Kapitel 6

 

Ich spähte ins Wohnzimmer, und mein Magen verknotete sich. Die Vorstellung, sich auf den Weg zu machen und einen der Elementarfürsten zu besuchen, jagte mir eine Scheißangst ein, und ich wusste jetzt schon, was Camille und Menolly zu dieser Idee sagen würden. Der Herbstkönig war an diese Welt gebunden, lebte aber ebenso in der Welt der Elementare. Er war ein Verwandter des Flammenfürsten, der eine große Stadt im Reich der Toten regierte – allerdings wusste ich nicht, wie genau diese Verwandtschaft aussah.

Aber wenn ich so darüber nachdachte, wollte ich doch lieber jemandem in die Arme stolpern, der an die Unterwelt gebunden war, als es mit den Bewohnern der Unterirdischen Reiche aufzunehmen. Die Unterwelt konnte zumindest ein sehr schöner, friedvoller Ort sein – kam ganz darauf an, wo man sich aufhielt. Die U-Reiche waren einfach nur abscheulich.

Iris kehrte gerade die Sauerei im Wohnzimmer auf. Oder vielmehr, der Besen kehrte, während sie seine Arbeit beaufsichtigte. Menolly hatte den Baum an der Decke befestigt, und alle drei überlegten gerade laut, mit was für Schmuck sie ihn nun dekorieren wollten.

»Was meinst du, was dich am wenigsten aus der Haut fahren lässt, Delilah?«, fragte Camille, die sich mir zugewandt hatte.

Ich blinzelte. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Aber ich freute mich nicht auf den unvermeidlichen Knall, wenn ich ihnen von Zacharys Anruf und meiner Idee erzählte, und überlegte mir lieber eine Antwort.

»Mich reizen vor allem baumelnde, glänzende Sachen. Wie wäre es mit diesen Satinkugeln? Die glitzern nicht so, und sie zerbrechen auch nicht – solange man nicht gerade drauftritt.«

Iris rief aus: »Das ist eine gute Idee! Ich glaube, Kunstharzfiguren wären auch gut. Natürlich könnte ich auch einfach eine Barriere errichten, die Tiere fernhält – das dürfte das Problem lösen.«

»So etwas kannst du?«, fragte ich.

Sie nickte. »Diesen Spruch hat meine Familie ursprünglich benutzt, um die Vorratskammer gegen die Haushunde und Katzen zu sichern, aber ich könnte ihn leicht anpassen, so dass er nur den Baum umgibt. Er würde dir auch nicht wehtun, das verspreche ich. Betrachte ihn als milde Abschreckung.«

»Und wenn ich nicht in Katzengestalt bin?«

»Ich bezweifle, dass er dann irgendeine Wirkung auf dich hätte«, sagte sie stirnrunzelnd. »Ich kann dir nichts versprechen, aber ich bin ziemlich sicher.«

Der Besen beendete seine Arbeit und fiel zu Boden, und die Kehrschaufel landete ordentlich daneben, nachdem sie eine letzte Ladung Scherben in den Mülleimer geleert hatte. Ich starrte auf die Überreste der hübschen Glasornamente und Kugeln und seufzte.

»Diesmal habe ich wirklich Mist gebaut, nicht? Iris, wie wäre es, wenn ihr die zarten Stücke ganz nach oben hängt und die Satinkugeln und Harzfiguren an die unteren Zweige? Und dann probierst du es mit deinem Zauber. Ich werde versuchen, mich zu beherrschen.« Ich wollte die Feiertage nicht verderben, und wenn ich an unsere Kindheit zurückdachte, dann hatte unsere Mutter die Sache immer so ähnlich geregelt.

Iris ließ sich erweichen. »Na schön. Aber sei brav, ja? Bitte? Ich stelle schon mal den Teekessel auf. Wir hatten genug Aufregung für einen Abend«, sagte sie, nahm den Mülleimer und eilte geschäftig hinaus.

Ich bedeutete Menolly und Camille, sich mit mir aufs Sofa zu setzen. »Ich wünschte, Iris hätte recht, aber mit der Aufregung ist es noch nicht vorbei.« Finster starrte ich den Baum an.

»Was ist denn los?« Camille stellte die Musik leiser – Tschaikowskis Nussknacker – und machte es sich zu meiner Linken gemütlich. Menolly kuschelte sich rechts neben mich, und wir hielten uns an den Händen wie früher, als wir noch klein gewesen waren.

Ich erzählte ihnen von Zacharys Anruf und meinem Besuch bei Siobhan. »Der Jägermond-Clan ist also ein Nest von unnatürlichen Werspinnen. Giftigen Werspinnen.«

Camille sah aus, als würge sie an ihrer Zunge. »Ich fürchte mich eigentlich nicht vor Spinnen, aber das ist nicht gerade Wilburs kleine Freundin Charlotte, oder? Spinnen denken nicht. Werspinnen haben die natürliche Tücke normaler Spinnen, gepaart mit Intelligenz. Und wenn sie eine widernatürliche Schöpfung sind, wer weiß, was sie sonst noch für Fähigkeiten besitzen? Igitt.« Sie schauderte.

»Wem sagst du das.« Ich wollte gerade meine Idee mit dem Herbstkönig zur Sprache bringen, als das Telefon klingelte. Ich schnappte mir den schnurlosen Apparat im Wohnzimmer. Es war Chase.

»He, Pussykätzchen, ich habe die Informationen, die du wolltest. Na ja, was ich eben ausgraben konnte.«

»Lass mich schnell einen Stift holen«, sagte ich.

»Wenn du willst, aber so viel habe ich nicht herausgefunden.«

»Ich stelle dich auf Freisprechen«, sagte ich und bedeutete Camille und Menolly, dass sie ruhig zuhören konnten. Ich drückte auf den Lautsprecher-Knopf und griff nach Notizbuch und Stift. »Kannst du mich hören? Du kannst loslegen.«

Chases Stimme klang über den Lautsprecher etwas blechern. »Okay, es geht los. Zachary Lyonnesse war ein Treffer. Er wurde vor zwei Jahren wegen einer Prügelei in einer Bar festgenommen. Er hat behauptet, der andere Kerl habe die Schlägerei angefangen, aber keiner von beiden hat Anzeige erstattet, also wurde die Sache fallengelassen und die beiden nur verwarnt.«

»Mit wem hat er sich geprügelt?«, fragte ich und notierte mir trotzdem alles, damit ich es nicht vergaß. In so einer Sache konnte man nicht vorsichtig genug sein; ich wollte möglicherweise fatale Fehler vermeiden.

»Geph van Spynne.«

»Kannst du das bitte buchstabieren?«

Chase buchstabierte den Namen und fuhr dann fort: »Der Beschreibung nach ein großer, schlaksiger Typ mit kurzem braunem Haar und Stachelfrisur. Er und Lyonnesse haben sich einen ernsthaften Kampf geliefert. Zachary hat eine hässliche Stichwunde in der Schulter erlitten. Der Arzt, der ihn zusammengeflöht hat, hat dreißig Stiche gebraucht, aber offenbar hat Lyonnesse jegliche Betäubung abgelehnt. Er wollte auch hinterher keine Schmerzmittel nehmen. Die Zeugen in der Bar sagen, dass alle beide Blut sehen wollten.«

Geph van Spynne. Der Name sagte mir nichts, kam mir aber irgendwie bekannt vor – als hätte ich ihn nur vergessen. »Und wussten deine Informanten etwas über den Jägermond-Clan oder diesen van Spynne?«

Chase räusperte sich. »Äh, nein. Sobald ich seinen Namen – oder den Jägermond-Clan – erwähnt habe, haben alle drei dichtgemacht und wollten kein Wort mehr sagen, nicht einmal mit einem Zwanzig-Dollar-Schein vor der Nase. Und das sind Typen, die für ein Glas Whisky ihre Mutter verpfeifen würden. Ich wette, dass sie so einiges wissen, sich aber nicht trauen, den Mund aufzumachen. Falls du irgendwo mehr in Erfahrung bringen kannst, nur zu. Wir sollten diese Information auch in unsere Datenbank eingeben.«

Ich blinzelte. »Wir werden tun, was wir können. Hat sich bei Siobhan schon jemand gemeldet?«

»Da habe ich gute Neuigkeiten«, sagte er, und seine Stimme hellte sich auf. »Jacinth hat schon einen Termin mit ihr gemacht und will sie gründlich untersuchen. Mit ein bisschen Glück können wir deiner Freundin vielleicht helfen.«

Mit ein bisschen Glück...  »Danke, Süßer«, sagte ich. »Wir hören uns morgen.« Als ich auflegte, merkte ich, dass ich einen mächtigen Kloß in der Kehle hatte.

»Na, das ist ja nicht gerade viel«, sagte Camille stirnrunzelnd. »Wo sollen wir denn anfangen?«

»Ich kann mal den Abschaum im Wayfarer aushorchen«, erbot sich Menolly. »Vielleicht weiß irgendjemand was.«

»Moment mal.« Ich hob die Hand. »Mir ist heute Nachmittag etwas eingefallen. Der Jägermond-Clan – das sind Spinnlinge. Die könnten ihre Spione sonstwo versteckt haben. In den Ecken der Bar. Oder hier im Haus«, sagte ich leise und spähte zur Decke hinauf.

»Wir wissen noch gar nicht sicher, ob sie etwas mit den Morden auf dem Land des Rainier-Rudels zu tun haben. Warum sollten sie Spione in den Wayfarer schicken?« Menolly schwebte zur Decke hinauf und fummelte an dem Draht herum, der den Baum sicherte. »So, das dürfte genügen«, sagte sie und kehrte auf den Boden zurück.

»Ich habe da so ein Gefühl«, sagte ich. »Glaubt mir, sie haben etwas damit zu tun. Und ich weiß, mit wem wir sprechen könnten, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen, aber ich fürchte, das wird euch nicht gefallen. Es ist gefährlich, aber ich glaube, wir müssen es riskieren.«

»Von wem sprichst du?«, fragte Camille. »Was riskieren?«

Menolly starrte mich an, und der Frost ihrer eisblauen Augen bohrte sich bis in mein Herz. »Ich weiß, von wem du sprichst, und du musst den Verstand verloren haben.«

Ich hielt ihrem Blick stand und straffte die Schultern. »Ich weiß ganz genau, was für ein Risiko wir damit eingehen würden, aber Menolly, hier geht es um viel mehr als einen Serienmörder, der Werpumas dezimiert. Ich weiß es. Ich wünschte, ihr würdet mir glauben und ein bisschen mehr auf meine Instinkte vertrauen.«

»Kätzchen«, sagte sie sanft, und ihr Blick durchdrang mich vollkommen. Dass Menolly nur selten blinzelte, fand ich total unheimlich. Ich wandte den Kopf ab, um diesem starren Blick auszuweichen. Das war ein Vampir-Ding – früher hatte sie nie so eine Wirkung auf mich gehabt. »Es ist ja nicht so, dass wir dir nicht vertrauen, es ist nur –«

»Das reicht! Ich habe die Nase voll.« Ich stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und starrte die beiden nieder. »Ihr haltet mich für eine naive, dämliche Blondine, oder? Ihr seht mich immer noch als das Baby der Familie, das nicht für sich selbst denken oder auf sich selbst aufpassen kann!«

Camille ruderte stammelnd zurück. »Delilah, bitte. So etwas haben wir nie behauptet. Keine von uns hält dich für dumm –«

»Halt die Klappe und hör endlich mal mir zu. Okay?« Ich war so nervös, dass ich spürte, wie ich an den Rändern verschwamm. Ich schloss die Augen und tat alles, um die Kontrolle über mich zu behalten. Das Letzte, was ich brauchte, war, mich zum zweiten Mal an diesem Abend unfreiwillig zu verwandeln. Ich atmete dreimal tief durch, während die anderen mich abwartend ansahen.

»Okay, es geht um Folgendes«, sagte ich. »Ihr beiden tut so, als wäre ich voller fröhlicher Seifenblasen, immer nur Friede, Freude, Eierkuchen. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls nicht mehr. Ja, ihr habt schon recht: Ich habe gern an das Gute in allem und jedem geglaubt. Ich liebe Sonnenschein, Blümchen und Mäusejagen. Aber das alles ist mir ziemlich verdorben worden, von Bad Ass Luke. Wisteria hat meine Illusionen auch nicht gerade genährt. Und das kotzt mich so dermaßen an.«

Ich hatte immer noch eine Narbe an der Stelle, wo die abtrünnige Floreade mich in den Hals gebissen hatte – sie hatte auf die Halsschlagader gezielt. Aber jetzt war sie sicher in den Kerkern der Elfenkönigin daheim in der Anderwelt weggesperrt, also versuchte ich, sie zu vergessen.

Camille ergriff das Wort. »Vernommen und verstanden, Delilah.« Sie wandte sich Menolly zu. »Ich vertraue ihrem Bauchgefühl. Wenn ihr Instinkt ihr sagt, dass das der richtige Weg ist, dann bin ich dafür. Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel instinktive Reaktionen wie sie. Dank meiner magischen Ausbildung habe ich zwar das Zweite Gesicht, aber das ist nicht angeboren. Und du...  « Sie verstummte und schloss den Mund. Menolly hatte noch nie einen sechsten Sinn besessen, im Gegensatz zu Camille und mir.

»Und ich...  ich habe nichts dergleichen, außer meinen Reflexen. Und dank der Tatsache, dass ich ein Vampir bin, habe ich ein außerordentlich scharfes Gehör und einen Untoten-Detektor.« Menolly schenkte ihr ein zahniges Grinsen. »Das ist die Wahrheit; du brauchst nicht herumzudrucksen. Du hast recht. Ich vergesse leicht, dass Katzen Dinge spüren können, die uns entgehen. Es würde mich überraschen, wenn unser Kätzchen hier nicht noch ein paar Tricks draufhätte, die wir noch nie gesehen haben.«

Sie warf mir einen wissenden Blick zu, und ich schaute rasch weg. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, aber ich war noch nicht bereit, darüber zu reden. Ich entdeckte selbst gerade erst das leise Flüstern neuer Fähigkeiten – so neu, dass nicht einmal ich sie ganz verstand. Sie hatten sich bemerkbar gemacht, nachdem ich mit Chase geschlafen und gegen die Dämonen gekämpft hatte.

»Was meinst du also, was wir tun sollten?«, fragte Camille leise. Sie beugte sich über die Sofalehne und legte die milchweißen Hände auf meine Schultern. Ich konnte die Macht der Mondmutter spüren, die sie durchströmte. Wir alle veränderten uns, dachte ich. Veränderten und entwickelten uns. Camilles Kraft fühlte sich anders an. Nicht sehr, aber doch so, dass es mir auffiel.

Ich holte tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen. »Wir sollten in die Nordlande reisen und dem Herbstkönig einen Besuch abstatten. Er herrscht über alles, was im Herbst herumkriecht, auch über die Spinnen. Wenn irgendjemand etwas über den Jägermond-Clan weiß, dann er. Siobhan hat mir ein Gerücht erzählt, ein böser Schamane hätte den Clan vor tausend Jahren geschaffen. Wenn das stimmt, hatten sie tausend Jahre Zeit, ihre Nester zu bauen, sich zu vermehren und stark zu werden. Ich will wissen, warum sie nicht schon früher angegriffen haben. Was hat sie zurückgehalten? Wenn sie hinter diesen Morden stecken, warum haben sie jetzt plötzlich damit angefangen? Könnte das irgendetwas mit Schattenschwinge zu tun haben?«

Während meine Worte noch in der Luft hingen, kam Iris herein, mit einer geblümten, dampfenden Teekanne und drei Tassen auf einem Tablett, dazu einem Kelch Blut für Menolly und einem Teller Kekse.

Vorsichtig stellte sie das Tablett auf dem Couchtisch ab und starrte dann, die Hände in die Hüften gestemmt, zu mir herauf. »Bist du von Sinnen? Glaubst du, du könntest einfach so ins Reich des Herbstkönigs hineinspazieren und sagen: ›Tagchen, Kumpel, erzähl mir doch mal was über diese Spinnennester...  ‹?«

Das Wort Kumpel klang aus Iris’ Mund so seltsam, dass wir alle in Lachen ausbrachen. Sie zog die Augenbrauen hoch und sagte mit hochmütiger Miene. »Benehmt euch, sonst streue ich Feenstaub in eure Betten, und ihr werdet euch wochenlang kratzen.«

»Jawohl, Ma’am«, sagte Menolly, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Iris war die eine Person, der Menolly niemals widersprach, die sie nie anschrie oder barsch anredete. Camille und ich vermuteten, dass Iris und Maggie Menolly ein Gefühl von Stabilität gaben, wie sie es seit ihrer Verwandlung nicht mehr erlebt hatte. Die Unschuld des Gargoyle-Babys und die Häuslichkeit des geschäftigen Hausgeists erinnerten sie daran, wie ihr Leben früher gewesen war.

Ich nahm mir eine Tasse Tee und schnupperte an dem Dampf, der daraus aufstieg. Er duftete nach Honig und Orangenblüten. »Mm, ist das Richyablüten-Tee?«

Iris nickte. »Ich war letzte Woche schnell in der Anderwelt, um ein paar Sachen zu besorgen. Ich weiß, dass ihr Mädchen Richyablüten-Tee mögt, deshalb habe ich einen kleinen Vorrat mitgebracht.« Unsere unausgesprochene Frage hing dick in der Luft, und Iris ließ sich seufzend mit Tasse und Untertasse in der Hand auf einem Sessel nieder. »Ich war nicht in Y’Elestrial, Mädchen, also kann ich euch nicht sagen, was dort vor sich geht. Aber euer Vater hat recht: Es herrscht Krieg. Anzeichen dafür waren überall zu sehen.«

Die Unterhaltung über den Herbstkönig war vorerst verdrängt von den Gedanken an zu Hause, die unser aller Herzen erfüllten.

»Wo warst du denn?«, fragte Camille, deren Gesichtsausdruck reinste Sehnsucht war.

»Ich war in Aladril, der Stadt der Seher. Sie bleiben in dem Konflikt zwischen Tanaquar und Lethesanar neutral. Sie weigern sich, Partei zu ergreifen, und ihre Magie ist stark genug, um jeden abzuschrecken, der auf die Idee käme, sie zu irgendetwas zwingen zu wollen.« Iris blinzelte und nippte an ihrem Tee.

Aladril war prachtvoll, eine Stadt schlanker Türme und Spitzen, die in den Himmel ragten. Die Stadt war aus schimmerndem Marmor erbaut, und niemand wusste, wie lange es sie schon gab – nur dass sie durch die Nebel in die Anderwelt gekommen war, kurz nach der Großen Spaltung, vollständig und damals bereits uralt. Es war eine magische Stadt, und Besucher waren zwar willkommen, doch der Großteil der Geschäfte wurde hinter verschlossenen Türen getätigt. Ob die berühmten Seher Menschen oder Feen waren, wusste niemand. Sie sahen zwar menschlich aus, lebten aber viel zu lange, um menschlich zu sein, und sie blieben unter sich, bis auf die Händler und die Stadtwachen.

Wir machten es uns mit unserem Tee gemütlich und Menolly mit ihrem Kelch Blut.

»Zurück zum eigentlichen Problem. Du meinst also, wir sollten in die Nordlande reisen«, sagte Menolly und hob ihren Kelch, als wollte sie mit mir anstoßen. »Das ist eine schwierige Reise. Wie sollen wir dorthin kommen? Die Portale werden uns da nichts nützen. Zumindest glaube ich das.«

Iris schüttelte den Kopf. »Ihr Mädchen lasst euch mit Mächten ein, die ihr lieber meiden solltet. Der Herbstkönig ist ein Elementarherr. Die sind bestenfalls gefährlich. Robyn, der Eichenprinz, hat sowohl die Feen als auch die Menschen zu dem Glauben verleitet, die Elementare seien freundlich und gütig zu Wesen aus Fleisch und Blut, aber das stimmt einfach nicht.« Ein Wimmern aus der Küche unterbrach sie. Iris stand auf und stellte ihren Tee beiseite. »Maggie ist aufgewacht. Ich hole sie.«

Als sie das Wohnzimmer verließ, holte Camille tief Luft und blies sie langsam wieder aus. »Ich glaube, ich weiß, wie wir in die Nordlande kommen könnten, aber das würde uns etwas kosten, und zwar nicht zu knapp, wenn ich mich nicht irre.«

»Wie?«, fragte ich, lehnte mich zurück und zog die Beine unter mich. Die Wärme der Flammen im Kamin und der heiße Tee machten mich ganz schläfrig. Zeit für ein Nickerchen.

Camille räusperte sich. »Smoky könnte uns vermutlich auf seinem Rücken hintragen.«

Das war ein Knaller. Menolly verschluckte sich, und ich schoss aus meinem Sessel hoch.

»Heilige Scheiße, Camille«, sagte ich. »Ist dir klar, dass er für einen derart riesigen Gefallen einfach alles von uns verlangen könnte? Smoky mag ja ehrenhaft sein – sofern ein Drache ehrenhaft sein kann –, aber er spielt gern seine Spielchen. Er wird sich die Chance nicht entgehen lassen, das weidlich auszunutzen.«

Camille zuckte mit den Schultern. »Wenn wir mit dem Herbstkönig sprechen müssen, dann ist Smoky die beste Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Er hat mir erzählt, dass er vor Jahren mal in den Nordlanden gelebt hat. Vielleicht kann er zwischen den Welten hin- und herfliegen, und ganz sicher kennt er den Weg.«

Ich wusste, dass sie recht hatte. Menolly sah das wohl auch ein, denn sie leerte ihren Kelch und stellte ihn zurück auf das Tablett. »Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wir sehen uns in Zacharys Revier um, damit wir erst mal ein Gefühl dafür bekommen, was hier läuft. Dann treffen wir eine Entscheidung. Falls es Anzeichen dafür gibt, dass dieser Jägermond-Clan in die Morde verwickelt ist, bitten wir Smoky um ein Flugticket.« Sie überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Großmutter Kojote kann uns wohl nicht helfen, oder? Sie ist viel weniger gefährlich.«

»Weniger gefährlich, von wegen. Erinnert ihr euch an den Preis, den ich für die Information über Schattenschwinge bezahlen musste?«, warf Camille ein. »Aber ich glaube, Delilah hat recht. Die Elementare sind vielleicht eher bereit, sich in die Angelegenheiten dieser Welt einzumischen, als die Ewigen Alten.«

Ich dachte über Menollys Vorschlag nach. »Na gut, wir machen es so, wie du gesagt hast. Wir sollten nicht drauflosstürmen, ehe wir wissen, womit wir es zu tun haben. Da ist nur...  nur dieses Gefühl...  « Und als ich die hinteren Winkel meiner Gedanken durchstöberte, stieß ich darauf: das sichere Gefühl, dass der Jägermond-Clan etwas mit den Morden zu tun hatte. Sobald Siobhan den Clan erwähnt hatte, war eine Art Alarm in meinem Kopf losgegangen, der seither kreischte: »Gefahr! Gefahr!«

»Wenn das alles ist, gehe ich jetzt ins Bett«, sagte Camille mit einem Blick auf die Uhr und stand auf.

»Kein Trillian? Kein Morio?«, fragte Menolly grinsend.

»Nicht heute Nacht. Trillian ist drüben in der Anderwelt, schon vergessen? Und Morio...  Ich wollte heute mal meine Ruhe haben.« Camille umarmte sie und streckte dann die Arme nach mir aus. Ich drückte sie an mich und rieb ihr kräftig den Rücken. »Ich bin zu müde, um nachzudenken, geschweige denn, die Beine breit zu machen«, fügte sie hinzu.

»Ich werde auch ein paar Stunden schlafen«, sagte ich. »Bin bald wieder unten«, versprach ich Menolly, die nach ihrer Jacke griff. »Gehst du in den Wayfarer?«

Sie nickte. »Ja, ich habe heute Schicht. Aber ich will früher los, ich brauche noch einen Happen zu essen, bevor ich zur Arbeit gehe.«

Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken, und zwinkerte ihr zu. »Trink nicht zu viel«, sagte ich. »Und ruf an, falls es ein Problem gibt. Wir haben die Handys immer bei uns.«

Menolly ging zur Tür hinaus, und wir hörten ihren Jaguar anspringen. Camille gähnte.

Iris kam mit einer satten, zufriedenen Maggie aus der Küche. »Ich war mit ihr draußen, sie hat ihr Geschäft für die Nacht schon gemacht. Wollt ihr Mädchen denn schon schlafen gehen? Ich dachte, wir spielen noch ein bisschen Trivial Mania – die Feen-Edition.« Sie rückte Maggie, die uns mit einem doppelten Muuf begrüßte, auf ihrer Hüfte zurecht und hielt eine große Schachtel hoch.

Nicht lange nachdem wir aus der Anderwelt offiziell hervorgetreten waren, hatte das große Marketing begonnen, und inzwischen gab es eine Unzahl von Spielen, Kostümen, Action-Figuren und anderen Konsumgütern, die Profit aus unserem Erscheinen schlugen. Die Leute von Trivial Mania hatten sich sogar die Zeit genommen, mit uns zu sprechen, um die Fakten richtig hinzubekommen. Und so hatten mehrere prominente Feen, die sich erdseits niedergelassen hatten und rasch sehr bekannt geworden waren, diesem Spiel ihren Segen gegeben.

Camille warf mir einen Blick zu, der mir sagte, dass es wohl spät werden würde, und begann den Couchtisch abzuräumen. Maggie nahmen wir reihum abwechselnd auf den Schoß. Ihr weiches Fell fühlte sich gut an, während ich ihr den Kopf streichelte und sie zwischen den Ohren kraulte, und ihr nach Zimt duftender Atem löste etwas von meiner Anspannung: Obwohl ich müde war, genoss ich es, eine Weile von ermordeten Werpumas und dem Jägermond-Clan abgelenkt zu werden.

 

Am nächsten Abend auf der Fahrt zur Enklave des Rainier-Rudels waren alle recht still. Es war ein langer Tag gewesen, Camille hatte noch nichts von Trillian gehört, und wir alle machten uns Sorgen um Vater und Tante Rythwar. Menolly hatte in ihrer Nachtschicht im Wayfarer nichts über den Jägermond-Clan, Geph van Spynne oder Zachary Lyonnesse erfahren. Und keine von uns hatte auch nur den kleinsten Hinweis auf die JansshiDämonen gefunden, und wie man sie töten konnte.

Chase war sehr kurz angebunden gewesen, als ich ihn in der Mittagspause angerufen hatte. Er arbeitete an einem Fall, der aus dem Ruder zu laufen drohte. Ein Zwerg aus der Anderwelt war in der Hafengegend von Seattle ermordet worden. Chase hatte mir anvertraut, dass er befürchte, die Aufrechte-BürgerPatrouille könnte nun doch die Grenze zwischen kriegerischer Rhetorik und echten Übergriffen überschritten haben. Wenn das stimmte, würde es bald gewaltigen Ärger geben.

Die Feen würden nicht tatenlos zusehen, wenn sie zu der Überzeugung gelangten, dass irgendwelche selbstgerechten, paranoiden Faschisten ein anderes Feenwesen über den Haufen geschossen hatten. Chase blieb nicht mehr viel Zeit, den Mörder zu finden und der Justiz zu überstellen, und der AND hatte zu der Angelegenheit keinen Pieps verlauten lassen. Mein Instinkt sagte mir, dass wir hier drüben in der Erdwelt ganz auf uns allein gestellt waren.

Ein Bürgerkrieg in der Anderwelt, Dämonen, die aus den U-Reichen einmarschierten, und die Erde genau dazwischen. Was für ein wunderbares Jahr doch unser erstes Dienstjahr hier geworden war.

Camille fuhr, und Morio saß neben ihr. Er sah gut aus. Ich mochte Morio, obwohl ich ihn keineswegs sexuell anziehend fand. Aber heute hatte er sich das schulterlange Haar zu einem glatten Pferdeschwanz zurückgebunden, und sein Ziegenbärtchen und der schmale Schnurrbart waren säuberlich getrimmt. Er sah gepflegt, aber nicht affektiert aus.

»Sind alle bereit?«, fragte Camille.

»Ja«, sagte ich und rutschte auf dem Rücksitz herum. Ich trug Leggings unter einer Tunika, die mir bis über die Oberschenkel reichte. Die weichen, geschnürten Lederstiefel endeten unter den Knien. Wie der Rock und die Bluse, die Camille trug, waren auch meine Sachen aus Spinnenseide gewoben und würden mich warmhalten, ohne mich zu behindern, wenn ich mich durch dichtes Unterholz schieben wollte.

Als wir die Abzweigung zur Elkins Road erreichten, bog Camille links ab. Es war halb sechs und schon stockdunkel. Die Sonne ging jetzt gegen halb fünf unter, und es war nicht mehr lange bis zur längsten Nacht des Jahres. Menolly liebte den Winter, wenn die dunklen Nächte ewig zu dauern schienen und ihr erlaubten, viel länger durch die Welt zu streifen.

Mit einer kleinen Taschenlampe las ich die Karte, die Zachary mir gezeichnet hatte, und warf dann einen Blick aus dem Fenster. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber ich spürte die Mutter dort draußen. Camille und ich waren an das Auf und Ab ihrer Zyklen gebunden, und ich ertappte mich bei der Überlegung, wie es wohl bei Vollmond im Puma-Revier sein musste, wenn sich alle verwandelten. Plötzlich überkam mich die Sehnsucht danach, mit anderen zusammen zu sein, die verstanden, wie es war, zwei Wesen, zwei Naturen in sich zu haben, und ungebeten stand mir Zacharys Gesicht vor Augen.

Ich seufzte tief, starrte wieder nach vorn und fühlte mich plötzlich einsam und abgeschnitten. Ich versuchte mich wieder auf die Karte zu konzentrieren, bemerkte aber dann, dass Morio über die Schulter zu mir zurückblickte, einen wissenden Ausdruck auf dem Gesicht. Auch er war ein Gestaltwandler, allerdings kein Werwesen. In gewisser Hinsicht konnte er mich gut verstehen, aber er war der Mondmutter und ihren monatlichen Tributforderungen nicht ausgeliefert.

»Da ist die Einfahrt«, sagte Camille und riss mich damit aus meinen Gedanken. Am linken Straßenrand war ein Tor zwischen zwei mächtigen Pfeilern, und neben diesen Pfeilern standen kräftige Männer mit Gewehren. Wir hielten vor dem Tor, und ich sprang aus dem Auto und ging auf den nächsten Wächter zu.

»Ich bin Delilah D’Artigo, und das sind meine Schwestern. Zachary erwartet uns«, sagte ich und war mir des halben Arsenals, das sie bei sich trugen, sehr bewusst. Die Männer sahen nicht freundlich aus, und sie trugen Tarnanzüge, was mich noch nervöser machte. Ich hatte mein Messer dabei, aber ich glaubte nicht, dass es mir viel nützen würde, schon gar nicht gegen zwei Gewehre schwingende Bodybuilder – nein. Obendrein waren die beiden Übernatürliche.

Sie musterten mich und inspizierten dann das Auto. »Wer ist das?«, fragte der Größere von den beiden, der das Haar kurzrasiert trug.

»Unser Freund Morio. Er ist ein erdgebundener Übernatürlicher«, sagte ich. Ich dachte schon, sie würden mich durchsuchen, und ich hätte einen Riesenaufstand veranstaltet, wenn sie mich angefasst hätten, doch der Mann brummte nur und bedeutete mir mit einem Nicken, dass ich wieder einsteigen durfte.

»Fahren Sie durch das Tor und immer geradeaus, bis Sie das große Haus auf dem Hügel sehen. Parken Sie in der Auffahrt und klopfen Sie an die Tür. Gehen Sie nirgendwo anders hin, außer Sie haben unsere ausdrückliche Erlaubnis, haben Sie verstanden? Das gilt für Sie alle«, fügte er hinzu.

Ich blinzelte. Sehr freundlich, dachte ich. Allerdings waren schon mehrere Angehörige ihres Rudels ermordet worden. Da war es verständlich, dass sie übervorsichtig waren.

»Verstanden«, sagte ich.

Camille lächelte die Männer an, Menolly starrte aus dem Fenster, und Morio hielt einfach den Mund. Er redete ohnehin nicht viel, außer mit Camille.

Die Wachen traten zurück und ließen uns passieren. Camille lenkte den Wagen auf die unbefestigte Straße, und wir fuhren auf das Herz des Puma-Reviers zu. Mein Puls raste beim Gedanken daran, dass ich Zachary wiedersehen würde. Ich versuchte, mir Chases Gesicht vorzustellen, um auf dem Teppich zu bleiben, aber ich konnte das Gefühl nicht ignorieren, dass Zach und ich uns aus einem bestimmten Grund begegnet waren. Irgendeine Verknüpfung des Schicksals hatte den Werpuma zu mir geführt.

Entlang der Straße waren weitere Häuser über das Land verteilt. Einige waren klein – im Grunde nicht viel mehr als Hütten –, wieder andere große, zweistöckige Farmhäuser. Wie lange siedelte das Puma-Rudel schon hier? Zweifellos genossen die anderen Berglöwen aus der Umgebung diese Sicherheitszone ohne Jäger und Wilderer.

Vor uns wand sich der Feldweg einen Abhang hinauf und dann nach rechts zu einer ebenfalls unbefestigten Auffahrt, in der mehrere Autos und Pick-ups standen. Camille parkte zwischen ihnen, und wir wandten uns dem Haus zu, das vor uns aufragte. Es war drei Stockwerke hoch und sehr weitläufig, eigentlich eher eine Villa oder ein Herrenhaus, und es sah aus, als sei es von Kunsthandwerkern und nicht von Bauarbeitern errichtet worden. Die Pfosten und das Treppengeländer vor dem überdachten Eingang waren handgeschnitzt und frisch geölt. Tür und Wände bestanden aus solidem Hartholz. Während wir alle im Auto saßen und auf diesen Palast starrten, der hier völlig fehl am Platze wirkte, holte Camille tief Luft.

»Diese Wände sind von Bannen durchdrungen«, sagte sie. »Magische Schutzvorrichtungen. Irgendjemand hier beherrscht seine Zauber sehr gut.«

Wir stiegen aus dem Wagen und gingen auf die Treppe zu, da öffnete sich die Haustür. Zachary kam uns entgegengelaufen, das Gesicht von Kummer und Sorge gezeichnet. Er legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich an, und seine Augen verschwammen in Tränen.

»Delilah, ich bin so froh, dass ihr gekommen seid. Wir haben ein weiteres Rudelmitglied verloren – Shawn, einen Cousin von mir. Ihr müsst uns helfen, diesen Irren zu finden.«