Kapitel 15

 

Als ich aufwachte, sah die Welt viel größer aus. Ich blinzelte und versuchte mich zurechtzufinden.

Dann merkte ich, dass ich auf meinem Kopfkissen zusammengerollt neben Chase lag, der mich mit zärtlichem Lächeln anstarrte. Er hob die Hand, kraulte mich sanft hinter den Ohren und streichelte mir den Rücken. Das fühlte sich so gut an, dass ich nicht einverstanden war, als er aufhören wollte, sondern mit dem Kopf seine Hand anstupste, damit er mir noch mal die Ohren kraulte. Als ich zufrieden war, marschierte ich leichtfüßig zum Ende des Bettes und sprang herunter. Sobald ich auf dem Boden saß, schloss ich die Augen und befahl mir selbst, mich zu verwandeln, was wesentlich glatter ging, als wenn die Verwandlung unabsichtlich geschah.

Ich kam wieder zu mir, im Schlafanzug und so, wie es sich anfühlte, ziemlich zerzaust. Auf dem Boden kniend, blickte ich zu Chase auf. Er begann zu lachen.

»Ich glaube, daran habe ich mich schon fast gewöhnt«, sagte er, stieg aus dem Bett und reckte sich. »Nach den ersten paar Malen kommt es einem nicht mehr ganz so seltsam vor.«

Grinsend richtete ich mich auf und streckte mich gähnend. »Gut, denn daran wird sich vermutlich nichts ändern.« Etwa jedes zweite Mal, wenn ich die Nacht mit Chase verbrachte, wachte ich in Katzengestalt auf, neben ihm auf dem Kopfkissen zusammengerollt. Normalerweise bekam ich ausgiebige Streicheleinheiten, ehe ich mich zurückverwandelte, und ich glaube, die Katze in mir war so versessen auf diese Aufmerksamkeit, dass sie Chases Nähe ausnutzen wollte.

»Was hast du heute vor?«, fragte er. »Ich habe beschlossen, es mit deiner Idee zu versuchen. Mal sehen, ob ich wirklich vertuschen kann, was beim AND los ist. Wir brauchen so viel Zeit und Informationen wie möglich, und ohne den Rückhalt und die Möglichkeiten des Departments müssten wir uns von so einigem verabschieden.«

»Schön«, sagte ich und musterte ihn unauffällig. Chase hielt sich in Form, so viel war sicher. Sein Bauch war straff, ein Sixpack, um das ihn jeder Mann beneidet hätte, und der Anblick seines nackten Körpers ließ meine Gedanken in eine ganz andere Richtung abdriften. Ich sah auf den Wecker. Sechs Uhr früh. Noch reichlich Zeit. »Hör mal«, sagte ich und knöpfte langsam das Oberteil meines Schlafanzugs auf. »Wie wäre es, wenn wir den Tag mit ein bisschen sportlicher Betätigung beginnen?« Als ich aus meiner Pyjamahose stieg, begegnete Chase meinem Blick, und es gab nichts weiter zu sagen.

 

Bis wir geduscht und uns angezogen hatten und auf dem Weg nach unten waren, hatte Iris das Frühstück fertig. Camille half ihr, und Maggie saß in ihrem eigens angefertigten Hochstuhl und schlürfte Milch mit Sahne, Zucker, Zimt und Salbei aus einer Schüssel.

»Ich mache das«, sagte Chase, nahm Camille den Stapel Teller aus der Hand und begann, den Tisch zu decken.

»Danke«, sagte sie. »Weißt du, manchmal bist du wirklich ganz in Ordnung.«

»Das fasse ich als Kompliment auf. Setz dich doch ein bisschen mit deiner Schwester zusammen.« Er grinste sie an, doch in seinem Blick lag nichts mehr von der Lüsternheit, mit der er sie früher oft angestarrt hatte.

Camille setzte sich an den Tisch und deutete auf den Stuhl neben sich. »Menolly hat uns eine Nachricht hinterlassen«, sagte sie und hielt ein Blatt Papier hoch. »Sie hat ein bisschen nachgeforscht, und ich freue mich bekanntzugeben, dass sowohl der Wayfarer als auch der Indigo Crescent voll bezahlt sind. Wir brauchen uns keine Sorgen um irgendwelche Hypotheken zu machen. Wir bezahlen nur die Grundsteuern und machen so weiter wie bisher. Beide Gebäude laufen auf unsere Namen, da wir ja als angebliche Eigentümer eingetragen wurden, also dürfte es keinerlei Probleme geben. Mit ein bisschen Glück wird der AND – oder was davon übrig ist – uns schlicht vergessen.«

»Na, endlich mal eine gute Nachricht«, sagte ich und nahm einen Teller voll Pfannkuchen, Rührei und Speck von Chase entgegen. »Wo ist Trillian?« Keiner von Camilles Liebhabern war irgendwo zu sehen.

»Er ist heute früh in die Anderwelt aufgebrochen. Tanaquar hetzt ihn so herum, dass er schon völlig fertig ist, und er wollte Vater von unseren Plänen berichten. Morio ist in die Stadt gefahren. Er hat gesagt, er wolle irgendetwas nachprüfen.« Sie gab Maggie ein Quietschespielzeug, und die Kleine schlug es begeistert gegen ihr Hochstühlchen und veranstaltete einen Höllenlärm.

Iris schaltete den Herd aus und setzte sich an den Tisch. »Ich glaube, es wird Zeit, dass sie neben der Gargoyle-Milch auch feste Nahrung bekommt«, sagte sie und fiel über ihren Teller her. Für eine so kleine Person konnte Iris mächtig viel essen, aber das traf auf die meisten Feen zu. Wir alle fraßen wie die Schweine, jedenfalls im Vergleich zu den meisten Menschen. »Ich schlage vor, wir geben ihr ein paar Esslöffel Hackfleisch, einmal pro Tag vorerst. Nach einem Monat können wir ihr dann schon zwei feste Mahlzeiten pro Tag geben.«

»Hört sich gut an. Was für Fleisch fressen Gargoyles denn?«, fragte Camille.

»Was für Fleisch hast du denn da?« Iris lächelte. »Das hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie dann, glitt von ihrem Barhocker und ging zu dem Regal, das den Zugang zu Menollys Unterschlupf verbarg. »Wartet nur, bis ihr das seht. Menolly hat mich gebeten, es mitzubringen, als ich zuletzt in der Anderwelt war. Offenbar hat sie ein bisschen nachgeforscht und festgestellt, dass dies das beste zum Thema ist.« Sie hielt ein schmales, in Leder gebundenes Buch hoch. »Aufzucht, Pflege und Ernährung der Waldgargoyle. Ist das nicht großartig?«

»Woher wissen wir, dass Maggie ein Waldgargoyle ist?«, fragte ich. »Genaugenommen ist sie ein Gargoyle aus den U-Reichen, wenn man danach geht, wo sie geboren wurde.«

Iris schüttelte den Kopf und blätterte in dem Buch herum. »Hier drin steht, dass nur Waldgargoyles eine Schildpattzeichnung haben. Diese Färbung dient ihnen als Schutz, da sie in den Wäldern nicht so leicht zu sehen sind.«

Chase räusperte sich. »Also eine Tarnung.«

»Genau«, sagte sie. »Jedenfalls stammen die häufiger vorkommenden schwarzen oder grauen Unterarten aus den Bergen und die bräunlichen und roten aus der Wüste. Natürlich können sie sich untereinander paaren, aber die Kinder erben meist die Färbung der Mutter. Die Vorfahren unserer kleinen Maggie lebten also in den Wäldern.«

»Gibt es in dem Buch so etwas wie eine Zeittafel darüber, wie sie sich entwickeln sollte?« Ich lächelte zärtlich. Nur Menolly war auf die Idee gekommen, ein Buch über die Pflege von Gargoyles aufzuspüren, was mir viel darüber verriet, wie sehr sie Maggie ins Herz geschlossen hatte.

Iris blätterte weiter. »Na ja, sie läuft noch nicht, aber das muss nicht viel bedeuten. Dieses Babystadium kann bis zu fünf Erdenjahren dauern, ehe sie die ersten Schritte tut. Allerdings wissen wir nicht, wie alt sie ist. Sie hat noch nichts gesagt, außer ihrem Muuf, aber das kann man schlecht einschätzen, weil wir nicht wissen, wie alt sie war, als ihr sie mit nach Hause gebracht habt, und wie lange sie Muttermilch bekommen hatte.«

Gargoyle-Milch ähnelte von der Zusammensetzung her der Mischung aus Sahne, Salbei, Zucker und Zimt, die wir ihr zu trinken gaben – deshalb wurde diese Mixtur für verwaiste Gargoyles empfohlen.

»Wir werden es wohl abwarten müssen.« Ich wandte mich Chase zu. »Erzähl ihnen doch von unserem Plan mit dem Erdwelt-AND.«

Chase brummte, erklärte ihnen aber den Plan, den wir uns ausgedacht hatten, während ich schon mal eine Liste aufstellte, was alles zu tun war. Vor allem musste ich mich mit Zach in Verbindung setzen und ihn fragen, was er über Tyler und – hoffentlich – das zweite Geistsiegel herausgefunden hatte.

Ich warf Chase einen Blick zu. »Sagtest du nicht, dass wir einen Computerexperten brauchen?«

Er nickte. »Und hast du nicht erwähnt, dass du da jemanden wüsstest? Ich finde, es sollte ein Mensch sein oder zumindest ein Erdwelt-ÜW.«

»Ich kenne tatsächlich jemanden«, sagte ich und lächelte Camille an. »Was hältst du davon, wenn wir Cleo mit an Bord holen? Ich weiß, dass er ein paar Dollar extra immer gut gebrauchen kann, und wir könnten es uns leisten, ihm wenigstens ein bisschen was zu zahlen. Oder wir vereinbaren, dass er im Wayfarer umsonst essen und trinken darf.«

Camille lachte, satt und tief. »Oh, das ist gut. Ich glaube, Cleo wäre genau der Richtige. Immerhin studiert er Informatik, und er liebt jede Art von Nervenkitzel.«

»Wer ist Cleo?«, fragte Chase.

»Cleo Blanco...  na ja, eigentlich heißt er Tim Winthrop – er benutzt beide Namen. Cleo ist sein Künstlername. Abends ist er Frauenimitator und tagsüber ein ernsthafter InformatikStudent. Er ist mit unserem Automechaniker verlobt, Jason Binds.«

»Ist er vertrauenswürdig?« Chase fischte sich ein Stück Speck von der Platte und vertilgte seinen letzten Pfannkuchen.

»Ich glaube schon«, sagte Camille.

»Aber natürlich ist er das«, mischte Iris sich ein. »Ich habe mich in der Buchhandlung ein paarmal mit ihm unterhalten. Er ist ein guter Mann, und er ist seinem kleinen Mädchen ein wunderbarer Vater. Sogar seine Exfrau habe ich kennengelernt. Ich glaube, da warst du gerade einkaufen oder so«, sagte sie zu Camille. »Er hat sie mit hereingebracht und sie mir vorgestellt. Sie ist eine reizende Frau, allerdings sieht man deutlich, dass körperlich zwischen den beiden rein gar nichts ist. Aber sie waren höflich zueinander, und ich glaube, sie haben sich wirklich gern. Und ich meine mich zu erinnern, dass sie einen Diamantring am Finger hatte, also ist sie entweder verlobt oder hat wieder geheiratet.«

Ich sah Iris voller Bewunderung an. »Gute Beobachtungsgabe, Iris.« Ich machte mir eine Notiz, Cleo darauf anzusprechen.

»Hört sich doch gut an«, sagte Chase. »Ich gehe jetzt besser nach Hause und mache mich fürs Büro fertig, damit ich diese Charade ins Rollen bringen kann. Da unsere AND-Sanitäter sämtlich Elfen sind, werden wir in diesem Punkt wohl keine Probleme haben.« Er stand vom Tisch auf und schloss mich in die Arme. »Pass gut auf dich auf, Süße. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht.«

Ich sah ihm in die Augen. Er machte sich wirklich etwas aus mir, das war nicht zu übersehen. Vielleicht hatte ich ihn unterschätzt. Ich beugte mich vor und küsste ihn kurz auf den Mund, dann strich ich ihm das Haar aus den Augen. »Nur wenn du versprichst, auch gut auf dich aufzupassen.«

Er lachte und gab mir einen feuchten Kuss auf die Nase. »Ruf mich später an, Schätzchen, und lass mich wissen, was läuft. Ich fange gleich an, die Umgebung von Snoqualmie zu recherchieren – vielleicht finde ich ja diese Goldenrod Road.«

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, erzählte ich Camille und Iris von meinem Traum. »Ich bin nicht sicher, was das alles zu bedeuten hat«, sagte ich. »Ich weiß, dass ich im Astralraum unterwegs war, aber nicht in meiner normalen Tiergestalt. Immerhin haben wir jetzt eine Spur zum JägermondClan, und ich wette, ehe der Tag um ist, hat Chase die Straße gefunden, die wir suchen.«

Camille räumte den Tisch ab. »Also, ich muss zugeben, ich hätte nie gedacht, dass Chase sich als so tüchtig erweisen würde.«

Ein Klopfen an der Haustür unterbrach sie. Ich stand auf, um die Tür zu öffnen, während Camille und Iris die Küche aufräumten. Als ich die Tür öffnete, traf mich ein Schwall eiskalter Winterluft. Die Welt war über Nacht vollkommen weiß geworden.

Zach stand vor mir, mit Schneeflocken im Haar. Sein Atem bildete weiße Wölkchen, und er wirkte verzweifelt, wie er da bibbernd vor mir stand, die Hände gegen die Kälte in den Jackentaschen vergraben. »Gott sei Dank, dass du da bist«, sagte er, als ich ihn hereinließ. »Ich hatte gehofft, dass ich nicht in die Stadt muss, um dich zu finden.« Seine Kleidung war schmuddelig, und er sah aus, als hätte er die Nacht durchgemacht.

»Was ist passiert?« Ich führte ihn in die Küche, wo Iris einen einzigen Blick auf ihn warf und sofort Teewasser aufsetzte.

»Wir haben ein gewaltiges Problem im Revier.« Er sank auf einen Stuhl und stützte, offensichtlich erschöpft, die Ellbogen auf den Tisch. »Wir brauchen euch. Die Ratsältesten schicken mich, um euch um Hilfe zu bitten. Sie werden euch so viel bezahlen, wie wir nur aufbringen können.«

»Was ist denn los?« Camille und ich setzten uns wieder. Das hörte sich gar nicht gut an, und mir sträubten sich schon die Haare im Nacken. »Erzähl es uns, von Anfang an.«

»Ich habe bei dem Clan angerufen, von dem Tyler angeblich kommt. Dort haben sie mir gesagt, das Tyler vor vier Monaten gestorben ist.« Zach beugte sich mit blutunterlaufenen Augen vor. »Sein Leichnam wurde kurz vor der Beerdigung geraubt und nie gefunden. Er hatte tatsächlich vor, zu uns umzusiedeln, und es stimmt, dass sie ihm ein Empfehlungsschreiben ausgestellt haben, aber nach seinem Tod hat sich niemand die Mühe gemacht, danach zu suchen.«

»Und niemand hat euch angerufen und euch darüber informiert, dass er nicht kommen würde?« Der AND mochte bürokratisch sein, aber im Augenblick sah ich doch ein, dass Vorschriften auch ihr Gutes hatten.

»Wir wussten gar nicht, dass er kommen wollte. Normalerweise reicht ein Empfehlungsschreiben, um jemanden in den Clan aufzunehmen. Wir sind da nicht so formell. Als Tyler mit diesem Brief bei uns aufgetaucht ist, haben wir einfach angenommen, dass alles seine Ordnung hat. Wir haben uns nicht die Mühe gemacht, dort anzurufen, denn er hatte ja den Brief in der Hand.«

»Öffnet das Betrügern nicht Tür und Tor?«, fragte Camille kopfschüttelnd. »Warum seid ihr nicht schon längst darauf gekommen, dass so etwas passieren könnte?«

»Anscheinend war das noch nie ein Problem. Bis jetzt.« Zach runzelte die Stirn. »Ich denke, unser Aufnahmeverfahren wird sich in Zukunft ändern.«

»Du meine Güte«, sagte Iris. »Soll das heißen, Tyler ist ein Zombie?«

»Eine Kuckucksseele. Es kann nicht anders sein«, entgegnete ich. »Aber Kyoka hat Tylers Seele nicht nur beiseitegeschubst, er hat Tyler getötet, um an dessen Körper zu kommen. Konnten sie dir denn sagen, wie er gestorben ist?«

»Es gab keine Autopsie – Werwesen halten nun mal nicht viel von so etwas. Es verstößt gegen unsere religiösen Überzeugungen. Er hatte wohl eine schwere Bronchitis, und als sie ihn tot aufgefunden haben, sind sie davon ausgegangen, dass er im Schlaf aufgehört hatte zu atmen.«

»Ich wette zehn zu eins, dass Kyoka seine Seele mit Gewalt ausgetrieben hat«, sagte ich. »Ich würde davon ausgehen, dass er Tylers Essenz ins Nichts geschleudert hat, so dass nur der Körper als leere Hülle zurückgeblieben ist. Wenn das passiert, hört das Herz auf zu schlagen, aber der Körper sieht so aus, als schlafe derjenige nur. Da Tyler krank war und Werwesen keine Autopsien wollen, muss das die perfekte Gelegenheit für Kyoka gewesen sein.«

»Eigentlich«, warf Camille ein, »könnte man Tyler rein technisch gesehen als Zombie betrachten, aber da ja eine Seele darin wohnt, nämlich Kyokas, ist mir klar, dass Menolly ihn nicht als Untoten erkennen konnte.«

»Untote haben also keine Seelen?«, fragte Zach.

»Manche schon«, sagte ich. »Vampire zum Beispiel. Wenn ihr Körper zerstört wird, sind sie frei, weiterzuziehen, wie die meisten anderen Toten auch. Zombies aber nicht, und Ghule auch nicht. Sie werden nicht verwandelt, sondern nur als Marionetten missbraucht. Tylers Seele ist jetzt bei seinen Ahnen. Er hat keine Verbindung mehr zu seinem Körper. Das erklärt einiges«, sagte ich und warf Zachary einen Blick zu, als mir auffiel, dass er sich auf seinem Platz wand. »Zach, sag bloß nicht, Tyler weiß, dass du ihm auf die Schliche gekommen bist?«

Er ließ den Kopf hängen. »Doch. Er kam zufällig herein, als ich mit dem anderen Clan telefoniert habe, und er war zur Tür hinaus, ehe ich ihn aufhalten konnte. Bis ich das Gespräch beendet hatte, war Tyler verschwunden. Ich konnte ihn nirgends finden, also habe ich eine Notversammlung des Rats einberufen, aber Venus ist nicht gekommen. Als wir nach ihm sehen wollten, war sein Haus total verwüstet. Es muss einen grauenhaften Kampf gegeben haben. Wir haben die ganze Nacht lang das gesamte Revier nach ihm abgesucht, aber weder von Venus noch von Tyler die geringste Spur finden können.«

»Große Mutter, du glaubst, sie haben Venus Mondkind?« Das wurde ja immer schlimmer.

Er nickte. »Wir haben keine Leiche gefunden, und Tyler weiß genau, wie mächtig Venus ist.«

»Wenn irgendjemand in eurem Stamm etwas über die Geistsiegel weiß, dann Venus«, sagte ich und erschauerte, als ob jemand über mein Grab lief.

Der Jägermond-Clan und die Dämonen würden alles tun, um ihn zum Sprechen zu bringen. Die Spinnlinge waren allein schon übel genug, aber zusammen mit Schattenschwinges Dienern standen ihnen so vielfältige Mittel und Wege der Folter offen, dass man gar nicht daran denken durfte. Wenn wir es nicht schafften, ihn zu retten – und zwar bald –, war Venus verloren, und sein Tod würde entsetzlich schmerzhaft sein.

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht.« Zach lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und atmete tief durch, als Iris ihm eine Tasse Tee brachte. »Vielen Dank, Iris«, sagte er. »Ich habe dem Rat alles gesagt – nicht, dass Schattenschwinge die Erde erobern will, aber ansonsten alles, was mir einfiel, damit sie mir glauben, dass der Jägermond-Clan mit Dämonen im Bunde steht. Sie haben mich zu euch geschickt.«

»Was unternimmt das Puma-Rudel jetzt?«

»Die Ältesten evakuieren alle Frauen und Kinder. Und wir haben ganz offiziell das Olympic-Wolfsrudel um Hilfe gebeten. Sie schicken uns morgen zwanzig junge Männer, die uns helfen werden, die Grenzen der Siedlung zu bewachen.« Zachs Schultern sanken herab. »Wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen. Der Rat würde für immer in eurer Schuld stehen, wenn ihr uns helfen könntet.«

Wir würden Menolly brauchen. Und Chase. Und auch sonst jeden, der uns einfiel. Allein gegen Bad Ass Luke anzutreten war eine Sache, aber gegen ein ganzes Nest voll Werspinnen plus Kyoka und die Dämonen hatten wir keine Chance, wenn uns nicht jemand half.

Camille musste dasselbe gedacht haben, denn sie sagte: »Wen können wir um Hilfe bitten? Da wäre erst mal Morio. Verdammt, wenn nur Trillian hier wäre – er ist ein guter Kämpfer. Smoky natürlich. Fällt dir sonst noch jemand ein?«

»Chase darfst du nicht vergessen«, sagte ich. »Meinst du, dass Großmutter Kojote uns helfen würde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Sie neigt eher dazu, sich herauszuhalten, außer irgendetwas reizt sie persönlich. Sicher weiß sie schon, was hier vorgeht. Vielleicht kennt Menolly noch jemanden aus dem Wayfarer, dem wir vertrauen können.«

Zachary räusperte sich. »Ich kann euch die Unterstützung eines Rudelmitglieds anbieten. Sie ist unsere furchtloseste Wächterin.« Sein linkes Auge zuckte. »Ihr Name ist Rhonda.«

»Rhonda?«, fragte ich. »Ist sie auch ein Werpuma?«

Er nickte. »Meine Ex-Verlobte, um genau zu sein. Wir haben uns letztes Jahr getrennt.«

Das erwischte mich eiskalt. Ich war so mit der gegenwärtigen Lage beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal auf die Idee gekommen war, mich zu fragen, ob er eine Freundin hatte. Ich ertappte mich dabei, wie ich den gefährlichen Weg einschlug, mich zu fragen, wie sie wohl aussah, hielt mich aber noch vor dem Gartentor zur Eifersucht zurück. Wir steckten in einer Krise, die endgültig zu eskalieren drohte, und ich musste mich wirklich auf dringendere Probleme konzentrieren.

»Schön«, sagte Camille rasch. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.« Sie warf mir einen Blick zu, der mir sagte, dass sie meine Gedanken erraten hatte. »Das war’s dann wohl«, sagte sie niedergeschlagen und zählte unsere Truppe an den Fingern ab.

»Was jetzt?« Ich streckte mich unruhig. Wenn ich nervös war, musste ich mich immer bewegen. »Wir können nicht aufbrechen, ehe Menolly aufwacht und die restliche Truppe hier ist. Und was wird mit der Buchhandlung?«

»Iris, würde es dir etwas ausmachen, heute den Laden zu übernehmen?« Camille stand auf.

»Kein Problem. Ich muss mich nur schnell umziehen und Maggie fertig machen, damit ich sie mitnehmen kann.« Iris eilte hinaus.

»Was willst du bis Sonnenuntergang unternehmen?«, fragte ich Camille.

Sie seufzte tief. »Ich sollte wohl zu Smoky rausfahren und ihn bitten, uns beizustehen.«

»Lasst euch nur nicht ablenken«, sagte ich und lächelte sie an. Sie wurde blass, und ich erkannte, dass sie vielleicht, nur vielleicht, doch nicht so ungerührt war, was ihre bevorstehenden Pflichten als Gespielin eines Drachen anging. »Zach, würdest du im Wohnzimmer auf uns warten? Ich möchte kurz mit Camille allein sprechen.«

»Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich mich auf eurem Sofa aufs Ohr lege?«, fragte er. »Ich bin fertig.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur zu«, sagte ich, und er ging und nahm seinen Tee mit. »Über der Sessellehne hängt eine Wolldecke, nimm sie ruhig.«

Als er hinausgetrottet war, wandte ich mich wieder Camille zu. »Bist du sicher, dass du das wirklich durchziehen willst? Mit Smoky, meine ich?«

Sie schnaubte. »Glaubst du denn, ich käme da wieder raus, selbst wenn ich wollte? Er sieht umwerfend aus, und die Funken stieben, wenn wir uns begegnen, aber...  «

»Aber er ist ein Drache«, sagte ich leise.

»Das ist das große Problem«, sagte sie. »Ich hoffe nur, dass das andere nicht noch viel größer ist. Ich meine, ich kann nur noch an eines denken: Wie groß wird er sein, und wird es sehr weh tun?« Sie starrte aus dem Fenster in den Garten. »Meinst du, wir sollten ein paar Vogelhäuschen aufstellen? Bei dem Schnee sind die Vögel doch sicher hungrig.«

Ich trat zu ihr, und wir betrachteten die rasch anwachsende Schneedecke in unserem Garten. »Äh, Futterhäuschen könnten mich auf ziemlich dumme Gedanken bringen, Camille. Überleg doch mal.«

Mit einem plötzlichen Lächeln, das die ganze Küche erhellte, begann sie zu lachen. »Ach, Kätzchen, das liebe ich so an dir; du schaffst es immer, mich zum Lachen zu bringen. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich packe das schon...  Smoky wird sicher vorsichtig sein. Was ist eigentlich mit dir?«

»Keine Ahnung. Ich bin mir über meine Gefühle für Zach immer noch nicht im Klaren, ich weiß nur, dass er mich zum Glühen bringt. Aber ich bin nicht sicher...  «

»Was ist mit Chase?«

»Wir haben darüber geredet. Wir haben uns gestritten. Wir sind uns einig geworden, dass wir vorerst keine exklusive Beziehung führen. Aber ich weiß nicht, was er tun wird, falls ich am Ende doch mit Zach schlafe.« Ich spielte mit den Blättern der Grünlilie, die auf dem Fensterbrett stand. »Das ist jetzt alles nicht wichtig. Wir müssen uns auf das Problem mit den Dämonen und Kyoka konzentrieren, bevor die Sache völlig aus dem Ruder läuft. Wann sollte Trillian eigentlich zurück sein? Ich hätte ihn wirklich gern dabei, wenn wir nach Snoqualmie fahren.«

Camille wollte gerade antworten, als ich aus den Augenwinkeln eine plötzliche Bewegung wahrnahm. Ich blickte auf und sah eine braune Spinne über uns am oberen Fensterrahmen, beinahe verborgen hinter einem der Mariengras-Bündel, die Camille neben der Spüle aufgehängt hatte. Ich stupste Camille mit dem Ellbogen an und zeigte auf den Achtbeiner.

War das eine Feldwinkelspinne? Ein Spion? Oder nur eine gewöhnliche braune Hausspinne? In diesem Augenblick betrat Iris die Küche.

»Maggie ist in meinem Zimmer. Ihr solltet mal sehen, wie sie mit ihrem –«, begann sie, verstummte aber abrupt, als ich den Zeigefinger an die Lippen legte. Ich zeigte auf die Spinne.

Sie zog ihren Barhocker vom Tisch herbei und kletterte darauf, so dass ihr Kopf ein paar Handbreit über meinen hinausragte. Als sie sich vorbeugte, krabbelte die Spinne hastig nach links auf den Hängeschrank zu. Iris erschrak, verlor das Gleichgewicht und kippte rückwärts vom Hocker. Ich sprang hinzu, um sie aufzufangen, aber ich kam zu spät. Mit einem lauten Krach schlug sie auf dem Boden auf.

»Iris, Iris, hast du dir was getan?« Camille kniete sich neben sie, während ich die Spinne im Auge behielt.

Iris schob Camille beiseite, setzte sich auf, streckte die Hand aus und schrie: »Piilevä otus, tulee esiin!« Ein greller Lichtblitz zuckte auf, die Spinne verschwamm ein wenig und wurde dann von der Wucht des Zaubers von der Wand auf den Boden geschleudert. Binnen Sekunden begann die Luft um sie herum zu zittern.

Dieses Schimmern erkannte ich! Die Spinne wollte sich verwandeln.

»Große Mutter, das Ding ist ein Werwesen!« Ich hatte gedacht, das sei vielleicht nur wieder einer ihrer Wächter, wie die Spinnen in Camilles Kofferraum. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das ein echtes Mitglied des Jägermond-Clans sein könnte. Ich wirbelte herum und schnappte mir die nächste Waffe, die ich finden konnte, zufällig eines der Küchenbeile.

Camille reckte die Arme in die Luft, und ich spürte den Fluss der Energie, als sie die Macht der Mondmutter anrief. Ich sprang vor, doch schon verschwand die Spinne, und an ihrer Stelle erschien ein Mann. Er rappelte sich auf, zu geschickt für meinen Geschmack. Er musste blitzschnelle Reflexe haben, wenn er sich so kurz nach der Gestaltwandlung derart schnell bewegen konnte – vor allem nach einer erzwungenen Wandlung.

Er war groß und dünn, ja sogar knochig. Er trug eine Jeans, einen schwarzen Kittel und Mokassinstiefel, die mit Lederbändern um die Waden geschnürt wurden und die man vor allem bei gewissen Naturschützern sah. Als ich vortrat, duckte er sich kampfbereit, und ich wünschte, ich hätte mein langes Messer bei mir. Das Küchenbeil war unhandlich und definitiv nicht zum Kämpfen ausbalanciert.

»Gib auf«, sagte ich. »Du hast keine Chance. Ergib dich auf der Stelle, dann lassen wir dich am Leben.« Das war natürlich gelogen. Ich wusste ganz genau, dass wir es nicht wagen konnten, ihn gehen zu lassen. Camille hatte es endlich geschafft, mir klarzumachen, dass wir uns in einem Krieg um alles oder nichts befanden, und er stand auf der feindlichen Seite.

»Klar doch«, sagte er mit tiefer, rauher Stimme. »Träum weiter, Blondchen.« Mit einer einzigen Bewegung, so schnell, dass ich ihr kaum folgen konnte, riss er etwas aus seinem Stiefel. Iris war wieder auf den Beinen und trat hinter mich. Ich hörte, wie sie irgendeinen Spruch murmelte, hielt den Blick aber fest auf unseren Gegner gerichtet.

In diesem Moment brüllte Camille: »Greif an und zerstöre!«, und ein Energiestrahl schoss an meiner Schulter vorbei und traf den Mann am Bein. Heilige Scheiße, sie warf mitten im Haus mit Blitzen um sich!

»Was zum Teufel tust du da? Du sprengst noch das Haus in die Luft!«, schrie ich, verstummte aber dann, als ich entsetzt feststellte, dass der Blitz ihm nicht das Geringste anzuhaben schien. Er schüttelte ihn einfach ab.

»Was zum –«, stammelte Camille verwirrt.

Der Mann lachte bellend und hob die Hand zum Mund. Einen Sekundenbruchteil später sah ich eher, als dass ich es hörte, wie etwas an mir vorbeizischte – direkt auf Camille zu. Im selben Augenblick brach Iris ihre Konzentration, warf sich gegen Camilles Beine und brachte sie zu Fall. Ein satter, dumpfer Knall hallte durch die Küche, als ein Pfeil sich in die Wand bohrte statt in meine Schwester. Ein Mini-Blasrohr! Scheiße.

»Niemand legt sich mit den D’Artigo-Mädels an und kommt ungeschoren davon!«, schrie ich und stürzte mich auf ihn, aber seitlich, so dass er nicht direkt auf mich schießen konnte. Er wandte sich zu mir um, lautlos in seinen Wildleder-Stiefeln, und ich sah ein freudiges Glimmen in seinen Augen.

»Komm schon, Blondchen, komm und hol mich doch«, flüsterte er und winkte mich zu sich heran, während er gleichzeitig wieder das Blasrohr hob.

Ich hatte keine Zeit, mir etwas zu überlegen, und rammte ihn einfach. Er sah mein Manöver voraus und war bereit; er ließ das Blasrohr fallen und packte mich, als ich gegen ihn prallte. Dann rollte er sich mit mir herum, so dass er auf mir zu liegen kam, und hielt mich an den Handgelenken fest. Er war abartig stark für einen so knochigen Kerl.

»He, das macht Spaß«, sagte er und grinste mich an, und ich konnte sehen, dass er Fangzähne hatte, die neben den beiden oberen Schneidezähnen vorstanden. Sie waren nicht so groß wie meine oder Menollys, aber sie sahen so aus, als könnten sie viel zu viel Schaden und Schmerz verursachen. Er riss eines meiner Handgelenke hoch, zu seinem Mund. Verflucht! Der widerliche Dreckskerl würde mich beißen, und da ich unter ihm lag, konnte ich ein paar helle Tropfen an den Spitzen beider Fangzähne sehen. Gift. Natürlich; Feldwinkelspinnen waren giftig, und als Werwesen war sein Biss auch in Menschengestalt gefährlich.

»Das wirst du nicht tun!«, brüllte ich und zog ruckartig die Knie an. Damit hatte er nicht gerechnet, und ich traf ihn voll in die Eier. Er kreischte, ich stieß ihn von mir, und wir wirbelten herum. Diesmal landete ich oben. Ich rammte ihm noch einmal mit aller Kraft das Knie zwischen die Beine, und der Kampf war entschieden. Während er sich kreischend am Boden wand, zog Iris ihm seelenruhig eine Bratpfanne aus rostfreiem Edelstahl über den Schädel. Hart. Sehr hart. Ich sah sie erschrocken an. Ich wusste, dass sie gut kämpfen konnte, aber mir war nicht klar gewesen, wie stark sie wirklich war.

»Das muss weh getan haben«, krächzte ich und räusperte mich dann. »Du hast eine üble rechte...  Bratpfanne.«

Iris strahlte. »Ach, man lernt, das zu benutzen, was gerade zur Hand ist. Ich habe schon mehr als ein Scharmützel mitgemacht. Damals in Finnland habe ich die Kinder der Familie beschützt. Ab und zu schleicht sich eben mal ein Schwarzer Mann ins Haus oder ein Gnom oder sonst irgendein Unhold, der Ärger machen will.« Sie seufzte sehnsüchtig. »Manchmal fehlen mir die alten Zeiten«, sagte sie. »Das waren gute Zeiten, wenn auch ein wenig hart, und ich hätte alles darum gegeben, die Familie weiterleben zu sehen, aber sie sind alle fort.«

Während sie der guten alten Zeit nachtrauerte, holte Camille ein Stück Seil, und wir fesselten den Kerl – Hände und Füße – an einen Stuhl. In Erinnerung an unseren Kampf mit Wisteria vor ein paar Monaten vergaßen wir auch nicht, ihn zu knebeln.

Camille durchwühlte seine Taschen und fand eine Brieftasche. »Nicht viel drin. Zehn Dollar...  Moment, da ist sein Ausweis. Horace van Spynne. Van Spynne...  hieß so nicht der Kerl, mit dem Zach sich vor ein paar Jahren geprügelt hat?«

»Der Nachname stimmt, ja«, sagte ich. »Geph van Spynne. Vermutlich sind die beiden verwandt. Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Sperren wir ihn erst mal in den Wandschrank.« Wir trugen ihn mitsamt dem Stuhl zum Wandschrank, stopften ihn hinein und verriegelten die Tür. Dieses kleine Kabuff entwickelte sich allmählich zum provisorischen Gefängnis. Wisteria hatte ebenfalls einige Zeit darin verbracht.

Stirnrunzelnd starrte Camille in den Garten. »Ich verstehe nicht, warum mein Energiestoß bei ihm überhaupt nicht gewirkt hat. Er ist einfach von ihm abgeprallt, als hätte er einen magischen Schild. Und wie zum Teufel ist er an meinen Bannen vorbeigekommen, ohne bei mir Alarm auszulösen? Ich bin sofort wieder da. Ich will nur nachsehen, ob sie noch da sind.«

Iris hob mit leisem Stöhnen die Bratpfanne auf. Sie war aus schwerem Edelstahl. Wir konnten unmöglich Gusseisen im Haus haben, deshalb verzichteten wir darauf, wo immer es möglich war. Die Bratpfanne war so groß, dass Iris darin hätte sitzen können. Unter diesem züchtigen Äußeren mussten sich mächtige Muskeln verbergen.

Ich lächelte sie an. »Ich bin so froh, dass du bei uns eingezogen bist. Aber bist du sicher, dass du immer noch hierbleiben willst? Manchmal wird es ganz schön brenzlig.«

»Wo sollte ich denn sonst hin?«, erwiderte sie. »Da der AND vorerst ausgeschaltet und meine Familie in Finnland längst ausgestorben ist, bin ich frei, zu tun, was mir passt. Und ich mag euch drei – ihr seid lustig, und ihr gebt mir das Gefühl, gebraucht zu werden.«

Ihre Worte riefen mir ins Gedächtnis, dass es überlebenswichtig für Hausgeister war, sich als vollwertige Mitglieder eines Haushalts fühlen zu können. Selbst heutzutage – wenn man freundlich zu ihnen war und sie wie ein Familienmitglied behandelte, würden sie einem treu ergeben sein bis zu dem Tag, an dem man starb.

»Glaub mir«, sagte ich. »Wir brauchen dich, sehr sogar. Und Maggie auch.«

»Das reicht mir.« Iris kicherte. »Was machen wir jetzt mit dem Achtbeiner?« Ihr Blick verfinsterte sich. »Delilah, du weißt, dass wir ihn nicht einfach gehen lassen können. Er würde auf der Stelle zum Jägermond-Clan laufen und ihnen alles erzählen. Wir dürfen ihnen nicht den Vorteil verschaffen, unsere Schwächen und Stärken zu kennen. Ich fürchte, uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen ihn eliminieren.«

Ja, sie war tüchtig, aber tödlich.

»Ich weiß. Der Gedanke, ihn umzubringen, gefällt mir nicht, aber ich gebe dir vollkommen recht. Sag mal, was glaubst du, warum Camilles Energiestoß bei ihm nicht gewirkt hat? Sie ist ziemlich gut darin geworden, bei diesem Zauber passieren ihr fast keine Unfälle mehr. Was war da los?«

Stirnrunzelnd spähte Iris durch den Türspalt in den Wandschrank. »Immer noch bewusstlos«, sagte sie und berührte ihn am Arm. Dann schloss sie die Tür wieder. »Er hat irgendeinen natürlichen Schutz gegen Mondmagie, glaube ich.«

Ich hielt seine Waffe hoch und den Pfeil, den er in die Wand geschossen hatte. »Dass er dieses Blasrohr dabeihatte, es aber nicht benutzt hat, bis wir ihn entdeckt haben, bedeutet wohl, dass er sich gerade erst hereingeschlichen hatte. Ansonsten wären wir alle tot, wenn dieses Gift so gefährlich ist, wie ich vermute.« In diesem Moment ging die Küchentür auf, und Camille trat ein, gefolgt von Morio. »Was habt ihr herausgefunden? Waren die Banne noch aktiv?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sie wurden ausgeschaltet. Und aus irgendeinem Grund habe ich das nicht bemerkt.«

»Ich kann dir sagen, warum«, mischte Morio sich ein. »Ich habe in der Stadt ein bisschen herumgefragt, mit ein paar Leuten geredet und einigen ziemlich Druck gemacht. Offenbar ist der Jägermond-Clan resistent gegen Mondmagie, dank ihres berüchtigten Schöpfers. Kyoka hat mit Mondkraft gearbeitet, als er die Werspinnen geschaffen hat, und das hat ihnen eine Art natürlicher Immunität verliehen, die sich über die Jahrhunderte weitervererbt haben muss. Das versetzt sie auch in die Lage, deine Banne zu manipulieren, weil du die Mondmutter anrufst, um sie aufzubauen.«

»Scheiße«, sagte Camille. »Das ist schlecht. Was zum Teufel soll ich denn jetzt machen? Ohne meine Blitze bin ich im Kampf nicht gerade eine Superheldin. Ich sollte wohl mein Kurzschwert wieder ausgraben und ein bisschen trainieren.«

»Sagt mal, findet ihr es nicht auch merkwürdig, dass Zach diesen ganzen Aufruhr völlig verschlafen hat?«, fragte ich, als mir plötzlich einfiel, dass er im Wohnzimmer war.

Iris wurde bleich. »Niemand hätte diesen Lärm verschlafen dürfen.«

»Genau das meine ich auch.« Ich raste ins Wohnzimmer, die anderen dicht auf den Fersen. Zach lag halb auf dem Sofa, halb war er heruntergerutscht, und er war ziemlich grün um die Nase. Ich eilte zu ihm und suchte schnell seinen Hals und seine Arme ab. Tatsächlich, da waren sie, schwer zu entdecken, aber nicht unsichtbar. Zwei Einstichlöcher an seinem Hals. Winzig, scharf umrissen und nur allzu real.

»Er ist gebissen worden! Meint ihr, es könnte mehr als nur ein Mitglied des Jägermond-Clans hier sein? Maggie!« Ich wollte zurück in die Küche, aber Camille war schon losgelaufen, dicht gefolgt von Iris. Ich hörte, wie die Tür zu Iris’ Kammer mit einem Knall aufgestoßen wurde. Während ich angestrengt danach lauschte, was da drüben vorging, tastete ich nach Zachs Puls.

»Ihr geht es gut«, sagte Camille und kehrte mit Maggie auf der Hüfte ins Wohnzimmer zurück. »Ihr scheint nichts zu fehlen. Und Menolly kann nicht getötet werden. Jedenfalls nicht durch Gift.«

»Nein, aber sie könnten ihr mit einem Pflock zu Leibe rücken.«

»O Scheiße. Ich bitte Iris, schnell nach ihr zu sehen. Wie steht es um Zach?«

Sein Puls war schwach und viel zu schnell, und ich vermutete, dass er einen Schock erlitten hatte. »Ich brauche eine Decke. Wirf mir mein Handy rüber, bitte. Chase und die Sanitäter müssen sofort hierherkommen. Sie sind die Einzigen, die einem Übernatürlichen helfen können.« Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass wir Kontakt zu mehr Ärzten aufnehmen mussten, die Übernatürliche behandeln konnten.

Während Camille sich auf die Suche nach Iris machte, rief ich Chase an und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Morio stellte sich hinter mich und legte eine kühle Hand auf meine Schulter. »Was machen wir jetzt?«, fragte ich. »Das ganze Haus ausräuchern?«

Er nickte. »Ja, aber da bräuchtet ihr schon eine verdammt große Dose Insektenspray.«

Während ich Zachs Hand umklammert hielt, betete ich darum, dass Chase rechtzeitig hier sein würde. Was wir vom Jägermond-Clan wohl als Nächstes zu erwarten hatten? Wer konnte wissen, was die sich mit Hilfe der Dämonen noch alles ausdenken würden, um uns das Leben zur Hölle zu machen? Oder uns gleich dorthin zu schicken.