolly?«, fragte ich mit Blick auf die Uhr. Die Sonne war vor zwei Stunden untergegangen. Wo steckte sie nur?

»Hier bin ich«, sagte eine vertraute Stimme von der Tür her. Ich wirbelte herum, und da stand Menolly. »Ihr seid heil und ganz wieder nach Hause gekommen«, sagte sie und starrte mich dann entgeistert an. »Kätzchen, komm her«, sagte sie. Das war keine Bitte. Ich eilte zu ihr, und sie bedeutete mir, mich zu ihr hinabzubeugen. Ihre Finger hatten kaum den Umriss des Mals auf meiner Stirn berührt, als sie fauchend zurückwich. »Wer hat dir das angetan?«

»Der Herbstkönig«, flüsterte ich. »Warum? Was hast du gespürt?«

Ihre Augen waren blutrot geworden, und als sie sprach, konnte ich sehen, dass ihre Reißzähne vollständig ausgefahren waren. »Er hat dich markiert. Als sein Territorium. Was zum Teufel hast du getan? Dich ihm versprochen? Du trägst das Mal einer Todesmaid, Kätzchen. Und soweit ich weiß, gibt es keine Möglichkeit, das wieder loszuwerden.«

»Die Götter seien dir gnädig«, flüsterte Iris.

»Nein«, flüsterte ich. »Das ist unmöglich. Ich habe nichts dergleichen zugestimmt. Er hat zwar gesagt, dass er eine Bezahlung von mir verlangen würde, aber er wollte mir nicht einmal sagen, was das sein sollte.«

Doch tief drinnen wusste ich, dass ich am Arsch war. Iris hatte recht: Die Elementarfürsten waren furchterregend und vollkommen andersartig als Menschen oder Feen. Sie spielten nach ihren ganz eigenen Regeln, die sie aufstellten, wie es ihnen gerade gefiel.

Chase schoss hoch. »Was zum Teufel soll das? Was sagt ihr da? Delilah würde nie ein solches Versprechen abgeben!«

Menolly bedachte ihn mit einem kühlen Blick. »Natürlich würde sie das nicht. Aber eines musst du verstehen, Chase, und hör gut zu, denn ich habe keine Lust, mich zu wiederholen: Die Elementarfürsten scheren sich nicht darum, was Menschen denken. Sie scheren sich nicht darum, was Feen denken. Die Elementarfürsten entstammen der innersten Essenz sowohl der Erde wie auch der Anderwelt, sie sind Gefäße purer, ursprünglichster Macht. Sie sind, wer sie sind, und weder eure noch unsere Regeln gelten für sie. Sie haben die Macht, jeden an ihren Willen zu binden, und niemand außer den Göttern selbst könnte demjenigen dann noch helfen.«

Chase war bleich und sah betroffen aus, als er sich langsam wieder auf seinen Platz sinken ließ. »Gütiger Gott, was wird jetzt mit dir geschehen?«

Ich sah Menolly an. »Ich weiß es nicht, aber was immer es auch sein mag, ich werde versuchen, es aufzuhalten. Ich glaube...  Nein, fangen wir lieber am Anfang an. Wir haben herausgefunden, dass unsere Feinde wesentlich mehr sind als ein Haufen Werspinnen unter dem Daumen eines Degath-Kommandos.«

Camille machte schweigend zwei weitere Sandwiches. Eines gab sie mir, um sich dann mit dem anderen auf die Schreibtischkante zu setzen und die Füße baumeln zu lassen. Menolly schwebte aufwärts und setzte sich auf die Spitze der Leiter neben dem Baum. Ich warf einen Blick auf den glitzernden Baumschmuck, brachte es aber nicht fertig, mich ihm zu nähern. Iris’ Zauber funktionierte offenbar. Ich verputzte mein Abendessen, ohne einen einzigen Bissen zu schmecken, aus schierer Erschöpfung.

Mit einem Blick zu Camille sagte ich dann: »Fangen wir an. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch wachhalten kann.«

Sie nickte. »Ich habe gerade genau dasselbe gedacht.« Sie warf Trillian einen Blick zu und sagte dann: »So dringend ich auch erfahren möchte, was im Moment zu Hause los ist, sollten wir mit unserem Ausflug anfangen, damit Zachary bald fahren kann.«

Zu fünft schilderten wir Chase, Trillian und Iris, was geschehen war. Dass ich Zach geküsst hatte, erwähnte ich nicht, und dankenswerterweise auch sonst niemand, aber als ich von der Vision erzählte, die ich im Auto gehabt hatte, schnappte Camille nach Luft und sah Menolly an, die stumm nickte.

»Damit ist alles klar. Der Herbstkönig hat dich gebunden.«

»Würde mir freundlicherweise jemand erklären, was genau eine Todesmaid eigentlich ist?« Mein Sandwich war auf dem Weg in meinen Magen zu einem schweren Klumpen geworden. Ich nahm wohl besser noch ein paar Basentabletten, ehe ich ins Bett ging, sonst würde ich mit scheußlichen Magenschmerzen aufwachen.

»Es wird dir aber nicht gefallen«, sagte Camille.

»Danke für diesen nützlichen Hinweis – ach, wirklich? Es gefällt mir jetzt schon nicht, dabei weiß ich noch nicht mal, wovon wir hier eigentlich reden. Sag es mir einfach, damit ich anfangen kann, mich damit auseinanderzusetzen, in was für einem Schlamassel ich diesmal wieder gelandet bin.« Nervös wischte ich mir die Hände an der Serviette ab, zog die Beine unter mich und spürte, wie gewaltige Kopfschmerzen sich anschickten, die kleine Armee von Schmerzen und Wehwehchen zu verstärken, die bereits in meinem Körper aufmarschiert war.

Menolly ließ sich langsam zu Boden sinken, und ihr Gesicht wirkte undurchdringlich. Aber in ihren Augen glänzten blutige Tränen, und nun wusste ich endgültig, dass das, was mit mir passiert war, gar nicht gut sein konnte.

»Kätzchen, der Herbstkönig ist nicht nur irgendein Elementarfürst – er ist außerdem einer der Schnitter. Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, während ihr heute Abend zwischen den Welten herumgereist seid. Der Herbstkönig sammelt Seelen in seinem Palast, und seine Dienerinnen werden als Todesmaiden bezeichnet. Sie sind so etwas Ähnliches wie Walküren. In der Nacht vor Samhain ernten sie die Seelen, die er vorher für den Tod ausgewählt und gezeichnet hat.«

Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb und mein Herz zu rasen begann. Der Raum schimmerte, und ich begann mich zu verwandeln. »Dann werde ich also sterben?«

»Nein, daß meine ich damit nicht!« Sie eilte zu mir, kniete sich neben, ch und nahm meine Hände. »Bleib bei uns, Delilah, verwandle dich nicht – du hast mich falsch verstanden!«

Ich versuchte, mich auf ihre Worte zu konzentrieren und meine menschliche Gestalt zu behalten, aber die Katzenmagie war stark. Und diesmal war irgendetwas anders. Mein Körper fühlte sich eigenartig schwer an, als ich in einen Strudel eingesogen wurde, hin zu dem Punkt, an dem ein Selbst dem anderen begegnete, damit sie die Plätze tauschen konnten.

 

Der Duft tropischer Blumen stieg berauschend und schwer um mich auf. Überall sah ich Ranken, Büsche und Bäume, die so hoch hinaufwuchsen, dass sie den Nachthimmel verbargen. Und da war ich, ich kauerte auf einem Ast und lauerte auf Beute. Etwas auf dem Pfad unter mir erregte meine Aufmerksamkeit.

Ein Wildschwein trappelte den mit Laub übersäten Pfad entlang. Während ich das Tier beobachtete, kam ein solcher Hunger in mir auf, dass ich unmöglich widerstehen konnte. Ich stand auf, ganze zehn flauschige Pfund schwer, doch binnen Sekunden verwandelte ich mich erneut. Jetzt waren meine Pfötchen mächtige Pranken, schwarz schimmernd, und ein Kraftstoß durchfuhr meinen Körper, als ich aus dem Baum sprang und neben dem Schwein landete. Es stieß ein schrilles Quieken aus und floh. Ich hetzte ihm nach, und der Rausch der Jagd sang in meinem Blut.

Ein tiefes Grollen drang aus meiner Kehle, ich machte mich bereit zum Sprung, doch plötzlich drang eine Stimme an meine Ohren und durchbrach den Nebel, der meine Sinne trübte. Ich versuchte, das Geräusch abzuschütteln und mich auf das Wildschwein zu konzentrieren, aber die Stimme war so beharrlich, dass ich mich schließlich umdrehte in der Absicht, meine Frustration an demjenigen auszulassen, der mich bei der Jagd gestört hatte.

Dort, in einem Fleck Mondlicht, stand ein goldener Puma.

»Delilah, komm zurück zu uns. Du musst zu uns zurückkehren. Das bist nicht du, Delilah, nicht in diesem Augenblick – die Zeit ist noch nicht gekommen. Kehr um«, sagte er gebieterisch. Ich wollte nicht auf ihn hören, sondern weiter dem Schwein hinterherhetzen, aber ich konnte nicht. Der Puma roch wie ein Alphatier, und ich musste auf ihn hören. Widerstrebend folgte ich ihm durch den Dschungel.

Als mein Blutrausch nachließ, begann mein Kopf zu hämmern, und ich schwankte; ich konnte kaum mehr geradeaus schauen. Wo war ich überhaupt? Was geschah hier? Ich wollte um Hilfe rufen, bekam aber kein Wort heraus. Und dann verschwand alles in wirbelnder Dunkelheit.