Kapitel 2

 

Meine Schwestern und ich wohnten in einem verrückten, dreistöckigen viktorianischen Haus am Rande von Belles-Faire, einem der schäbigsten Vororte von Seattle. Ja, das Viertel war mies, aber unser riesiges Grundstück bot uns die Abgeschiedenheit, die wir für unsere Arbeit brauchten. Menolly wohnte im Keller, Camille im ersten und ich im zweiten Stock, und das Erdgeschoss bewohnten wir gemeinsam. Iris hatten wir die Kammer neben der Küche gegeben. Sie war klein, aber das war Iris auch, und dafür, dass sie uns im Haushalt half, wohnte sie umsonst.

Zwei Tage nach der Vollmondnacht legte ich gerade letzte Hand an ein Drei-Käse-Omelette, als Camille in die Küche gerauscht kam.

»Ist das Essen fertig?«, fragte sie mit leuchtenden Augen.

Ich nickte. Wir beide und Iris machten abwechselnd das Frühstück. »Omelette. Toast steht schon auf dem Tisch.« Ich teilte das Omelette auf die bereitstehenden Teller auf.

»Das riecht gut«, sagte Camille. Sie war wieder einmal mächtig aufgebrezelt und trug ein scharlachrotes Kleid mit Nackenband und tiefem V-Ausschnitt. Ein silberner Gürtel saß tief auf ihren Hüften, und für die Fick-mich-Pumps an ihren Füßen wäre so manche Frau über Leichen gegangen. Ich betrachtete sie von Kopf bis Fuß.

»Neuer Kerl?«, fragte ich.

Sie lachte. »Als hätte ich mit den zweien, die ich bereits habe, nicht schon genug Ärger. Nein. Um deine Neugier zu befriedigen: Der Verein der Feenfreunde trifft sich heute in der Buchhandlung. Ich biete denen gern etwas, wenn sie vorbeischauen. Sie lieben diese Show, und ich habe mal wieder Gelegenheit, mich herauszuputzen.«

Ich würde nie im Leben mit Camilles Aufmachung durchkommen, selbst wenn ich wollte. Mein Kleiderschrank enthielt reichlich tiefgeschnittene Jeans, ärmellose Tops, Rollis und Pullover. Meine Tarnidentität war die einer Privatdetektivin, und da ich echte Aufträge annahm, musste ich mich frei bewegen können. Um mich durchs Gebüsch zu schlagen oder Feuertreppen hochzuklettern, wäre ein Seidenfähnchen nicht ganz das Richtige. Ganz zu schweigen davon, dass ich mit gut einem Meter achtzig – locker fünfzehn Zentimeter größer als Camille – gar keine High Heels brauchte, obwohl ich schon ein paar besaß. Mein Geschmack in puncto Schuhe ging eher in Richtung Bikerstiefel.

Iris trat zu uns, und ich deutete auf ihren Teller. »Das Essen steht schon auf dem Tisch.«

Sie zog sich auf den Barhocker hoch, von dem aus sie den Tisch gut erreichen konnte. Sie war kaum einen Meter zwanzig groß und sah nicht sonderlich furchteinflößend aus, aber sie konnte so kräftig zuschlagen, dass ein ausgewachsener Mann zu Boden ging. Oder eine ausgewachsene Bestie. Ein verärgerter Hausgeist war jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte.

»Was soll ich heute tun?«, fragte sie.

Camille schlug ihren Kalender auf. »Ich brauche dich heute Nachmittag im Laden, wenn die Feenfreunde kommen – so gegen drei, also wäre ich dir dankbar, wenn du um Viertel vor drei da wärst.«

»Kein Problem.« Iris hatte ein fotografisches Gedächtnis, das sich nicht nur aufs Visuelle, sondern auch auf Unterhaltungen erstreckte. »Was noch?«

»Würdest du heute Vormittag ein bisschen mit Maggie zum Spielen nach draußen gehen? Ich glaube, sie bräuchte mal frische Luft«, sagte ich. »Aber sei vorsichtig. Wer auch immer dieser fremde Werpuma ist, er treibt sich vermutlich noch in der Nähe herum, also bleibt beim Haus.«

»Mache ich«, sagte sie. »Übrigens, Delilah, ich will mich ja nicht beklagen, aber du hast dein Katzenklo noch nicht saubergemacht.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Camille. »Denk daran, wir haben hier keine Diener, also putzt jeder seinen eigenen Dreck weg.« Sie zerstrubbelte mir das Haar.

Ich packte ihre Hand und biss sacht in den Daumen, so dass ein schwacher Abdruck meiner Reißzähne zurückblieb. Sie jaulte auf, und ich grinste.

»Ich habe nicht mal ein Loch gemacht, also versuch es gar nicht erst mit der Mitleidsnummer. Immer, wenn du mir so durch die Haare fährst, bringst du meine Frisur durcheinander. Also, das mit dem Katzenklo tut mir leid. Nicht zu fassen, dass ich das vergessen habe. Ich mache das, sobald ich nach Hause komme.«

Als der AND uns umstandslos in der Erdwelt abgesetzt hatte, hatten wir einen Pakt geschlossen. Da wir hier keine Dienerschaft hatten, die sich um alles kümmerte, würde jede von uns die Sauerei, die ihr jeweiliges Leben unweigerlich verursachte, selbst beseitigen. Wenn ich daran dachte, wie oft Menolly zur Jagd ging, war ich insgeheim froh, dass ich mich nur um das Katzenklo zu kümmern brauchte. Ich warf einen Blick zu dem Regal, hinter dem der Eingang zu Menollys Unterschlupf verborgen war. Das Letzte, was ich tun wollte, war, ihre Blutkammer zu putzen, in der sie sich säuberte, nachdem sie getrunken hatte. Die unverwechselbaren Flecken aus Camilles lächerlich teuren Bettlaken zu waschen war ein Kinderspiel im Vergleich zu der Schweinerei, die Menolly hinterließ. Ich nahm mir vor, meinen Teil der Abmachung in Zukunft gewissenhafter zu erfüllen.

Camille schnaubte. »Ich weiß genau, woran du denkst. Ich bin auch froh, dass ich ihren Unterschlupf nicht putzen muss, obwohl mein Magen dem wohl eher gewachsen wäre als deiner.«

»He, das hast du gesagt.« Ich bemühte mich immer noch, mit Menollys Verwandlung klarzukommen, während Camille jeglichen Ekel längst überwunden hatte. Ich fand es nicht schön von mir, so zimperlich zu sein, aber ich konnte eben nicht anders.

Ich wies mit einem Nicken zur Tür. »Machen wir uns auf den Weg. Iris, ich wünsche dir einen schönen Tag. Du weißt ja, wie du uns erreichen kannst, falls etwas passiert.« Ich hob Maggie hoch, die in der Ecke auf dem Boden gespielt hatte, und drückte ihr einen dicken Schmatz auf den flaumigen Kopf. Camille drängte sich zu uns, und Iris blieb schließlich nichts anderes übrig, als uns die kleine Gargoyle wegzunehmen.

»Raus mit euch, ihr beiden. Ich kümmere mich um die Kleine«, sagte sie und setzte Maggie in ihren Laufstall.

Camille zog einen fließenden schwarzen Abendmantel über und marschierte zur Tür hinaus in den beißend kalten Morgen. Ich schlüpfte in meine Lederjacke und vergewisserte mich, dass mein langes Messer mit der Silberklinge im Futteral in meinem Stiefel steckte. Eine Zeitlang hatte ich eine Schusswaffe getragen, doch das Eisen war auf die Dauer zu viel für mich gewesen, obwohl die eigens für mich angefertigte Glock, die Chase mir besorgt hatte, nur ganz wenig davon enthielt. Ich hatte nie damit schießen müssen, und gegen Dämonen würde sie sowieso nichts ausrichten.

Chase hingegen ließ sich für seine Pistole spezielle Kugeln machen. Manche hatten einen Eisenkern für den Fall, dass er gesetzlose Feen zur Strecke bringen musste. Andere enthielten Silber, so dass man Werwölfe damit töten konnte – die einzige Spezies von Werwesen, die Silber nicht vertrug.

Ich lief die klappernden Verandastufen hinunter in den kalten Dezembermorgen; die Wolken hatten einen Schimmer, der Schnee androhte. Seattle war zwar nicht gerade das WinterWunderland, doch ab und zu bekamen wir schon eine hübsche Schneedecke.

Camille warf mir eine Kusshand zu, sprang in ihren Lexus und fuhr die Auffahrt hinunter. Ich ging knirschend über das frostbedeckte Gras und stieg in meinen Jeep Wrangler. Während ich den Motor warm laufen ließ, kehrten meine Gedanken zu dem Werwesen zurück, das auf unserem Land herumgeschlichen war. Seit wir seine Spuren gefunden hatten, patrouillierten wir drei jede Nacht an den Grenzen unseres Grundstücks. Wir konnten immer noch Katzenmagie riechen, aber weder Menolly noch Camille nahmen irgendwelche dämonischen Energien wahr. Dass wir etwas nicht riechen konnten, bedeutete natürlich noch lange nicht, dass es nicht da war.

Seit Schattenschwinge auf dem Kriegspfad war – und inzwischen vermutlich stinksauer auf uns –, hatte die grausame Wirklichkeit meinen Optimismus ein wenig gedämpft. Vielleicht bedeutete das auch, dass ich erwachsen wurde. Ich konnte nicht mehr Bubbles von den Powerpuff Girls spielen. Das Problem mit dem Leben war eben, dass es einem ständig dazwischenkam, egal, wie schön man sich alles in der Phantasie ausgemalt hatte.

 

Der Indigo Crescent lag mitten im Geschäfts- und Einkaufsviertel von Belles-Faire. Mein Büro war im selben Gebäude, im ersten Stock, und von dort aus spielte ich zwischen den AND-Einsätzen die Privatdetektivin. Es gab einen alternativen Zugang über eine Außentreppe, so dass meine Klienten auch außerhalb der Öffnungszeiten von Camilles Buchhandlung zu mir kommen konnten.

Ich fand einen Parkplatz nur eine Querstraße weiter, aber die Luft war so kalt, dass es mir den Atem verschlug, während ich die Straße entlangjoggte. Camilles Lexus stand natürlich genau vor der Buchhandlung, wie immer. Aber ich kannte ihr Geheimnis, und das war nicht einfach nur Glück. Sie hatte irgendetwas gegen die Parkplatz-Götter in der Hand, und die verweigerten ihr niemals einen guten Platz. Ich bearbeitete Camille seit Wochen, damit sie mir endlich ein passendes Amulett machte, aber sie schob es immer wieder auf. Allmählich glaubte ich, dass sie mich absichtlich hinhielt.

Begleitet von einem Atemwölkchen, betrat ich den Laden und traf als Erstes auf Erin Mathews, die Präsidentin des örtlichen Vereins der Feenfreunde, und ihren Freund Cleo Blanco. Ich lächelte breit. Cleo und Erin waren zwei der coolsten Menschen, die wir kannten, und ich alberte gern mit ihnen herum. Vor allem mit Cleo.

Erin war die Inhaberin des Scarlet Harlot, einer DessousBoutique ein paar Straßen weiter. Cleo war ein Frauenimitator, oder auch eine Drag Queen. In seinem anderen Leben war er Tim Winthrop, ein brillanter Informatik-Student und Vater einer kleinen Tochter, mit der er jedes Wochenende verbrachte, ganz gleich, was sonst in seinem Leben anstehen mochte.

Erin und Cleo hätten gegensätzlicher kaum sein können. Obwohl Erin Dessous verkaufte, trug sie Jeans, Flanellhemden und Wanderstiefel, was gut zu ihrer bodenständigen Persönlichkeit passte. Cleos Geschmack hingegen neigte – ebenso wie seine gesamte Persönlichkeit – zur Extravaganz, wenn er als Frau unterwegs war.

Er war fast so groß wie ich, jedenfalls in diesen Latex-Plateaustiefeln mit 12-Zentimeter-Absatz, rot wie ein Feuerwehrauto, die ihm fast bis in den Schritt reichten. In weihnachtlicher Farbenpracht bissen sie sich mit seinen jagdgrünen, hautengen Leggins und einem gestreiften, übergroßen Pulli. Unter dem Pulli trug er entweder einen mächtig gepolsterten BH, oder er hatte sich Implantate einsetzen lassen. Cleos Perücke war wasserstoffblond, die langen falschen Wimpern lackschwarz.

Camille besprach gerade etwas mit Erin, also hockte ich mich neben Cleo auf den Ladentisch und begrüßte ihn mit einem klatschenden Handschlag.

»Was steht an, Babe? Außer diesem gewaltigen Vorbau?« Ich deutete grinsend auf seine Brust. »Wo um alles in der Welt hast du die denn her? Kriegt man so was im Versandhaus? Sind die echt, oder ist das nur eine Menge Polster und nichts dahinter?«

»Na, wenn das nicht Delilah der Doofkopf ist.« Er bog den Rücken durch und wackelte mit den Schultern. »Für meine Verwandlung kannst du dich bei Erin bedanken. Sie hat mir diese beiden Hübschen besorgt. Ich probiere sie noch aus, vor meinem Auftritt heute Abend.«

Erin drehte sich um, als sie ihren Namen hörte, und Cleo zwinkerte ihr zu. »Ich verteile nur gerade die Lorbeeren für mein prachtvolles Dekolleté.« Er wandte sich wieder mir zu. »Übrigens, habe ich dir je gesagt, wie wunderbar ich deine Zähne finde? Die sind ja so heiß. Ich wette, die Jungs stehen Schlange, um sich einen Knutschfleck von dir zu holen.«

Meine Reißzähne waren immer sichtbar, im Gegensatz zu Menollys – wie alle Vampire konnte sie ihre einziehen. »Alles Natur, Kumpel. Sie können allerdings ziemlich lästig werden, wenn ich zu aufgeregt bin. Ich habe mir schon ein paarmal hässlich auf die Zunge gebissen.«

Ich erwähnte lieber nicht, dass ich auch Chase schon einoder zweimal in die Zunge gebissen hatte. Und nach dem ersten katastrophalen Versuch hatte ich entschieden, dass es einfach nicht in Frage kam, ihm einen zu blasen – er hatte es auch nicht eilig gehabt, das noch mal zu probieren. Dieser kleine Zwischenfall hatte uns zwei Wochen langweilige – und für ihn obendrein schmerzhafte – Abstinenz gekostet. Im Gegensatz zu Camille war ich bei unserer Ankunft hier noch Jungfrau gewesen, allerdings nicht in Katzengestalt. Nach einem etwas holprigen Start ins Sexleben war ich inzwischen endlich dahintergekommen, warum alle so einen Wind darum machten. Jetzt wurde es immer schwieriger, meine Hormone im Griff zu behalten.

Ich rüttelte mich aus diesen Gedanken auf und konzentrierte mich wieder auf Cleos Brust. »Das hat Erin wirklich gut gemacht. Ich würde sagen, mindestens Körbchengröße C.«

»Miau. Höre ich da einen Hauch von Neid heraus, Catwoman?« Cleo grinste, um mir zu zeigen, dass er nur Spaß machte. Er hatte sich noch nicht ganz an uns gewöhnt, aber eins musste ich ihm lassen: Er besaß mehr Mut als die meisten anderen Menschen, die uns so begegneten.

Ich schnaubte. »Glaub mir, wenn ich auf irgendjemandes Titten neidisch wäre, dann auf Camilles. Die sind echt, und wir reden hier von Doppel-D.«

»He, das habe ich gehört.« Camille kam zu uns geschlendert und schlang den Arm um Cleos Taille.

Er grinste sie lüstern an, beugte sich vor und fuhr mit der Zungenspitze über ihren Hals. »Na, hallo, kleine Hexe. Weißt du, ich könnte mir glatt überlegen, ob ich mein Frauen-Tabu nicht mal breche – nur für dich, meine Teuerste.«

»Ich würde die Mitgliedschaft in der schwulen Gemeinde an deiner Stelle noch nicht kündigen, Süßer«, erwiderte Camille und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn aufs Kinn zu küssen. »Mein Bett quillt bereits über.«

Cleo lachte, ein tiefes, kehliges Lachen, das mir ein Lächeln entlockte. »Jason würde mir sowieso was erzählen. Er ist herrlich eifersüchtig.«

»Er sieht außerdem umwerfend gut aus, mein Lieber«, bemerkte ich.

Jason war Cleos Freund, und die beiden gaben ein tolles Paar ab. Jason war so dunkel wie Cleo hell; er besaß eine Autowerkstatt und hatte mehr Kundschaft, als er bewältigen konnte. Den beiden schien eine strahlende Zukunft fast sicher.

»Hören wir denn bald mal die Hochzeitsglocken läuten?« Ich deutete auf den eisig glitzernden Klunker an Cleos linkem Ringfinger.

Er blinzelte. »Man kann nie wissen.«

Camille warf einen Blick auf die Uhr. »Okay, es wird Zeit, den Laden aufzusperren. Delilah, hast du oben zu tun, oder willst du noch ein bisschen hierbleiben?« Sie hatte diesen Blick, der mir sagte, dass sie mich in der Buchhandlung einspannen würde, wenn ich mich für Letzteres entschied.

»Ich gehe ja schon.« Ich glitt vom Ladentisch, doch es widerstrebte mir, den warmen Laden zu verlassen. »Da oben ist es verdammt kalt. Die Wärme kommt irgendwie nie bis zu mir.« Inzwischen war ich gezwungen, Heizlüfter aufzustellen, damit ich es in meinem Büro aushalten konnte. Zum Glück bezahlte der AND alle Rechnungen. Und da wir gerade stinksauer auf unseren Arbeitgeber waren, bereitete es mir ein perverses Vergnügen, diese Rechnungen hübsch in die Höhe zu treiben.

»Du kannst gern hierbleiben und mir helfen, Bücher einzusortieren.« Camille schob mir gleich einen Stapel zu, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich mache mich lieber an die Arbeit. In zehn Minuten habe ich einen Termin mit einem neuen Klienten. Wenn er durch den Laden reinkommt, schick ihn zu mir hoch.«

»Bis später, Süße.« Camille winkte mir nach, als ich, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinaufsprang.

Am Kopf der Treppe führte ein kurzer Flur zu drei Türen: eine Toilette, ein Besenschrank, in dem wir unseren Putzkram aufbewahrten, und mein Büro. Der AND sah natürlich keinen Anlass, uns einen Hausmeister zu bezahlen, und wir konnten es nicht riskieren, jemand Fremdes zum Putzen einzustellen; deshalb hatten wir wirklich Glück, dass Iris sich freiwillig dafür gemeldet hatte. Für ihre Arbeit im Laden bezahlten wir sie pro Stunde, und sie kam einmal die Woche, um die Böden zu wischen, abzustauben und den Müll rauszubringen. Mir graute jetzt schon vor dem Tag, da sie jemanden kennenlernte; dann könnte sie ihn heiraten und ein eigenes Haus voll kleiner Hausgeister großziehen.

Ich öffnete die Tür zu meinem Büro und sah mich um, bevor ich eintrat. Vorsicht war kein Charakterzug meiner Familie, aber ich hatte Glück gehabt und sie mir irgendwann angewöhnt. Eines Tages könnte dieser Bruchteil einer Sekunde recht praktisch sein und mir beispielsweise das Leben retten.

Mein Wartezimmer war spärlich eingerichtet, mit einem alten Sofa, zwei Sesseln und einem Tisch, auf dem neben einer Lampe und einer Glocke nur ein paar Zeitschriften lagen. Ich drehte das Schild an der Eingangstür von »Geschlossen« auf »Offen – Bitte klingeln«. Während ich mich in dem schäbigen Zimmer umblickte, musste ich wieder einmal daran denken, wie einsam ich mich erdseits manchmal fühlte. Ja, ab und zu löste ich einen Fall und zerrte für am Boden zerstörte Ehefrauen oder betrogene Ehemänner schmutzige Einzelheiten ans Licht – aber half ich damit überhaupt jemandem?

Wenn wir zu Hause in der Anderwelt wären...  Verflucht, wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich keine Ahnung, was wir in der Anderwelt jetzt täten. Da ein Bürgerkrieg bevorstand, würde man uns vermutlich zum Militärdienst zwangsverpflichten. Vor allem, wenn man unsere Erfolgsquote bedachte. Zumindest verstanden wir etwas vom Kämpfen – und vom Überleben.

Ich öffnete die Tür zum eigentlichen Büro, schlüpfte aus der Jacke und drehte den Heizlüfter auf. Ein großer Eichenholzschreibtisch, den ich gebraucht ergattert hatte, füllte den Raum fast aus, zusammen mit einem Ledersessel, der mit Klebeband geflickt war, und zwei gepolsterten Klappstühlen für Klienten.

Das Einzige, was es in meinem Büro in Hülle und Fülle gab, waren Pflanzen – Pflanzen, die kaltes Wetter und Schatten vertrugen. Sie gaben mir das Gefühl, hier drin atmen zu können. Ein riesiges Poster von einer Waldlichtung erinnerte mich an zu Hause, und Iris hatte es geschafft, genug Kinkerlitzchen aufzutreiben, um dem Raum hier und da ein wenig Glanz zu verleihen. Außerdem hatte sie das einzige Fenster auf Hochglanz poliert. Zumindest konnte ich in diesem Dschungel aus Backstein und Mörtel den Himmel sehen.

Ich blieb vor einem Konsolentischchen stehen, auf dem eine Statue der ägyptischen Göttin Bast auf einem golden und grün gemusterten Tuch stand. Um die Statue herum hatte ich eine Halskette aus Türkisperlen, eine Vase mit frischen Blumen, ein Sistrum – eine ägyptische Handklapper – und eine kobaltblaue Glaspyramide arrangiert. In einem bronzenen Halter stand eine hohe, grüne Kerze, und ich atmete tief aus, als ich sie entzündete.

»Herrin Bast, leite meine Schritte. Wache über meinen Weg. Wisse, dass mein Herz zu deinen Füßen ruht.« Dieses schlichte Gebet sprach ich jeden Morgen und jeden Abend. Bast wachte über alle Katzen und war für mich das, was die Mondmutter für Camille war.

Ein wenig getröstet, ließ ich mich in meinem Ledersessel nieder und sah die Post durch. Ein paar Rechnungen, eine Einladung zu einem Seminar über polizeiliche Vorschriften und Verfahrensweisen für private Ermittler, eine Erinnerung daran, dass bei meinem Jeep die Inspektion fällig war...  nichts Wichtiges. Als ich die Briefe auf den Schreibtisch warf, klingelte die Glocke in meinem Wartezimmer.

Ich schüttelte meine zunehmende Depression ab und warf einen Blick auf die Uhr. Mein neuer Klient – oder vielmehr potenzieller Klient – war auf die Minute pünktlich. Ich war nicht auf das heftige Schwindelgefühl vorbereitet, das mich auf dem Weg zur Tür plötzlich überkam. Was zum Teufel...  ? Ich blinzelte und konnte kaum geradeaus schauen, als ich die Tür öffnete.

Der Mann im Wartezimmer war gut zehn Zentimeter größer als ich. Er war schlank, seine Lederjacke mit Nieten verziert, und man sah deutlich, dass seine Schultern breit und die Arme muskulös waren. Goldblondes Haar reichte ihm bis zum Kragen. Als ich in diese leuchtend rotbraunen Augen blickte, wusste ich, was er war.

Er streckte die Hand aus und neigte leicht den Kopf. »Zachary Lyonnesse, zu Ihren Diensten.«

Mir stockte der Atem, als meine Finger die seinen berührten. Die Hitze, die er ausstrahlte, ließ einen Stoß von Katzenmagie knisternd meinen Arm hinauflaufen, und ein vertrauter Geruch sagte mir alles, was ich wissen musste. Nun ja, vielleicht nicht alles, aber für den Anfang reichte es. Ich straffte die Schultern und bedeutete ihm einzutreten.

»Delilah D’Artigo. Also, Zachary Lyonnesse, möchtest du mir vielleicht sagen, warum zum Teufel du auf meinem Grundstück herumgeschlichen bist?«

Er neigte den Kopf zurück und lachte auf. »Ich wusste, dass du mich erkennen würdest. Ich habe Venus Mondkind gesagt, dass du sofort dahinterkommen würdest, aber er wollte mir nicht glauben.«

Er senkte die Stimme und fügte hinzu: »Ich bin froh, dass ich dich nicht unterschätzt habe.«

Nun, immerhin gab er offen zu, dass er es gewesen war. Ich räusperte mich. »Also, beantwortest du jetzt meine Frage, PumaBürschchen?«

Als ich die Herausforderung in meiner Stimme hörte, wusste ich, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Ich umkreiste ihn, und mein Instinkt drängte mich, loszulassen und mich zu verwandeln, ihm klarzumachen, auf wessen Territorium er sich hier befand. Den Göttern sei Dank dafür, dass ich beherrscht genug blieb, um zu erkennen, dass ein goldenes Tigerkätzchen einem Puma nicht gewachsen wäre.

Zacharys Augen blitzten auf, und sein Mundwinkel verzog sich zu einem winzigen Lächeln. »Du brauchst den Schwanz nicht so aufzuplustern, Mädchen. Ich bin nicht hier, um dir etwas anzutun, und ganz gleich, was du von mir denken magst, ich bin auch kein Voyeur. Du willst wissen, warum ich dich beobachtet habe? Weil ich dich anheuern möchte. Aber vorher musste ich ein Gefühl für die Situation bekommen. Ich bin nicht mehr sicher, wem ich noch trauen kann, und im Augenblick ist Vertrauen das Allerwichtigste

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Reißzähne. Seine Arroganz ärgerte mich, aber er war größer und gefährlicher als ich, zumindest in Tiergestalt. Und ich erkannte die Rangfolge durchaus an. »Was willst du?«

Zachary seufzte tief, und seine Schultern sackten mitsamt seiner großspurigen Haltung herab. »Ich gehöre zum RainierPuma-Rudel. Wir brauchen einen Ermittler in unserem Revier. Jemanden, der unsere spezielle...  Situation versteht. Das ist eine heikle Angelegenheit. Wir haben über das Subkult-Netzwerk von dir und deinen Schwestern erfahren. Ich weiß, dass du halb Fee bist und ein Werwesen. Es erschien mir am sinnvollsten, einen anderen Gestaltwandler um Hilfe zu bitten.« Er drückte die Hände an die Stirn und kniff die Augen zusammen.

»Hast du Kopfschmerzen? Möchtest du ein Aspirin?« Ich hatte nicht die Absicht, ihm blind zu vertrauen, denn immerhin war er ein Fremder und ein unbekanntes ÜW – ein Übernatürliches Wesen. Aber er sah so bedrückt aus, dass er mir furchtbar leidtat. »Setz dich doch.« Ich nahm ihn beim Arm und führte ihn zu einem Stuhl vor meinem Schreibtisch.

Das gab ihm den Rest. Das Leuchten verschwand aus seinen Augen, die nun düster und bekümmert wirkten, und er sank auf dem Stuhl zusammen. »Jemand ermordet Angehörige unseres Rudels, einen nach dem anderen«, flüsterte er.

Verflucht – kein Wunder, dass der Kerl so fertig war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und bedeutete ihm fortzufahren. »Erzähl mir mehr darüber.«

Zachary rieb sich das Kinn, und mir kam plötzlich der Gedanke, dass dieser leichte Bart ihm verdammt gut stand.

»Wir müssen herausfinden, wer unsere Leute ermordet. Wir haben selbst versucht, Nachforschungen anzustellen, aber – nichts...  Wir kommen immer zu spät, sind immer einen Schritt zu langsam. Fünf Angehörige unseres Rudels sind in den vergangenen Wochen ermordet worden, und ich gebe offen zu, dass wir inzwischen große Angst haben.«

»Wart ihr schon bei der Polizei?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Das ist keine Sache für die Polizei. Die haben doch keine Ahnung, wie man mit so einer Situation umgeht. Die Opfer wurden auch nicht von einem Menschen getötet, so viel kann ich dir versichern.« Er starrte zu Boden und scharrte mit der Stiefelspitze auf dem Boden herum.

Mir fiel ein, dass Chases Anderwelt-Erdwelt-Tatort-Team uns vielleicht helfen könnte. Ich kritzelte eine Notiz auf meinen Block, die mich daran erinnern sollte, ihn zu fragen.

»Möchtest du Tee?«, fragte ich. Ich hatte eine Mikrowelle auf einem kleinen Tischchen und immer verschiedene FertigNudelgerichte, Tees, Kakao und andere Kleinigkeiten auf Lager. Rasch stellte ich zwei Becher Wasser in die Mikrowelle und erhitzte sie zwei Minuten lang.

»Danke«, sagte er und hatte auf einmal sichtlich Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. »Es kommt mir so vor, als hätte ich seit Tagen nicht mehr geschlafen, und vermutlich sehe ich auch so aus.«

Ich lächelte ihm zu. »Du siehst gut aus«, sagte ich und ließ Teebeutel in die Becher mit dampfendem Wasser fallen. »Hier, lass ihn noch ein paar Minuten ziehen. Da ist Pfefferminze drin, die wird dich erfrischen.« Ich kehrte zu meinem Schreibtisch zurück und griff zum Stift. Später würde ich die Notizen auf meinen Laptop übertragen. »Erzähl mir alles, und lass nichts aus, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist.«

Zachary griff nach seinem Becher, hielt ihn sich unter die Nase und sog tief den duftenden Dampf ein. Dann atmete er langsam aus und lehnte sich entspannt zurück. »Der erste Mord ist vor einem Monat geschehen. Sheila ist am Morgen nach dem Vollmond nicht nach Hause gekommen.«

»Sheila?«, fragte ich. »Hat sie auch einen Nachnamen?«

»Nein. Das erkläre ich dir gleich«, sagte er. »Erst dachten wir, sie wäre irgendwo im Wald eingeschlafen, aber als sie mittags noch nicht zurück war, haben wir uns Sorgen gemacht. Wir haben einen Suchtrupp ausgeschickt, und der hat sie an einem Fluss gefunden. Sie war in ihrer Pumagestalt und...  ausgesprochen tot.«

»Was bedeutet, dass sie vor Sonnenaufgang getötet wurde.«

»Ja.« Er beugte sich vor, und seine Stimme brach. »Ihr war das Blut ausgesaugt worden, und...  alles war weg – innen, meine ich. Der ganze Leichnam war staubtrocken. Aber es sah aus, als wäre ihr das Herz herausgerissen worden. Wir haben es nie gefunden.«

Ich verzog das Gesicht. Was konnte man zu so einer Geschichte sagen? Tut mir leid reichte irgendwie nicht ganz. Ich entschied mich für eine weitere Frage. »Habt ihr irgendeine Ahnung, wer sie getötet haben könnte? Und wie habt ihr den Behörden ihr Verschwinden erklärt?«

Zachary zuckte mit den Schultern. »Keinen blassen Schimmer. Keines der Opfer hatte irgendwelche Feinde. Alle waren in unserer Gemeinschaft recht beliebt. Was die Polizei angeht – einige Mitglieder unseres Rudels leben immer noch außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Sie bleiben im Revier, während andere – wie ich – Ausweise und Sozialversicherungsnummern haben, sich einen Job suchen und Steuern bezahlen. Wir finanzieren das Land und die nötigen Vorräte. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, nicht durchzugehen – als menschlich, meine ich –, leisten andere Dinge für die Gemeinschaft. Sheila hatte keine Geburtsurkunde, keine Sozialversicherungsnummer. Sie ist auf keinem Computer der Welt registriert, also wird sie auch niemand vermissen.« Er rieb sich die Schläfen. »Außer diejenigen von uns, die sie geliebt haben.«

Ich machte mir ein paar Notizen. Diese Sache war viel ernster als alles, womit ich es bisher zu tun bekommen hatte. Und es war das erste Mal, dass ein Übernatürlicher der Erdwelt mich um Hilfe bat. »Bitte nenn mir noch die Namen der anderen Opfer.«

»Also, von Sheila habe ich dir gerade erzählt. Ihre Eltern sind vor Jahren aus den Bergen heruntergekommen und haben sich unserem Clan angeschlossen. Beide leben noch. Dann waren da Darrin und Anna Jackson, frisch verheiratet. Sie sind auf einer Camping-Tour verschwunden.«

»Camping? Um diese Jahreszeit?«, fragte ich und schaute aus dem Fenster, das zur Hintergasse hinausging. Die Wolken schimmerten silbrig, und die Temperatur lag um die null Grad.

»Werpumas sind stark und zäh. Wir sind das Rainier-Rudel.« In seiner Stimme lag eine stolze Selbstachtung, die beinahe so klang, als sollte ich geradesitzen und salutieren.

»Wir sind kaltes Wetter gewohnt«, fuhr er fort. »Es macht uns also überhaupt nichts aus, zu dieser Jahreszeit zu campen. Jedenfalls haben wir ihre Leichen ganz in der Nähe der Stelle gefunden, wo auch Sheilas Leichnam lag – in der Nähe einer Arrastra, die zu einer alten Mine am Pinnacle Rock gehört.«

»Was ist eine Arrastra?« Das Wort hatte ich noch nie gehört.

»Die Goldgräber haben Mühlen benutzt, normalerweise von einem Fluss oder Bach angetrieben, um das Erz zu zerkleinern und dann das Gold herauszuwaschen. Du wirst es selbst sehen, wenn du zu uns herauskommst.« Zachary sah selbst fast wie ein Goldgräber aus; wettergegerbt genug war er jedenfalls. Wieder ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken vom aktuellen Problem zu den Muskeln unter seiner Jacke abschweiften. Wie kräftig war er wohl genau?

Hastig zügelte ich meine Gedanken – sie galoppierten in eine Richtung davon, auf die ich nicht ganz vorbereitet war – und fragte: »Wurden alle Leichen in der Nähe dieses Bachs gefunden?«

Er nickte. »Der Bach fließt den Hügel hinab. Und Todd Veshkam ist verschwunden, als er im Wald Totholz als Zunder sammeln wollte. Auch ihn haben wir in der Nähe der Arrastra gefunden. Die Leichen waren alle in dem gleichen Zustand: staubtrocken, und das Herz fehlte.«

»Sheila, Darrin, Anna, Todd...  vorhin hast du gesagt, es wären fünf Opfer?« Ich zögerte, den Stift einsatzbereit über dem Notizblock.

Er schloss die Augen. »Ja. Das letzte Opfer war Hattie...  Hattie Lyonnesse.«

Als er das sagte, hörte ich brodelnde Wut in seiner Stimme. Ich riss den Kopf hoch und begegnete seinem Blick. Seine Augen glitzerten wild und gefährlich. »Lyonnesse? Ist das nicht dein Nachname?«

Zachary nickte. »Hattie war meine Schwester. Und ich will, dass du den Dreckskerl findest, der sie ermordet hat, damit ich seinem erbärmlichen Leben ein Ende setzen kann.«