Kapitel 20

 

Durch ein Portal zu reisen, ist so, als fiele man für den Bruchteil einer Sekunde in einen rauschhaften Schlaf, der einen scheußlichen Kater hinterlässt und das deutliche Gefühl, dass die Naturgesetze einmal zu oft gebrochen worden sind.

Großmutter Kojote hatte den Dämonenfinger freudig angenommen und unseren Handel für abgeschlossen erklärt. Sie führte uns zu dem Baum, in dem das Portal versteckt war. Als wir uns und die Dämonen in den Lichtstrom schoben, der im Herzen der riesigen Eiche auf und ab raste, klammerte ich mich an die schwache Hoffnung, dass Vater sich geirrt haben konnte und wir von der Elfenkönigin erfahren würden, dass in Y’Elestrial alles zum Besten stand.

Der Übertritt an sich dauerte nur einen Augenblick, doch als wir auf der anderen Seite aus dem Portal traten – eine große Höhle mitten in den Grabhügeln vor Elqaneve –, war ich heilfroh, dass wir Menolly zu Hause gelassen hatten, denn es war bereits heller Tag, und die Sonne schien. Die Luft war klar, und die angenehme magische Ladung darin sagte mir, dass wir tatsächlich wieder zu Hause in der Anderwelt waren. Die ganze Landschaft vibrierte vor Leben; hier hatten Eichen und Buchen, Felsen und Kristalle ein eigenes Bewusstsein.

Das hatten sie zwar auf der Erde auch, aber man spürte es kaum, weil es so von der knisternden Statik der vielen Leute, der Elektrizität und des alltäglichen Lärms übertönt wurde.

Es dauerte nicht lange, bis die Wachen uns bemerkten und uns durch die Menge neugieriger Zuschauer eskortierten. Wir wurden eilig durch die Straßen geführt, und die Dämonen und Wisteria wurden nun auf einem Pferdewagen befördert. Die Straßen von Elqaneve waren gepflastert, und Blumen säumten die Straßenränder. Abends flammten Feenlichter auf, die jenen mit schlechter Nachtsicht den Weg erhellten.

Verkäufer drängten sich auf den Straßen und priesen ihre Waren an. Offenbar hatten wir den Markttag erwischt. Mütter brachten ihre Kinder zur Schule, Brownies und Hausgeister erledigten ihre Einkäufe. Ja, auch die Elfen besaßen Diener, doch die meisten behandelten sie recht gut.

Alle drehten sich nach uns um, wenn wir vorübergingen. Die Leute waren höflich, aber distanziert – doch unter der Oberfläche spürte ich förmlich die neugierigen Fragen brennen. Delilah und ich waren offensichtlich halb Sidhe. Tom war menschlich, aber auch nicht normal. Und Smoky... Den meisten hier dürfte es nicht schwerfallen, ihn als verkleidetes magisches Wesen zu erkennen.

Tom blickte sich um, und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das gerade ein Süßigkeitenversteck im Schrank gefunden hat. Mir kam der Gedanke, dass er an einem Ort wie diesem gelebt haben musste, als Titania ihn vor so langer Zeit in ihre Stadt unter dem Feenhügel entführt hatte. Selbst wenn er sich nicht daran erinnern konnte, musste die Magie hier irgendetwas in ihm wachgerufen haben.

Als wir den Palast erreichten, stellte ich erstaunt fest, wie bescheiden der Hof im Vergleich zu dem in Y’Elestrial wirkte. Königin Lethesanar liebte Prunk und Pomp. Der Palast hier war zwar groß und aus schimmerndem Alabaster erbaut, doch er war eher schlicht und umgeben von Gärten statt von Statuen und zahllosen Nebenhöfen. Die Wachen führten uns in die große Halle, wo wir nach Waffen durchsucht wurden, und dann ging es weiter zu Königin Asteria.

Die Elfenkönigin saß auf ihrem Thron aus Eiche und Stechpalmenholz, schimmernd wie der Mond und so alt wie die Welt. Sie war schon vor der Großen Spaltung die Königin des Elfenreichs gewesen, und in all den Jahrtausenden seither war nie die Rede davon gewesen, sie könnte abdanken. Sie erhob sich, als wir eintraten. Ich spürte, wie Tom neben mir zu zittern begann.

»Ihr bringt schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Ihr bringt tote Dämonen in meine Stadt, und einen gefesselten Waldgeist, der offenbar verrückt geworden ist.«

Ich knickste tief. »Dürfen wir Euch um eine Privataudienz bitten? Wir haben Euch viel zu berichten.«

Sie führte uns in ein separates Gemach, und dort, in Anwesenheit eines ihrer Ratgeber und dreier Wächter, erzählten wir ihr alles, auch das, was Vater uns über die Zustände in Y’Elestrial gesagt hatte. Als wir fertig waren, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, und ihr Gesichtsausdruck bewegte sich irgendwo zwischen Abscheu und Sorge.

»So etwas hatte ich befürchtet«, sagte sie. »Die Unterirdischen Reiche sind sehr aktiv, so aktiv, dass wir gezwungen waren, mit unseren Erzfeinden Waffenstillstand zu schließen. Es gefällt mir nicht, in eine solche Position gebracht zu werden, und daran ist allein Schattenschwinge schuld. Lethesanar ist eine Närrin. Ihr eigenes Vergnügen ist ihr wichtiger als ihr Volk, und sie wird einen hübschen Dämpfer bekommen, bis sie schließlich den Thron an ihre Schwester abtritt. Aber wenn sie sich weigert... «

Ich räusperte mich, denn ich wusste nur zu gut, warum sie den Rest ungesagt ließ; aber ich hielt den Mund. Ich wollte ihr nicht zustimmen, falls das eine Falle sein sollte, mit der sie überprüfen wollte, wie es mit unserer Treue zu Hof und Krone bestellt war. Aus dem umgekehrten Grund wollte ich ihr aber auch nicht widersprechen. Nach einer kurzen Pause klopfte die Königin mit ihrem Gehstock, der einen silbernen Griff hatte, auf den Boden. Sogar Elfen, Sidhe und andere Feen alterten im Lauf der Jahrtausende, und Knochen wurden irgendwann morsch.

»Nun, dann müssen wir wohl sehen, was wir in dieser Angelegenheit tun können«, sagte sie. »Ihr solltet fürs Erste in die Erdwelt zurückkehren. Ich werde mehr über die Siegel in Erfahrung bringen und die Dämonen von meiner Leibgarde bewachen lassen. Ihr seid ab sofort ebenso unsere Agenten wie Agenten des AND.«

»Doppelagenten?«, fragte ich schockiert. Das war Hochverrat, doch uns blieb keine andere Wahl.

»Ja, Doppelagenten. Wenn dieser Trillian sich erholt hat, schickt ihn zu mir. Er kann für uns den Boten spielen. Wenn er weiß, was gut für ihn ist, wird er diesen Auftrag annehmen.«

Na klar. Trillian würde begeistert sein, dachte ich. Delilah zwinkerte mir verschwörerisch zu.

Die Königin ignorierte unseren Austausch. »Ihr könnt gehen. Ein Gesandter wird in den nächsten Tagen Kontakt zu euch aufnehmen. Diese Sache ist noch nicht vorbei, meine Mädchen. Schattenschwinge wird weitere Kundschafter aussenden, und er wird nicht ruhen, solange es noch ein Siegel zu holen gibt. Nein, dies war nur ein Scharmützel, und ihr habt gesiegt, doch die eigentliche Schlacht hat eben erst begonnen.«

»Was werdet Ihr mit dem Geistsiegel tun?«, fragte ich.

Die Elfenkönigin presste die Lippen zusammen. »Wir haben einen Zufluchtsort, an dem wir es aufbewahren und gut bewachen können. Ich werde euch nicht sagen, wo, denn je weniger ihr über die Verwahrung der Siegel wisst, die wir finden, desto sicherer werdet ihr sein – und die Siegel ebenfalls. Was ihr nicht wisst, könnt ihr nicht preisgeben.«

Obwohl sie lächelte, spürte ich eine verhüllte Drohung in ihrem Blick, und mir wurde klar, woran sie dachte: Falls wir in Gefangenschaft gerieten und von Schattenschwinge gefoltert wurden, würden wir keine Geheimnisse ausplaudern können. Der Gedanke war ernüchternd, und ich starrte zu Boden. Schattenschwinge würde ganz sicher herausfinden, dass wir es waren, die seine Späher getötet hatten. Nicht mehr lange, und wir würden ganz oben auf seiner Liste stehen.

»Geht jetzt«, sagte die Königin sanft. »Denkt nicht zu viel darüber nach, was sein könnte. Widmet euch ganz eurer Aufgabe. Die Ewigen Alten mögen die Zukunft voraussagen, doch es gibt immer den freien Willen, und das muss dich mit deinem Schicksal versöhnen, meine Liebe.«

Damit entließ sie uns. Im Gehen fiel mein Blick auf Tom. »Was wird aus ihm werden?«, fragte ich sie.

Sie lächelte milde. »Er wird seine Tage hier genießen, und wir werden tun, was in unserer Macht steht, um die Wirkungen des Nektars des Lebens aufzuheben. Er braucht viel Schlaf, wie alle Lebewesen, deren Zeit gekommen ist. Er hat seine Legende lange überlebt.«

»Ihr werdet ihm doch nichts antun, nicht wahr?«, fragte ich und sah ihr in die Augen. »Er hat nichts Böses getan, und er hat das Siegel jahrhundertelang beschützt.«

Sie strahlte mich an, herzlich und weise, und in diesem Augenblick erkannte ich, warum ihr Volk sie so sehr liebte. »Wir werden ihm nicht wehtun. Du hast mein Wort darauf. Und nun, ihr beiden, nehmt euren Freund, den Drachen – ja, ich weiß, was du bist, junges Untier – und kehrt durch das Portal zurück. Es liegt viel Arbeit vor euch. Aber ihr habt in mir eine Verbündete, solange Lethesanar nichts über unsere Vereinbarung weiß.«

Delilah und ich murmelten unsere bescheidene Zustimmung, und gemeinsam mit Smoky, der die Frechheit besaß, der alten Königin eine Kusshand zuzuwerfen, wurden wir zurück zum Portal geleitet. Ich hielt mich gerade lange genug auf, um meinen Vorrat an Tygeria-Wasser aufzufüllen, doch nur allzu bald standen wir wieder vor dem Höhleneingang.

Ich blickte zurück – ich wollte nicht gehen. Die Anderwelt war die Heimat meines Vaters, und ich wollte hierbleiben. Doch war die Erde die Heimat meiner Mutter, und meine Schwestern und ich schuldeten auch ihr unsere Treue. Außerdem brauchte die Erdwelt uns jetzt.

»Bist du bereit?«, fragte ich Delilah.

Sie nickte, obwohl ich dieselben widerstreitenden Gefühle auf ihrem Gesicht sah. Wir hielten uns an den Händen, sie, Smoky und ich, traten durch das Portal und standen wieder einmal in einem regennassen Wald. Ich zitterte und zog mein Gewand enger um mich. Der Lexus erwartete uns ein wenig abseits der Straße, wo Morio ihn für uns abgestellt hatte. Ich zog eine Grimasse, als mir der schmutzige Regen ins Gesicht klatschte.

Ja, die Erde war meine Heimat, ebenso wie die Anderwelt, und obwohl sie von Umweltverschmutzung, ungeheuerlichen Waffenarsenalen und einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit geprägt war, besaß sie doch ihren ganz eigenen Zauber. Wenn es uns gelang, die Dämonen abzuwehren, wenn wir diesen Zauber zum Leben erwecken und wieder erblühen lassen konnten, dann würde die Welt unserer Mutter vielleicht überdauern.

»Weißt du, ich besitze zwar eure Namen, aber ich gebe dir mein Wort darauf, dass ich sie in Ehren halten werde«, flüsterte Smoky mir zu, bevor er sich auf dem Rücksitz niederließ. »Ich werde sie nicht missbrauchen.«

Auf einmal war mir ganz leicht ums Herz, und ich schnallte mich an. »Fahren wir nach Hause«, sagte ich. »Trillian kommt heute Abend, und wir brauchen alle dringend Schlaf. Wir sollten später versuchen, Verbindung zu Vater aufzunehmen und herauszufinden, was in Y’Elestrial vor sich geht. Menolly muss im Wayfarer für Ordnung sorgen... Königin Asteria hat recht. Wir haben einen Haufen Arbeit vor uns.«

Delilah ließ ihren Gurt einrasten. »Ich glaube, das hat sie damit nicht gemeint. Aber wir haben wirklich viel zu tun. Wir sollten Maggie eine kleine Hütte bauen, vielleicht im Salon, damit sie sich auch mal zurückziehen kann.«

»Das ist keine schlechte Idee«, sagte ich und schaltete das Radio ein. »Das würde ihr bestimmt gefallen. Hast du gemerkt, wie schnell Menolly sie ins Herz geschlossen hat?«

»Ja, allerdings... Ich glaube, das wird ihnen beiden guttun«, sagte Delilah und drehte die Lautstärke hoch. Während wir auf die Straße einbogen, trieben die schwungvollen ersten Töne von »Demon Days« von den Gorillaz durch den Wagen.

Ich warf Delilah einen Blick zu. »Unsere neue Hymne?«, fragte ich.

Sie seufzte tief und lehnte den Kopf zurück. »Ja, und ich fürchte, auch eine Einstimmung auf die Zukunft.«

Als ich auf der Straße Gas gab, wusste ich, dass sie recht hatte.

 

 

Ende - Schwestern des Mondes 01 - Die Hexe