Kapitel 11

 

Sobald ich nach dem Hörer griff und »Hallo?« sagte, schnaubte Menolly.

»Ich weiß, was du gerade getan hast – die Frage ist nur, mit wem?« Seit Menolly zum Vampir geworden war, hatte sie die geradezu unheimliche Fähigkeit, Sex zu erspüren, sei es durch Gerüche, Geräusche oder nur ein Summen in ihrem Kopf. »Nicht so wichtig. Du kannst mir die pikanten Einzelheiten später erzählen. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich jetzt zum Auto gehe. Ich sollte mich doch melden, wenn ich die Bar verlasse.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Uhr morgens, ganz pünktlich. »Okay, ruf mich noch mal an, wenn du im Auto bist, und mindestens einmal von unterwegs. Wo hast du eigentlich geparkt? Dieses Ding – dieser Fellgänger – ist noch irgendwo da draußen. Außerdem ist heute Nacht jemand ums Haus herumgeschlichen. Trillian und Morio konnten ihn nicht schnappen, aber wir haben seine Jacke und ein äußerst interessantes Notizbuch.«

»Hm... « Ich konnte beinahe hören, wie die Rädchen in ihrem Kopf ratterten. »Ich stehe im Ayers-Parkhaus, Ecke Broadway.« Sie beendete das Gespräch, und ich legte langsam den Hörer auf die Gabel. Diese Gegend, Capitol Hill, beherbergte die tätowierten Spinner und Gothic-Freaks, die ungefähr so abgedreht waren, wie man sein konnte, wenn man noch als Mensch gelten wollte. Es war zwar lustig, mit denen abzuhängen, aber dort trieben sich auch eine Menge Junkies und zwielichtige Gestalten herum.

Ich blickte zu Morio auf, der an der Wand lehnte und mich anstarrte. »Was? Was ist denn?«, fragte ich, denn seine Neugier war mir unangenehm.

Er zog eine Augenbraue hoch, zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich verstehe zwar nicht, was du an ihm findest, aber es ist offensichtlich, dass ihr zwei etwas miteinander habt. Falls du mal jemanden zum Reden brauchst... «

Ich hatte das Gefühl, dass das Wort Reden für den Fuchsdämon von verborgener Bedeutung erfüllt war, doch er wandte sich ab, als Trillian leichtfüßig die Treppe herunterkam, vollständig angezogen, das selbstgefällige Lächeln wieder auf dem Gesicht.

»Also dann, leg dich schlafen«, sagte Trillian.

Morio blickte sich um und sah mich dann fragend an. Ich deutete auf den Salon, das zweite Wohnzimmer, das wir selten benutzten. »Du kannst da drin schlafen. Das Sofa ist sehr bequem, und niemand wird dich stören, außer Mr. Profeta beschließt, noch mal vorbeizuschauen.«

Er nickte und zog sich zurück. Ich starrte das Telefon an und wartete gebannt auf das Klingeln. Komm schon, Menolly, dachte ich. Sei bloß vorsichtig. Ein paar der Kreaturen, mit denen wir es zu tun hatten, konnten sogar einen Vampir ausschalten. Trillian schien meine Sorge zu spüren, denn er schlang mir einen Arm um die Taille und drückte mich an sich, ohne sich mir aufzudrängen. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter und bemühte mich, das Atmen nicht zu vergessen. Vielleicht war es diesmal anders. Vielleicht hatte er sich wirklich verändert. Aber konnte sich jemand überhaupt so sehr verändern?

Ehe ich die Diskussion in meinem Kopf beenden konnte, klingelte das Telefon. Ich riss den Hörer hoch. »Menolly? Bist du das?«

Sie lachte. »Nein, hier spricht der Weihnachtsmann. Ja, ich bin’s. Ich sitze sicher im Auto und bin schon auf dem Heimweg. In einer halben Stunde bin ich da. Du solltest ein bisschen schlafen, außer natürlich, du hast etwas anderes vor. Wer ist eigentlich bei euch? Nur Morio?« Aha, sie versuchte herauszufinden, ob ich mit dem Fuchsdämon geschlafen hatte.

»Nein«, sagte ich gedehnt. »Delilah schläft... Morio hat sich gerade hingelegt... und Trillian ist da.« Ich stieß ein langgezogenes Seufzen aus, das sie natürlich mitbekam.

»Ach, ihr guten Götter, du hast wieder mit dem Svartaner geschlafen!« Ärger klang aus ihrer Stimme und eine Portion Gereiztheit. »Schön, dann richte ihm aus, wenn er dir wehtut, werde ich ihn bis auf den letzten Tropfen leersaugen und ihn für die Geier raushängen.«

Ich schluckte schwer. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee –«

»Tu es!« Wenn Menolly etwas wollte, bekam sie es meistens auch. Ich war zwar die Älteste, doch wenn sie der Hafer stach, aßen wir alle Haferbrei.

»Na schön, aber wenn er wütend wird, ist das deine Schuld.« Ich bog den Kopf zurück, um Trillian anzusehen. »Menolly sagt, wenn du mir wehtust, würde sie dich leersaugen und dich den Geiern überlassen.«

Ein zorniger Ausdruck zuckte über sein Gesicht, löste sich aber rasch auf, als er zu lachen begann. »Gib sie mir«, sagte er.

Ich reichte ihm den Hörer.

»Meine liebe, bezaubernde, tödliche Menolly, ich möchte dir nur versichern, dass ich deine Schwester so ehrenvoll behandeln werde, wie ich es bei einer hohen Hofdame tun würde.« Trillian schwieg, während sie sprach, und lachte dann wieder – seine volle, tiefe Stimme durchfuhr mich von den Brüsten bis zu den Zehenspitzen. »Ich werde daran denken.«

O ihr Götter, dachte ich, als ich den Hörer entgegennahm und auflegte. Ich steckte wirklich in der Klemme, wenn die beiden sich verbündet hatten.

 

Trillian hielt Wache. Hin und wieder trat er vors Haus, um zu überprüfen, ob er irgendwelche unwillkommenen Besucher sehen oder wittern konnte, während ich mich in der Küche um Maggie kümmerte. Als ich zu ihr trat, lag sie zusammengerollt in ihrer Kiste, war aber wach. Sie streckte die Ärmchen nach mir aus, und ich hob sie hoch und ließ mich mit ihr im Schaukelstuhl nieder, um ein paar Minuten zu dösen.

Menollys Auto, das in der Einfahrt hielt, weckte mich auf. Ich strich meinen Morgenrock glatt, setzte Maggie zurück in ihre Kiste und stellte das Teewasser auf. Seit wir erdseits waren, hatte ich eine Vorliebe für Orangen- und Zimttee entwickelt, und ich hatte gleich mehrere Sorten im Schrank. Ich warf vier Teebeutel in die Kanne, übergoss sie mit dampfendem Wasser und schloss die Augen, als der köstliche Duft aufstieg und mich einhüllte. Während der Tee zog, mischte ich Maggies nächste Trinkmahlzeit an und stellte die Schüssel neben die Kiste, so dass sie selbst daran kam. Sie würde zwei Fleischmahlzeiten und drei Schüsseln meiner flüssigen Spezialmischung pro Tag bekommen, bis ihr mehr Zähne wuchsen.

Kaum hatte ich mich mit meinem Becher Tee am Tisch niedergelassen, da kam Menolly in die Küche, dicht gefolgt von Trillian. Sie ließ forschend den Blick über mich gleiten, dann über ihn, und schüttelte den Kopf.

»Ich glaube ja immer noch, dass du verrückt bist«, sagte sie. »Trillian, nimm es mir nicht übel, aber du bist eine einzige schlechte Nachricht auf zwei Beinen. Ist nicht persönlich gemeint.«

Er schnaubte. »Selbstverständlich nicht, meine Liebe. Ich weiß schon, was ich von diesem Urteil zu halten habe – aus dem Mund eines Vampirs

»Das reicht, ihr beiden.« Ich hob meinen Becher. »Wir haben morgen einen langen Tag vor uns, und ich brauche dringend Schlaf, aber vorher will ich dir erklären, was wir vorhaben, weil du ja nicht mitkommen kannst, Menolly.«

Sie setzte sich mir gegenüber und griff nach meiner Hand. Ihre Finger waren kalt und blutlos, aber sie war meine Schwester, also machte mir das nichts aus.

Als ich ihr tief in die Augen sah, dachte ich an früher, als wir noch jung gewesen waren; wie oft hatten wir spät in der Nacht noch lange miteinander geflüstert, manchmal kichernd und aufgeregt, dann wieder ernst und weinend, weil wir die Beleidigungen nicht verstehen konnten, die uns wegen unserer menschlichen Abstammung an den Kopf geworfen wurden. Nun blühte ihr viel Schlimmeres. Vampire waren nirgendwo gut angesehen, außer in den Unterirdischen Reichen. In der Anderwelt wurden niedere Vampire höchstens toleriert. Und in der Erdwelt fürchtete man sie.

Ich drückte ihre Hand. Vampir hin oder her, ich mochte sie sehr und war froh, sie immer noch bei mir zu haben. Der Elwing-Clan hätte sie auch sterben lassen können. Vielleicht wäre das besser gewesen, aber das würden wir nie erfahren. Sie war hier, und das war alles, was zählte.

Trillian beobachtete uns schweigend. Nach ein paar Augenblicken beugte er sich vor. »Sollen wir sie auf den letzten Stand der Dinge bringen?«

Ich holte tief Luft, erzählte ihr alles, was geschehen war, und zeigte ihr das Messer und das Notizbuch. »Wir haben einen Fellgänger am Hals – das könnte allerdings auch ein Zufall sein. Und irgendjemand, der von den Geistsiegeln weiß, streicht um unser Haus herum. Es gefällt mir gar nicht, dich hier allein zu lassen, während wir nach Tom Lane suchen.«

»Tja, ich kann euch kaum begleiten«, sagte sie.

Trillian räusperte sich. »Ich bleibe hier und passe auf das Haus und deine Gargoyle auf. Dieser Chase fährt ja mit, und dein Wolfsjunges überschlägt sich schier vor –«

»Hör lieber auf, ihn so zu nennen«, sagte ich mit Blick in den Flur. »Morio wird sich das nicht ewig gefallen lassen, und er sieht zwar schmal und drahtig aus, aber ich vermute, dass er verdammt stark ist.«

»Du wirst es sicher bald herausfinden«, entgegnete Trillian grinsend. »Wie auch immer, ich bleibe hier, und du und Delilah fahrt da raus.«

Ich seufzte tief. Trillian würde zu seinem Wort stehen, das zumindest war sicher. Seine moralische Haltung mochte fragwürdig sein, und man konnte davon ausgehen, dass er nichts ohne irgendeinen Hintersinn tat, aber er würde uns nicht im Stich lassen.

»Das wäre mir sehr lieb«, sagte ich. »Ich zeige dir, wie man Maggies Sahnemahlzeit anmischt und was sie zu fressen bekommt, und du kannst das Haus im Auge behalten.«

»Dann ist das also abgemacht.« Er beugte sich vor und schnupperte an meinem Tee. »Ich verstehe nicht, wie du dieses Gebräu trinken kannst.«

»Augenblick mal«, mischte Menolly sich ein. »Bittest du etwa diesen Svartaner, den Babysitter für mich zu spielen? Kommt nicht in Frage.«

»Entweder das, oder wir müssen Chase hierlassen.«

Sie seufzte laut, gab aber klein bei. Ich überlegte, ob ich ihr von Chase und Delilah erzählen sollte, beschloss aber dann, das unserer goldblonden Schwester selbst zu überlassen. Menolly würde es ohnehin sehr schnell bemerken.

»Okay, das war dann wohl alles.« Ich trank meinen Tee aus. Die Verspannungen in meinen Schultern lösten sich allmählich, und ich wollte jetzt wirklich schlafen. »Ab ins Bett. Den Göttern sei Dank, dass erst übermorgen Nacht Vollmond ist, sonst gäbe es morgen eine schöne Bescherung. Gute Nacht, Menolly.«

Sie nickte mir zu. »Was ist mit Maggie? Ist sie hier unten sicher?«

»Trillian hält die ganze Nacht lang Wache. Ihr passiert nichts.«

Als ich mich streckte, beugte Menolly sich vor und raunte Maggie etwas ins Ohr. Maggie ließ die lange rosa Zunge hervorschnellen und leckte Menolly das Gesicht, und meine Schwester lachte – ohne den bitteren Zynismus, an den ich mich so gewöhnt hatte, seit sie vom Elwing-Blutclan verwandelt worden war. Vielleicht, ja, vielleicht konnten Maggie und Menolly einander helfen, besser mit den Schicksalsschlägen fertigzuwerden, die ihrer beider Leben verändert hatten. Ich ging hinauf in mein Zimmer.

 

Ich war kaum eingenickt, als ein ohrenbetäubendes Kreischen meine Träume zerriss. Ich schoss aus dem Bett. Geschrei hallte die Treppe herauf. Ich blickte zum Wecker zurück – fünf Uhr morgens. Es dämmerte bereits, doch die Sonne würde erst in einer guten Stunde aufgehen. Ich trug immer noch mein wunderschönes Nachthemd, konnte mir also den Morgenmantel sparen; stattdessen rannte ich direkt zur Treppe. Beinahe wäre ich mit Delilah zusammengestoßen, die die Treppe herunter und um die Ecke geschossen kam, bekleidet mit einem Hello-Kitty-Schlafanzug.

»Was ist los?«, fragte sie und eilte vor mir weiter die Treppe hinunter.

»Ich weiß es nicht –« Ich hielt mich am Geländer fest, als irgendetwas mit einem durchdringenden Kreischen meinen inneren Alarm auslöste. Ich krümmte mich und klammerte mich an den Geländerpfosten, und Delilah packte mich am Arm, damit ich nicht die Treppe hinunterstürzte.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf, um den Nebel zu verscheuchen. Warnglocken schrillten so laut in meinen Gedanken, dass ich dachte, ich müsse taub werden. »Etwas hat die Banne durchbrochen und ist im Haus. Ich hoffe nur, es ist nicht Bad Ass Luke!«

Ein weiteres schrilles Kreischen zerriss die Stille, als wir die unterste Stufe erreichten und den Flur entlangrannten. Wir stürmten das Wohnzimmer, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Morio durch die Luft flog und an die Wand krachte. Ein riesiges, haariges Wesen wandte sich von dem Yokai-kitsune ab und kauerte sich über Trillian, der totenstill am Boden lag.

»Der Fellgänger!«, japste ich.

»Stirb, du Dreckskerl!«, brüllte Morio und rappelte sich auf. Das Haar fiel ihm offen über die Schultern. Seine Ohren waren länger geworden, Haarbüschel sprossen aus den Spitzen, und anstelle seiner Fingernägel glitzerten lange, rasiermesserscharfe Krallen. Mit golden schimmernden Augen sprang er vor, ließ die Krallen durch die Luft zischen, traf den Fellgänger im Rücken und zerfetzte ihm den Pelz. Dunkles Blut sickerte aus der Wunde und verklebte das drahtige Haar, das den ganzen Körper bedeckte.

Ich riss den Blick von Trillian los und streckte die Hände aus. Obwohl mein Zauber nach hinten losgehen konnte, musste ich etwas unternehmen. Die Wolken vor dem Fenster grollten vor Energie, also rief ich diesmal nicht das Mondlicht, sondern den Blitz herbei. Ein Lichtstrahl schoss durch den Raum, als er meinen Ruf befolgte, Feuer flackerte an meinen Armen hinab in die Hände. Ich konnte nicht richtig zielen, weil ich dabei Morio hätte treffen können. Ich würde das Geschöpf also direkt berühren müssen.

Delilah kam wieder ins Wohnzimmer gerannt, bewaffnet mit einem gewaltigen Hackbeil aus der Küche. Sie hob es und ließ es herabsausen, doch im selben Moment versetzte der Fellgänger ihr einen Schlag mit dem Handrücken, der sie über das Sofa fliegen ließ. Ich hörte ein lautes Krachen und ein »O Scheiße!«.

Als sie sich an der Rückenlehne des Sofas hochzog, nutzte ich die Chance und trat mit ausgestreckten Händen vor. Die Blitzenergie sprang aus meinen Handgelenken über, als ich das Wesen an der Seite berührte – gegabelte Strahlen weißglühender Energie durchzuckten das Vieh, und der Gestank von versengtem Haar hing dick in der Luft.

Der Fellgänger heulte und stürzte sich auf mich; mit einer haarigen Pranke erwischte er mein Handgelenk, mit der anderen packte er mich im Nacken.

»Kitsune-bi!«, schrie Morio, und eine Lichtkugel kam auf mich zugerast. Sie verfehlte mich und traf den Fellgänger genau in die Augen. Er kreischte, ließ mich los und versuchte, sein Gesicht zu schützen, geblendet von der grell leuchtenden Fuchslaterne.

Der Fellgänger taumelte, ich schlug erneut mit den flachen Händen zu, und die Blitzenergie, die sich in meinem Körper zusammengeballt hatte, sprang von meinen Fingern auf seine Haut. Diesmal hatte sie volle Kraft. Ein Strahl purer Energie riss das Wesen von den Füßen, es kippte rückwärts um, und Delilah hieb ihm das Beil mitten in die Brust.

Keuchend sank ich zusammen. »Ist er tot?«

Morio krabbelte hin, um nachzusehen. »Ja, der ist tot. Sehr sogar.«

»Was ist hier los?« Menolly platzte mit ausgemergeltem Gesicht herein. »Ich habe schon fast geschlafen. Was war das für ein Lärm – oh, ich sehe, wir haben Besuch.«

Ich kroch zu Trillian hinüber. Der Fellgänger hatte einen Bluterguss an meinem Nacken hinterlassen, und ich spürte, wie der Fleck dunkler wurde. Ich war ziemlich sicher, dass auch Morio und Delilah eine Menge Blutergüsse abbekommen hatten. Während Menolly sich um Delilah kümmerte, kniete Morio sich neben mich und Trillian.

»Ist er –?« Morios Blick stellte die Frage, die ihm nicht über die Lippen kommen wollte.

Ich beugte mich über meinen dunklen Geliebten und lauschte nach Atemzügen. Da – schwach, aber vernehmlich. »Er atmet, aber er ist schwer verletzt. Er braucht sofort Hilfe. Delilah! Ruf Chase an, er soll auf der Stelle ein AND-Sanitäterteam schicken. Es ist ein Notfall.« Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, nahm Trillians Hand und hielt sie fest. »Was hat der Fellgänger mit ihm gemacht?«

Morio schüttelte grimmig den Kopf. »Ich glaube, er hat ihn mit den Klauen erwischt. Fellgänger stecken voller Gift. Wenn sie jemanden beißen oder kratzen, vergiften sie ihr Opfer meistens.« Er suchte Trillians anderen Arm ab. »Hier – eine lange Schnittwunde. Blutet nicht stark, aber siehst du, wie schnell sie sich entzündet hat?«

Die Wunde war nicht tief, aber mit einer dünnen Schicht blubbernden Eiters bedeckt. Es drehte mir den Magen um, während ich hilflos zusehen musste, wie die Wunde rasch vor sich hin schwärte und der Eiter zäh über Trillians wunderschöne schwarze Haut rann.

»Wird er daran sterben?«, flüsterte ich. »Svartaner sind von Natur aus gegen alles Mögliche immun. Das Gift des Fellgängers muss unglaublich stark sein.«

»Das ist es. Stell dir einen Komodo-Waran auf zwei Beinen vor. Trillian hat eine Chance, wenn er rechtzeitig versorgt wird. Aber er kann nicht hierbleiben. Er braucht medizinische Versorgung, die auf der Erde nicht zur Verfügung steht.«

Ich nickte mit gerunzelter Stirn. Der Gedanke gefiel mir nicht, aber wenn er überleben sollte, würde er wohl stärkere Magie brauchen, als sie hier wirken konnten.

»Ja, natürlich. Du hast recht, er muss zurück in die Anderwelt.« Dann erregte ein schwacher Gestank meine Aufmerksamkeit.

Ich kehrte zu dem Fellgänger zurück und beugte mich über ihn, immer noch nervös, obwohl ich wusste, dass er tot war.

»Dämonengeruch. Dieses Ding selbst ist kein Dämon, aber er ist kürzlich einem begegnet. Vorhin auf der Straße war ich nicht nah genug, um es zu riechen, aber... Menolly, kannst du den Geruch genauer identifizieren?«

Menolly kniete sich neben das Wesen und schnupperte mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht. »Dämon, allerdings. Ein niederer. Ich würde auf Bad Ass Luke tippen. Vermutlich bezahlt er den Abschaum von Belles-Faire dafür, dass sie uns im Auge behalten. Und uns beschäftigen. Folglich weiß er, dass wir für den AND arbeiten.«

Ich warf einen Blick nach draußen. Im Osten dämmerte der Morgen, und ich konnte den ersten Schimmer Sonnenlicht am Horizont sehen. Wolken zogen auf, doch es würde noch ein paar Stunden trocken bleiben. »Sonnenaufgang! Menolly, du musst in den Keller. Geh, schnell, und verbarrikadiere die Tür von innen.«

Sie strich mir übers Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte euch heute helfen, aber das kann ich nicht. Passt gut auf euch auf, ihr alle. Wir sehen uns heute Abend.«

Als sie in der Küche verschwand, setzte Delilah sich zu mir, und ich nahm wieder Trillians Hand. Womöglich war es ein schwerer Fehler, mich wieder auf ihn einzulassen, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich ihn kampflos seinen Ahnen überließ.

»Ich habe Iris angerufen«, sagte Delilah. »Sie wird auf das Haus und auf Maggie aufpassen, solange wir weg sind. Die Buchhandlung muss eben heute geschlossen bleiben.«

Ich nickte und brachte kein Wort heraus. Morio ließ sich hinter mir nieder und schlang die Arme um meine Schultern. Erschöpft lehnte ich den Kopf an seine Brust. Während wir dasaßen und zusahen, wie Trillians Atmung immer schwächer wurde, hörten wir endlich Sirenengeheul in der Ferne. Die Sanitäter waren unterwegs – aber würden sie noch rechtzeitig kommen, um ihn zu retten?

Chase eilte herein, gefolgt von einem AND-Notfallteam – die Szene kam mir langsam allzu vertraut vor. Ich zwang mich, beiseitezurücken, damit die Sanitäter Trillian untersuchen konnten. Eine von ihnen, eine jüngere Elfe, kannte ich; das war Sharah, eine Nichte des Elfenhofes. Sie tätschelte mir den Arm, und falls sie es ekelhaft fand, einen Svartaner behandeln zu müssen, verbarg sie ihren Abscheu gut.

Morio und ich schilderten den Medizinern, was geschehen war. Einer von ihnen sah sich den Fellgänger an, während die anderen sich auf Trillian konzentrierten. Ich trat zurück und beobachtete mit einem Gefühl gedämpften Grauens, wie sie ihn auszogen und ihm eine Spritze mit einer schimmernden blauen Flüssigkeit in den Arm jagten. Das Elixier würde sein Herz weiterschlagen lassen, während sein Körper gegen das Nervengift ankämpfte.

Als ich Chase einen kurzen Blick zuwarf, sah ich, dass er einen Arm um Delilahs Taille gelegt hatte. Keiner von beiden merkte, dass ich sie beobachtete, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam. Hätte Menolly doch nur länger aufbleiben können. In diesem Augenblick trat Morio zu mir, und ich griff nach seiner Hand, während wir den hektischen Bemühungen zusahen, Trillians Leben zu retten.

Schließlich ließ sich einer der Mediziner zurücksinken und wischte sich mit einem Tuch die Stirn ab. »Er ist stabil genug für den Transport, aber wir müssen ihn sofort in die Anderwelt bringen. Wenn wir das nicht tun, wird sein Zustand sich rasch verschlechtern, und er wird sterben. Er hat eine tödliche Dosis des Fellgänger-Giftes abbekommen. Wenn er nicht so stark wäre, hätte es ihn bereits getötet.« Der Sanitäter sah uns andere an. »Hat noch jemand eine Schnittwunde? Und sei es nur ein kleiner Kratzer?«

Morio schüttelte den Kopf. »Ein paar Blutergüsse, aber keinen Kratzer. Nicht, dass ich wüsste. Camille? Delilah? Ihr wurdet beide angegriffen. Fehlt euch auch nichts?«

Verwirrt blickte ich an meinem Körper hinab. Mein Nacken schmerzte, aber ich hatte keine Ahnung, ob der Fellgänger mir irgendwo eine Schramme zugefügt hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich.

»Komm mit.« Delilah löste sich von Chase und streckte mir die Hand hin. »Wir gehen nach nebenan und untersuchen uns gegenseitig auf Kratzer.«

Ich warf einen letzten Blick auf Trillian, dessen Augen fest geschlossen waren, bevor ich mich von ihr wegführen ließ.

Im Badezimmer zogen wir uns aus und untersuchten einander gründlich. Ich hatte ein paar Kratzer an der Schulter, aber die stammten von Delilah in Katzengestalt und waren schon fast verheilt. Keine neuen Schnitte, Kratzer oder Hautabschürfungen.

Ich schlüpfte wieder in mein Nachthemd, das natürlich völlig zerfetzt worden war, und sank auf dem Rand der Badewanne zusammen, während Delilah sich ihren Pyjama anzog.

Sie setzte sich neben mich und nahm meine Hand. »Sie werden ihn retten. Er wird wieder gesund, wenn er erst in der Anderwelt ist.«

»Sofern sie ihn überhaupt behandeln, wenn er dorthin kommt. Svartaner sind bei uns nicht gern gesehen, wie du weißt.«

»Die Heiler unterstehen nicht alle der Krone«, widersprach sie. »Er schafft das schon, Camille. Er ist zäh. Und er liebt dich. Warum sonst hätte er zurückkommen sollen? Svartaner kehren nie zu ehemaligen Geliebten zurück, aber er ist zu dir zurückgekehrt.«

Ich schüttelte traurig und erschöpft den Kopf. »Nein. Ich werde mir nichts einreden, was womöglich gar nicht wahr ist. Vor allem, wenn es um sein Leben geht. Ich darf mich nicht in dem Glauben wiegen, dass er mich liebt. Falls er das hier überlebt, werden wir weitersehen.« Doch in einer stillen Ecke meines Herzens flehte ich die Götter an, ihn leben zu lassen. Selbst wenn ich ihn nie wiedersehen sollte – ich wollte nicht, dass er starb.

Als wir zum Wohnzimmer zurückgingen, fragte ich mich, ob dies das letzte Mal war, dass ich Trillian lebend sah.

 

Sobald die Sanitäter sich um unsere Blutergüsse gekümmert hatten, rückten sie mit Trillian und dem Fellgänger ab. Mit heulenden Sirenen rasten sie zum Wayfarer. Sie würden Trillian durch das am besten zugängliche Portal bringen müssen – Großmutter Kojote hätte sie zwar zu ihrem Portal in den Wäldern geführt, aber der rauhe Weg durchs Unterholz hätte ausreichen können, um Trillian umzubringen, ehe sie das Portal erreichten.

Als sie weg waren, gingen Delilah und ich nach oben, um uns umzuziehen. Wir überließen es Chase und Morio, unten aufzuräumen. Während ich mir im Bad das Haar bürstete, blickte ich zu Delilah hinüber, die ihren Schlafanzug gegen Jeans und einen Pulli getauscht hatte. Ich selbst trug einen Wanderrock aus Baumwolle, ein Spaghetti-Top, und darüber eine hauchdünn gewebte Jacke. Als ich meine Stiefeletten zuschnallte, blickte ich auf und sah, dass Delilah mich mit zärtlichem Lächeln beobachtete.

»Was ist denn?«, fragte ich. Ihr Lächeln hatte mich ein wenig erschreckt, denn genau so hatte Mutter gelächelt. Und im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als nach Hause zu laufen, die Erdwelt und die Dämonen hinter mir zu lassen und mich im Schoß meiner Familie einzukuscheln. Doch Mutter war tot, und es war unsere Pflicht, sowohl diese Welt als auch unsere eigene zu beschützen.

»Ich dachte nur gerade, wie hübsch du bist. Weißt du was? Du erinnerst mich an Tante Rythwar.«

Tante Rythwar war eine der Schönheiten des Hofes. Ihre Position war viel sicherer als Vaters, denn sie hatte sich gesellschaftlich hochgeheiratet. Aber sie war unberechenbar, und ich hatte gehört, sie habe bereits mehr als einen Liebhaber getötet, der sie verärgert hatte. Es gab jedoch nie Beweise, daher auch keine Anklage. Und selbst wenn man Beweise gegen sie gehabt hätte, hätte man ihr vergeben, wenn die Königin ihre Handlungsweise für gerechtfertigt hielt. Ihr derzeitiger Ehemann benahm sich vorbildlich und beklagte sich nie.

»Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen. Ach, und danke. Ich nehme das als Kompliment. Übrigens, wie willst du jetzt mit Chase umgehen?«

Delilah schüttelte den Kopf. »Was gibt es da umzugehen? Wir hatten Sex. Vielleicht schlafen wir auch wieder miteinander. Oder auch nicht. Ich glaube, einfacher könnte es kaum sein.«

Ich schüttelte den Kopf. Die Müdigkeit steckte mir in den Knochen, und mir graute vor dem bevorstehenden Tag. »Sei dir da nicht so sicher. Wenn ich in den vergangenen Tagen etwas gelernt habe, dann das: Sag niemals nie. Vor allem, wenn es um Freunde und Liebhaber geht.«

Ich schnappte mir meine Handtasche und ging zur Treppe. Delilah folgte mir mit ihrem Rucksack. Als wir das Wohnzimmer betraten, war die Sauerei beseitigt und das Zimmer wieder aufgeräumt. Ein köstlicher Duft zog aus der Küche herüber, und ich spähte um die Ecke. Chase briet gerade Rühreier und Speck, während Morio Maggie fütterte. Ich fand es rührend, wie sanft er sie streichelte, während sie ihre Sahne schlabberte, deshalb kniete ich mich zu ihm und gab ihm einen raschen Kuss, den er prompt erwiderte.

»Ich danke dir für alles«, sagte ich. »Ohne dich hätten wir das nicht überlebt.«

Morio hielt meinem Blick stand. Ich konnte zwar nicht lesen, was hinter diesen uralten Augen vorging, doch er zwinkerte mir zu. »Es war mir eine Freude, zu Diensten sein zu können. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann... irgendetwas... sag es einfach.«

Chase streckte einen Arm nach Delilah aus, doch die zog nur die Nase kraus und warf ihm eine Kusshand zu. »Essen, Mann. Gib uns zu essen. Das riecht köstlich, und ich bin am Verhungern.«

Mit leicht verwirrter Miene wandte er sich wieder dem Herd zu. »Kein Problem. Ich dachte, wir sollten lieber früh aufbrechen, vor allem nach dem, was eben passiert ist.«

Delilah und ich deckten den Tisch.

Nachdem wir gegessen hatten, schob Chase seinen Teller zurück. »Ich habe heute eine Mitteilung vom Hauptquartier bekommen. Sie bestätigen ganz offiziell, dass drei Dämonen die Portale durchbrochen haben. Sie geben allerdings nicht zu, dass Schattenschwinge die drei geschickt hat.«

Ich knallte meine Gabel auf den Tisch. »Narren. Die müssen doch endlich mal den Hintern hochkriegen und den Schwefel riechen. Also, was empfehlen sie uns denn in dieser Situation?«

»Sie wollen, dass ihr die anderen Dämonen aufspürt und ausschaltet. Sie haben allerdings ausdrücklich betont, dass sie euch aktuell keine offizielle Unterstützung gewähren können. Und das ist alles, was sie gesagt haben.«

Chase bot mir noch eine Scheibe Toast an. Ich schüttelte den Kopf, und er reichte sie Morio.

»Haben sie sich denn zu Tom Lane und den Geistsiegeln geäußert?«, fragte ich. »Weißt du, ob sie davon erfahren haben, was die Leichenzunge gesagt hat?«

»Sie haben das alles mit keinem Wort erwähnt, also nehme ich an, die Antwort lautet nein.«

»Also... unser Auftrag ist einfach nur, die Dämonen wegzuschaffen, die gar nicht erst durch irgendein Portal hätten gelangen dürfen?« Ich hätte darauf wetten können, dass das Hauptquartier die ganze Sache als Zufall abtun würde, bis wir das Geistsiegel in der Hand hielten und es ihnen unter die Nase rieben. Aber Vater hatte schon früher mit Bad Ass Luke zu tun gehabt. Und Vater vermutete, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Chase zuckte mit den Schultern. »Klingt ganz danach. Sie haben jedenfalls unmissverständlich klargemacht, dass es uns nichts nützen wird, über die offiziellen Kanäle irgendetwas anzufordern.«

»Toll«, sagte ich und starrte auf meinen Teller.

Delilah sammelte ihn ein und räumte ihn mit dem restlichen Geschirr ab. »Und, hast du noch etwas über Tom Lane herausgefunden? Weißt du jetzt, wo er wohnt? Als ich gestern Nacht gegangen bin, waren wir in einer Sackgasse gelandet.« Sie errötete, und ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Chase betrachtete sie unverhohlen. »Ja, ich habe weiter nachgeforscht. Ich habe ein paar Stunden geschlafen und dann alte Datenbanken durchforstet. Es gibt einen Tom Lane, der an der Grenze zum Nationalpark wohnt. Sein Haus liegt knapp einen Kilometer vom Goat Creek entfernt – allerdings handelt es sich nach allem, was ich gefunden habe, eher um eine Hütte als um ein richtiges Haus. Er hat anscheinend keinen festen Job, ist aber auch nicht für irgendwelche Sozialleistungen eingetragen. Das ist alles, was ich weiß.«

»Dann haben wir immerhin einen Anhaltspunkt«, sagte ich.

Chase deutete auf den Kalender. »Wir haben Oktober, und inzwischen sind viele Straßen am Mount Rainier gesperrt. Es wäre verteufelt schwierig, durch den Nationalpark zu kommen, also hoffe ich sehr, dass wir Tom Lane da finden, wo wir mit der Suche anfangen.«

Ein Klopfen an der Tür verkündete uns, dass Iris gekommen war. Sie strahlte Besorgnis und Mitgefühl aus, und allein durch ihre Anwesenheit fühlte ich mich gleich besser. Diese strahlend blauen Augen hatten schon eine ganze Lebensspanne von Elend, Krieg und Hunger gesehen, und dennoch liebte Iris die Menschen immer noch so sehr, trotz all ihrer Fehler.

Chase war mit einem riesigen alten Jeep vorgefahren, in den wir alle hineinpassen würden. Während er und Delilah unsere Ausrüstung aufluden und – so vermutete ich – über ihre Liebesnacht sprachen, zeigten Morio und ich Iris, was Maggie zu fressen bekam und wie das Haus am besten zu verteidigen war. Trotz ihrer zarten Statur war Iris sehr wohl in der Lage, einen Angriff abzuwehren; außerdem hatte sie ja Feenblut und verfügte über Verteidigungszauber, die sie verblüffend gut beherrschte. Als wir uns zum Aufbruch bereitmachten, blickte ich mich ein letztes Mal in unserem Haus um und hoffte, es würde noch stehen, wenn wir zurückkehrten – und Menolly würde noch... nun ja, so lebendig sein, wie es einer Untoten eben möglich war.

Jockos Tagebuch lag auf dem Küchentisch. Bei all der Aufregung um den Fellgänger hatte ich es ganz vergessen. Ich stopfte es in meine Schultertasche und eilte zur Tür hinaus. Wir kletterten in den Jeep; Chase und Morio saßen vorn, Delilah und ich auf dem Rücksitz, und so machten wir uns auf, Tom Lane zu finden.