Kapitel 8

 

Also, wie sieht dein großer Plan aus?«, fragte Chase.

»Ich werde einen Findezauber auf diese Feder sprechen. Das könnte funktionieren.«

»Ach, tatsächlich.« Chase zog eine Augenbraue hoch. »Sollte ich lieber eine kugelsichere Weste tragen und was mir sonst noch einfällt, um mich zu schützen?« Seine Stimme machte mehr als deutlich, dass er seine Zweifel hatte.

»Sehr komisch. Meine Magie klappt zum Teil sehr wohl.« Ich zeigte zur Tür. »Komm. Ich muss auf das Dach eines hohen Gebäudes, von wo aus ich einen guten Überblick über die Stadt habe.«

»Zum Teil ist keine besonders gute Quote«, bemerkte er. »Und muss es unbedingt ein Dach sein?«

»Nein, aber irgendein Ort, an dem ich mich zumindest nach draußen lehnen kann.« Ich hängte meine Handtasche um und verabschiedete mich mit einer Umarmung von Iris. »Wir sehen uns später. Lass ja niemanden an meine Einkaufstüte.«

Chase schüttelte den Kopf. »Das werde ich todsicher bereuen«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Wenn du eine gute Aussicht über die Stadt brauchst, kenne ich genau das Richtige. Aber bitte, um Himmels willen, tu nichts, wodurch wir da runterfallen könnten.«

 

Eine halbe Stunde später standen wir vor der Space Needle. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, dieses Wahrzeichen von Seattle zu besichtigen. Die Wolkenkratzer in der Innenstadt machten mir Angst – Delilah liebte sie allerdings. In der Anderwelt gab es Schlösser, die höher waren als diese kahle Stahlkonstruktion, doch sie wirkten irgendwie solider, sicherer, und ich hatte kein Problem damit, auf Wehrgängen herumzustehen.

Ich gönnte Chase einen langen Blick. »Ein öffentlicherer Ort ist dir wohl nicht eingefallen?«

Er grinste. »Du hast gesagt, hoch, gute Aussicht, Zugang nach draußen. Auf der Space Needle gibt es eine Aussichtsplattform, von der aus man fast die ganze Stadt sehen kann. Was willst du mehr? Du brauchst doch kein Feuer zu machen oder irgendetwas zu verbrennen, oder? Ich glaube, das würde dem Sicherheitspersonal nicht gefallen.«

»Nein, ich brauche nichts zu verbrennen«, erwiderte ich genervt. »Was kostet der Eintritt?«

»Ich mache das«, sagte er kopfschüttelnd. Er kaufte uns zwei Karten, und wir betraten das Gebäude. Da es ein Wochentag mitten im Oktober war, waren die Warteschlangen zum Glück sehr kurz. Während wir auf einen der gläsernen Aufzüge warteten, schlug ich vor, wir könnten doch die Treppe nehmen.

Chase warf mir einen Bist du wahnsinnig?-Blick zu. »Die Aussichtsplattform liegt fast hundertsechzig Meter hoch. Hältst du mich für einen Masochisten? Du spinnst wohl. Meine Figur ist auch so ganz gut in Schuss, ohne dass ich meinen Beinen ein derartiges Workout zumute.«

Brummelnd ließ ich mich von ihm in den ganz aus Glas bestehenden Aufzug schieben, achtete aber darauf, dem Rand nicht zu nahe zu kommen. Ich vergaß doch immer wieder, dass VBM einfach nicht so viel Ausdauer besaßen wie wir. Trotz meines zur Hälfte menschlichen Blutes konnte ich so ziemlich jedem Menschen auf diesem Planeten davonlaufen und mehrere Tage ohne Schlaf überstehen, ohne vor Erschöpfung umzukippen. Die Kabine setzte sich ruckartig in Bewegung, und ich schloss die Augen. Es dauerte einundvierzig Sekunden, bis wir die einhundertachtundfünfzig Meter zur Aussichtsplattform hinaufgefahren waren. Mir war ein wenig schwindelig, als ich aus dem Aufzug trat.

Zumindest drehte sich die Plattform nicht ständig im Kreis herum wie das Restaurant. Für diese Kleinigkeit war ich sehr dankbar, als ich Chase durch die Türen hinaus auf die Plattform folgte, die sich einmal um die Space Needle herumzog.

Es waren nur wenige Leute hier. Die meisten mieden den schmalen, regennassen Umlauf und schauten lieber von drinnen durch die Fenster hinaus. Definitiv keine Touristensaison. Während ich mich an die Brüstung klammerte und sehr vorsichtig über den Rand spähte, kam mir der Gedanke, dass dies vielleicht doch keine so gute Idee war. Hundertsechzig Meter waren ganz schön hoch. Das bedeutete wiederum einen ziemlich langen, tiefen Fall.

»Auf der Südseite scheint gar niemand zu sein«, sagte Chase und deutete dorthin.

»Das liegt wohl daran, dass man dort dem Regen ausgesetzt ist«, gab ich zurück. Aber ich konnte keine neugierigen Blicke gebrauchen, also würde ich eben nass werden müssen. Ich beschloss, es möglichst rasch hinter mich zu bringen, und ging voran. Vorsichtig überprüfte ich das Sicherheitsstahlnetz, das Selbstmörder daran hindern sollte, sich von der Plattform zu stürzen. Ich befand es für solide genug und entspannte mich ein wenig. Falls jemand es wirklich ernst meinte, konnte er darüberklettern, doch dazu müsste man sich schon richtig Mühe geben.

Wir fanden eine Stelle, auf die gerade keine neugierigen Blicke gerichtet waren. Ich holte die Feder hervor und starrte zum Himmel hinauf. Keine Sterne, kein Mond, nur eine Menge grauer Regenwolken, doch zumindest waren wir draußen, wo der Wind meine Magie stärken würde. Ich hoffte sehr, dass es diesmal keinen Kurzschluss geben würde, atmete tief durch, rief die Magie wach und spürte, wie sie durch meine Adern rann, als das Feuer in mir aufflackerte. Der Funken der Schöpfung zündete, und ich lenkte die Energie in die Feder.

Geschöpf der Nacht, dämonische Harpyie,
Wo bist du? Weise mir den Weg,
Feder, zeig wie ein Pfeil zum Fleische,
Herrin des Mondes, zeig mir das Versteck.

Als meine Stimme erstorben war, blickte Chase sich nervös um. »Es tut sich nichts«, sagte er.

»Ach wirklich? Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ist rührend.«

»Kein Grund, so sarkastisch zu werden.« Doch seine Miene verriet mir, dass er sehr wohl wusste, wie er mich damit traf, und dass er es genoss.

»Ehrlich«, fuhr ich ihn an, »erst machst du dir Sorgen, es könnte etwas passieren, und jetzt regst du dich auf, weil nichts passiert. Was willst du eigentlich?«

Er verbiss sich ein Lachen. »Camille, du bist wunderbar. Du bist einfach wunderbar, mit fehlgezündeter Magie oder oh. . . « Er verstummte abrupt und starrte auf die Feder in meiner Hand. »Was wird denn das?«

Die Feder wuchs in meiner Hand, und die Aura, die sie verströmte, hatte bereits eine völlig andere Qualität angenommen. Vorsichtig legte ich die Feder auf den Boden der Plattform und achtete darauf, dass der Wind sie nicht wegwehte.

»Was passiert jetzt?« Chases Stimme klang ein wenig erstickt, und als ich zu ihm aufblickte, sah ich unverkennbare Angst in seinen Augen aufflackern.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Wir werden wohl abwarten müssen, was kommt.«

So etwas hätte der Spruch nicht bewirken sollen. Eigentlich hätte die Feder sich in einen Pfeil verwandeln müssen, der dann in die Richtung zeigen würde, in der sich die Harpyie versteckte. Natürlich liefen bei meinen Sprüchen eine Menge Dinge nicht so wie geplant. Aber Menolly würde dazu nur sagen: »Mach was draus.«

Die Feder zog sich in die Länge, veränderte ihre Form, und ich wich zurück und schob Chase hinter mich. Magie war meine Stärke, Kurzschlüsse hin oder her. Ich wurde nervös und wäre am liebsten einfach abgehauen, doch da waren noch andere Leute auf der Plattform, wenn auch nur ein paar. Ich konnte sie nicht allein hier zurücklassen mit was auch immer ich da herbeigerufen hatte.

»O Scheiße!« Chases Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken, und blinzelnd sah ich zu, wie aus der Wolke glitzernden Nebels die vollständige Gestalt einer Harpyie hervortrat, die einen zappelnden Sack trug. Der Dämon war über zwei Meter groß. Der untere Teil des Körpers, der in zwei klauenbewehrten Füßen endete, erinnerte vage an einen Vogel Strauß – braun und gelb gefiedert –, während der Oberkörper der einer Frau war. Flügel ragten aus ihrem Rücken hervor, ihre Brüste waren straff, doch das Gesicht war das eines verrunzelten alten Weibes. Mit glitzernden Augen musterte sie uns von oben bis unten.

»Mann, bist du vielleicht hässlich«, entfuhr es Chase, und er pfiff durch die Zähne.

Ich war so nervös, dass ich ein scharfes Lachen nicht unterdrücken konnte. »Halt doch die Klappe! Sie ist gefährlich.«

Ein paar Mädchen, die nahe genug gekommen waren, um zu sehen, was da los war, rannten kreischend davon. »Der verdammte Spruch hat funktioniert, aber statt uns zu der Harpyie zu führen, hat er die Harpyie zu uns gebracht«, brummte ich.

»Wie auch immer, sie sieht nicht erfreut aus. O Scheiße – pass auf!«

Chases Schrei rüttelte mich aus meinem Schockzustand. Das war auch gut so, denn die Harpyie entschied sich im selben Moment, mich anzugreifen. Ich duckte mich, und ihre Klauen zischten an mir vorbei. Ihre Fingernägel waren so lang wie kleine Küchenmesser – und ebenso scharf. Ich verspürte keinerlei Lust darauf, von ihr getätschelt zu werden. Rina war der nun nicht mehr lebende Beweis dafür, was dieser Dämon anrichten konnte.

Ich sog scharf die Luft ein und rief die Mondmutter an. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie da war, oberhalb der Schichten aus Wolken und Tageslicht, und ich fühlte ihre Energie widerhallen, als sie meinen Ruf beantwortete. »Herrin, lass mich jetzt nicht im Stich«, flüsterte ich und hob die Hände, um die Kugel aus schimmerndem Mondlicht einzufangen, die sich vor mir bildete.

»Greif an und zerstöre!«, schrie ich und befahl damit der Energie, den Feind zu attackieren.

Die schimmernde Kugel dehnte sich zu einer leuchtenden Klinge und stach auf die Harpyie ein. Die wich kreischend einen Schritt zurück, ließ mich aber nicht aus den Augen. In diesem Moment schob Chase sich von rechts an mir vorbei, und eine Explosion zerriss die Luft, die mich zu Tode erschreckte – er hatte einen Schuss abgefeuert.

»Verdammt, so verliere ich die Kontrolle über die Energie –«, rief ich, aber es war zu spät. Die Kugel aus Mondlicht gehorchte nun ihrem eigenen Willen und entschied offenbar, dass sie das haben wollte, was die Harpyie in diesem Sack mit sich trug. Die Energie schlug nach ihrem Arm, und die Harpyie ließ den Sack auf die Plattform fallen. Chases Kugel hatte dem Dämon natürlich rein gar nichts anhaben können.

Ich stieß ihn aus dem Weg und versuchte, das Mondlicht wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte es verloren, und es würde einfach weiter tun, was es selbst für richtig hielt. Und offensichtlich wollte sich das Licht um den Sack legen und ihn schützen. Die Harpyie fauchte und kam wohl zu dem Schluss, dass sie den Kampf um den Sack verloren hatte. Also wandte sie sich wieder mir zu.

»Wir brauchen sie lebend, Chase.« Ich wich dem schimmernden Schild aus Mondlicht aus, konzentrierte mich auf die Harpyie und rief noch einmal die Mondmutter an. Licht fuhr an meinen Armen entlang in meine Hände, ich führte sie zusammen und zielte damit auf sie.

»Greif an und zerstöre!« Ein Strahl wie aus Quecksilber schoss aus meinen Händen auf die Harpyie zu, und diesmal traf er sie mit voller Wucht. Sie wurde in die Luft geschleudert und hing über dem Rand der Brüstung, während der Strahl sich weiterhin aus meinen Händen ergoss. Ich hatte sie nur fangen wollen, doch offensichtlich hatte ich ein bisschen zu viel Schwung in meinen Zauber gelegt, denn das Licht hüllte sie nun vollständig ein, und ihre Schwingen erschlafften. Mit einem langgezogenen Kreischen stürzte sie vom Himmel und schoss hilflos auf den Erdboden zu.

»O zur Hölle!« Ich rannte zur Brüstung und spähte hinab, und Chase folgte mir sofort. Die Harpyie war mit voller Wucht auf den Bürgersteig geknallt und nur noch ein großer, roter Fleck. Der Lärm hastiger Schritte sagte uns, dass die Wachleute schon unterwegs waren. Ich wandte mich Chase zu. »Was tun wir jetzt? Sie dürfen nichts von den Dämonen erfahren.«

»Ich rede mit ihnen. Ich erzähle ihnen, eine Fee hätte Selbstmord begangen«, sagte er. »Ich schaffe das AND-Team her. Geh, schnell!«

Ich schnappte mir den Sack, den die Harpyie mitgebracht hatte, und tat das Einzige, was mir einfiel. Ich hoffte inständig, dass meine Magie diesmal fehlerfrei funktionieren würde, versammelte das Licht um mich herum und hüllte mich darin ein. Den Göttern sei Dank wurden diesmal nicht nur meine Kleider unsichtbar. Ich trat so leise wie möglich von einem Schatten zum nächsten und schlich mich so zur Treppe, während Chase zurückblieb, um die Schweinerei aufzuräumen. Als ich in aller Heimlichkeit mein Auto erreicht hatte, lehnte ich mich im Sitz zurück, schloss die Augen und wartete darauf, dass der Unsichtbarkeitszauber nachließ. Bei meinem Glück würde das vermutlich den ganzen Tag dauern, also saß ich hier fest, bis mich irgendjemand abholte. Autos fuhren nun einmal nicht von allein die Straße entlang, und ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen, vor allem, da mindestens zwei weitere Dämonen in der Stadt herumstreiften. Die Harpyie hatten wir erledigt, aber Bad Ass Luke und der Psychoschwafler liefen immer noch frei herum.

Ich hatte noch nie mit einem leibhaftigen Dämon kämpfen müssen, und die Begegnung mit der Harpyie hatte mich erschüttert. Ich war nicht scharf darauf, dieses Erlebnis zu wiederholen, aber irgendwie fürchtete ich, dass meine Wünsche in nächster Zeit keine große Rolle spielen würden.

Heute jedoch war das Glück auf meiner Seite. Meine Hände wurden verschwommen wieder sichtbar, und als ich meine Finger anstarrte, ging mir ein Licht auf, und ich stöhnte laut. Ich musste unbedingt Chase anrufen – wenn er den AND-Gerichtsmediziner dazu bringen konnte, der Harpyie eine Klaue abzuhacken, könnte ich damit Großmutter Kojote bezahlen.

Ich überlegte, ob ich zur Buchhandlung zurückfahren sollte, als das Bündel, das meine Energiekugel der Harpyie entrissen hatte, auf meinem Schoß zu zappeln begann. Was zum Teufel... ? Vorsichtig löste ich den Knoten des Sacks und schob den groben Stoff auseinander. Was hatte das Mondlicht so unbedingt vor dem Dämon schützen wollen?

Ein Gargoyle-Baby starrte mir entgegen. Seine Augen waren leuchtend blau. Es war ein Weibchen mit Schildpattzeichnung und weichem, flaumigem Fell, und ihr Gesicht war das Niedlichste, was ich je gesehen hatte.

»Na, hallo«, sagte ich und hob sie sanft heraus. Ihre Flügel waren noch viel zu klein, um sie zu tragen; sie würde noch eine ganze Weile nirgendwohin fliegen können. Sie sah aus, als sei sie viel zu jung, um schon von der Mutter getrennt zu sein. Als ich den Welpen betrachtete, traf mich eine Erkenntnis von der Sorte, die man lieber nie gehabt hätte.

Gargoyles und Einhörner gehörten zu den Lieblingsspeisen einiger Dämonen, und seit Jahren machten Gerüchte die Runde, dass sie sie in den Unterirdischen Reichen wie Vieh züchteten. Wenn das stimmte, war dieser Welpe vermutlich als Nachmittagssnack für die Harpyie gedacht gewesen. Ich verzog das Gesicht, drückte die Gargoyle an meine Brust und streichelte sie. Sie rülpste laut und stieß dann einen schwachen Schrei aus, während sie an meinen Brüsten kratzte.

»Du hast Hunger. Ich fürchte, ich gebe keine Milch, meine Kleine«, sagte ich und hielt sie hoch. »Aber zu Hause finden wir bestimmt etwas für dich.« Sie krallte sich in meinem Haar fest. Ich entwirrte die kleinen Klauen und legte sie wieder in den Sack. Mit einiger Mühe fand ich eine Möglichkeit, sie mit dem Sicherheitsgurt zu fixieren, und als der letzte Rest meiner Zehen flackernd sichtbar wurde, fuhr ich aus der Tiefgarage und schlug den Heimweg ein.

 

»Wie willst du sie nennen?«, fragte Chase. Er war zu uns nach Hause gekommen, sobald er den Fall mit der Harpyie abgeschlossen hatte; er saß am Tisch, spielte mit dem Welpen und bemühte sich, nicht allzu erstaunt dreinzublicken. Ich konnte das Lachen – und den Schock – in seinen Augen sehen.

»Maggie«, sagte ich. »Für mich sieht sie einfach wie eine Maggie aus.«

»Ich dachte, Gargoyles wären Wasserspeier – Figuren aus Stein«, sagte er und kitzelte ihren Bauch, während ich eine Schüssel zum Tisch trug und vor sie hinstellte. Sie tat einen zögerlichen Schritt darauf zu, dann schnellte ihre Zunge hervor, und sie beugte sich über die Schüssel und umklammerte die Ränder mit ihren winzigen Händen. Während sie trank, fragte Chase: »Was gibst du ihr da?«

Ich setzte mich neben ihn an den Tisch, beugte mich vor und betrachtete das Wesen, das selig sein Mittagessen schlabberte. »Eine Mischung aus Sahne, Zucker, Zimt und Salbei. Ich musste unbedingt sofort mit dem Salbei anfangen.«

»Warum?«

»Weil Gargoyles den brauchen, um sich richtig zu entwickeln. Diese Kleine wird ihre Mutter nie wiedersehen, also werde ich tun müssen, was ich kann, damit sie sich so normal wie möglich entwickelt. Aber sie hat irgendetwas Seltsames an sich... «

»Du meinst, abgesehen von der Tatsache, dass sie aussieht wie eine geflügelte, missgestaltete Katze?« Chase kicherte, doch mir entging nicht, dass er den Blick nicht von Maggie losreißen konnte, und mir wurde klar, dass er von ihr bezaubert war. Chase mochte also Tiere, ob sie nun von der Erde stammten oder aus der Anderwelt. Der Gedanke machte ihn mir gleich ein wenig sympathischer.

»Gargoyles sehen aus wie Stein und fühlen sich auch so an, wenn sie durch einen Auftrag gebunden sind. Sie sind von Natur aus Wächter – Beobachter. Obwohl sie über eine gewisse Intelligenz verfügen und auch einen begrenzten Wortschatz erlernen können, denken sie nicht, wie wir es tun. Außerdem sind sie unglaublich langlebig, sogar noch langlebiger als wir Sidhe. Ein paar der Gargoyles, die man an den Mauern von Notre-Dame und anderen Kathedralen sieht, sind in Stasis; sie beobachten und registrieren alles, was auf der Erde vor sich geht. Sie sitzen dort schon so lange zwischen den Statuen, dass sie sich vielleicht nie wieder zurückverwandeln können. Ich kenne mich mit ihrer Geschichte nicht so genau aus, aber ich sollte das mal nachlesen, jetzt, wo Maggie bei uns ist.«

Chase strich mit den Fingerspitzen sacht über ihren Rücken. »Sie fühlt sich weich an. Willst du sie behalten, oder schickst du sie in die Anderwelt zurück?«

Ich zuckte mit den Schultern. Wenn ich sie nach Hause schickte, konnte ich mich nicht darauf verlassen, dass man sich dort gut um sie kümmern würde. Hof und Krone scherten sich nicht viel um Kryptos, bis auf Einhörner und Pegasi. Irgendwann in der fernen Vergangenheit hatte man sich die Gargoyles dienstbar gemacht, und in Y’Elestrial waren sie seither rechtlos. Oft wurden sie wie Tiere benutzt – intelligente Tiere, aber dennoch nicht mehr als Tiere.

»Maggie ist ein Krypto. Kryptiden sind Wesen, die die Menschen für reine Erfindung halten, aber sie haben eine sehr lebhafte Geschichte in den Mythen und Legenden der Erde. Die meisten sind Einzelgänger und bleiben für sich. Ich glaube, ich werde sie behalten. Dann weiß ich wenigstens, dass sie in Sicherheit ist.« Gedankenverloren streichelte ich ihr Babyfell. »Jetzt erzähl mir, was ihr mit der Harpyie gemacht habt. Ach, du hast nicht zufällig daran gedacht, ihr einen Finger abzuschneiden, oder? Den könnte ich wirklich gut gebrauchen.«

Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar. »Ach ja, ein Dämonenfinger. Nein, tut mir leid, darauf bin ich nicht gekommen. Würdest du mir bitte sagen, wofür zum Teufel du eigentlich einen Finger von einem Dämon brauchst?«

»Als Bezahlung für eine Information. Wenn ich keinen auftreiben kann, muss ich einen meiner eigenen Finger opfern. Vorhin habe ich vergessen, dich darum zu bitten, weil ich es so eilig hatte, von dieser verdammten Space Needle herunterzukommen. Da will ich nie wieder hoch«, sagte ich und schauderte. »Ich leide unter Höhenangst, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest. Und jetzt sag mir, was du herausgefunden hast.«

Er starrte mich an, als sei ich nicht mehr ganz dicht. »Du schuldest jemandem den Finger eines Dämons als Bezahlung für eine Information? Was für durchgeknallte Spielchen treibst du eigentlich, Camille? Nein, schon gut«, fügte er hastig hinzu. »Ich will es gar nicht wissen. Also, hier ist die Kurzfassung: Die Polizei hat sich verzogen, als ich meine Marke gezückt habe. Ich habe das AETT gerufen, und es gab keine Probleme.«

»Na, jetzt weiß der AND jedenfalls ganz sicher, dass hier Dämonen herumschleichen«, sagte ich. »Das sollte sie davon überzeugen, dass eine ernsthafte Bedrohung vorliegt. Haben sie irgendetwas Besonderes an dieser Harpyie festgestellt, wovon wir wissen sollten?«

Chase warf einen Blick zur Küche. »Hättest du etwas zu trinken für mich? Ich habe den Bericht mitgebracht. Hab ein bisschen Druck gemacht, damit es mit der Autopsie schneller ging. Die Leute vom AND haben keine... wie hast du das genannt?... Leichenzunge geholt – und mehr war nicht.«

»Das wäre nicht sinnvoll gewesen. Leichenzungen haben keinerlei Macht über Dämonen.«

»Aha, das wusste ich nicht«, sagte er. »Sie haben allerdings einen Magier mitgebracht. Er sollte... ich muss schnell nachschauen.« Er las in seiner Akte nach. »Ach ja; er war da, um die magische Signatur des Dämons zu untersuchen. Sagt dir das irgendwas?«

»Das wird routinemäßig so gemacht«, erwiderte ich und stand vom Tisch auf, um im Kühlschrank nach Getränken zu suchen. »Möchtest du Limonade? Oder lieber etwas Stärkeres? Wein? Absinth – den Nektar der Grünen Fee?«

Chase blinzelte. »Absinth ist illegal.«

»Nicht in der Anderwelt, und strenggenommen gilt das Haus eines AND-Agenten als Staatsgebiet der Anderwelt, solange wir uns hier aufhalten. So ähnlich wie eine Botschaft. Ich darf Absinth im Haus haben, ich darf ihn nur nicht von unserem Grundstück bringen.« Absinth, eine der wenigen Annehmlichkeiten von zu Hause, die wir uns hier gönnten, war ursprünglich vor Hunderten von Jahren über die Feenkönigin in die Erdwelt gelangt. Er war ein Geschenk der Sidhe an die Sterblichen gewesen.

»Vielleicht später«, sagte Chase. »Aber ein Glas Wein wäre schön. Rotwein, wenn du welchen hast.«

Ich holte eine Flasche Wein hervor, die unser Vater uns mit dem letzten Fresspaket von zu Hause geschickt hatte. Er war aus den feinsten Trauben der Anderwelt gekeltert, so schwer und rot wie Blut und so weich wie Cognac. Ich schenkte zwei Gläser ein, reichte eines Chase und wärmte das andere in meiner Hand.

Er nippte und machte große Augen. »So etwas habe ich noch nie geschmeckt«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich tiefer.

»Du trinkst gerade Feenwein. Also, was ist jetzt mit der Harpyie?« Ich sah nach Maggie, die aufgegessen und sich auf einem Kissen zusammengerollt hatte, das ich für sie auf den Tisch gelegt hatte.

»Sie war ein Dämon, kein Zweifel, und Jacinth hat gesagt – kennst du sie? Sie ist die AND-Medizinerin, die an der Harpyie gearbeitet hat; sie hat auch Jocko untersucht.«

Ich nickte. Jacinth und ich kannten uns von klein auf. Sie war eine der Guten – sie hatte uns nie wegen unseres gemischten Blutes verspottet, und ich respektierte und mochte sie.

»Jacinth hat gesagt, es sehe so aus, als sei die Harpyie erst seit wenigen Tagen erdseits, was zu der Beobachtung passen würde, dass Dämonen durch den Wayfarer eingedrungen sind.« Er blätterte den Bericht durch. »Hier steht, dass sie ein Halsband trug, das sie als Angehörige von etwas namens DegathKommando ausweist.«

O verdammt. »Degath-Kommandos sind darauf spezialisiert, als Späher Informationen einzuholen. Damit ist die Sache klar. Großmutter Kojote hat recht – Schattenschwinge hat Kundschafter ausgeschickt, und sie suchen nach den Geistsiegeln.«

Chase betrachtete mich mit dunklen, undurchdringlichen Augen. »Was sollte unser nächster Schritt sein?«

»Wir müssen Tom Lane finden. Das Siegel beschaffen, bevor sie es sich holen können. Irgendwie müssen wir die Dämonen töten, bevor sie noch jemanden ermorden. Ich hoffe nur, wir schaffen es, die beiden zu finden, ehe sie uns aufspüren.«

»Euch – und mich. Wann kommt Delilah nach Hause?«

»Ich frage sie schnell«, sagte ich, holte mein Handy aus der Handtasche und wählte. Delilah meldete sich beim dritten Klingeln. »Du musst nach Hause kommen«, sagte ich. »Wir haben die Harpyie gefunden und sie getötet.«

Sie klang erleichtert. »Den Göttern sei Dank. Die Harpyie hat Louise Jenkins in die Klauen bekommen, bevor ich sie erreichen konnte. Ich bin auf dem Heimweg. Bin in zehn Minuten da.«

»O verdammt, Louise ist tot?« Ich warf Chase einen Blick zu, der den Kopf hochriss. Er schob mir den Notizblock hin, und ich kritzelte Louises Namen darauf.

»Ja. Chase will sicher ein Team dorthin schicken. Ich glaube, noch hat niemand etwas bemerkt, denn von Polizei oder so war weit und breit nichts zu sehen. Ich habe Handschuhe getragen und darauf geachtet, nichts mit bloßen Händen zu berühren.«

»Chase ist hier, ich sage ihm Bescheid. Wie war noch mal ihre Apartment-Nummer?« Ich notierte die genaue Adresse. »Okay, danke. He, würdest du unterwegs irgendwo anhalten und uns ein paar Pizzas zum Abendessen mitbringen? Mit Würstchen, Schinken, Ananas und was dir sonst noch Leckeres einfällt.« Als ich das Handy zuklappte, bemerkte ich, dass die kleine Maggie tief und gleichmäßig atmete – sie war eingeschlafen.

Chase hängte sich ans Telefon, sobald ich ihm sämtliche Informationen gegeben hatte, und wieder wurde das AETT alarmiert. Er bat die Agenten, sich bei ihm zu melden, sobald sie wussten, was passiert war.

Während wir auf Delilah warteten, richtete ich einen Karton für die Gargoyle ein, und bald kuschelte Maggie sich zufrieden in ihrem Bettchen zusammen. Chase und ich setzten uns ins Wohnzimmer und sahen uns die Nachrichten an. Es gab einen kurzen Bericht über die »seltsame Fee«, die von der Aussichtsplattform der Space Needle gestürzt war. Zumindest hatten die Reporter nicht spitzgekriegt, dass die Harpyie ein Dämon gewesen war, obwohl sie ein paar geschmacklose Scherze über abgestürzte Hühner machten. Louise Jenkins wurde mit keinem Wort erwähnt; das Tatortteam untersuchte den Fall offenbar noch.

Als meine Schwester endlich durch die Tür schlüpfte, war ich am Verhungern. Ich nahm Delilah die Pizzaschachteln ab und legte sie auf den Couchtisch. »Du musst unbedingt in die Küche gehen und dir ansehen, was ich gefunden habe. Wenn sie wach ist, bring sie gleich mit rüber.«

Delilah ging durchs Esszimmer, während ich eine Schachtel öffnete und gierig die dicke Pizza mit Würstchen und Pilzen beschnupperte, auf der extra viel Käse glänzte. »Ihr habt hier wirklich leckeres Essen, Chase. Allein deswegen könnte ich mich glatt daran gewöhnen, erdseits zu leben.«

Er schnaubte belustigt, als Delilah zurückkehrte, mit Maggie auf dem Arm. »Sie ist entzückend. Wo hast du sie gefunden?« Sie ließ sich im Schaukelstuhl nieder und kitzelte die nun hellwache und etwas verwunderte Gargoyle.

Wir berichteten ihr von unserer Begegnung mit dem Dämon. »Mein Zauber ist schiefgegangen, aber zumindest konnten wir das Resultat noch gebrauchen«, sagte ich. »Sie gehörte zu einem Degath-Kommando. Du weißt ja, was das bedeutet.«

Delilahs Lächeln verblasste. »Höllenspäher.«

»Ja, und die Harpyie ist zwar tot, aber die beiden gefährlicheren Dämonen stehen uns noch bevor. Wir müssen schnell Pläne machen, wie wir an Tom Lane herankommen. Ich glaube, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Also, erzähl uns von Louise.«

Delilah verdrehte die Augen. »So viel schlechte Neuigkeiten auf einmal gibt es eigentlich gar nicht. Aber ich würde lieber warten, bis Menolly wach ist.« Sie warf Chase einen Blick zu, der ihn mit frustriertem Nicken erwiderte.

Ich nahm Delilah Maggie ab und spazierte mit ihr zum Fenster. Die Abenddämmerung brach herein. »Ich habe Hunger«, sagte ich. »Chase, würdest du Maggie halten, während Delilah und ich den Tisch decken?«

Er wollte protestieren, doch ich drückte ihm einfach die Gargoyle in die Arme, reichte ihm die Fernbedienung, schnappte mir die Pizzaschachteln und bedeutete Delilah, mir in die Küche zu folgen. Während ich Teller und Servietten auf dem Tisch verteilte, schenkte Delilah Chase und mir Wein nach und goss sich ein Glas Milch ein.

»Ich habe solchen Hunger«, sagte Delilah und leckte sich die Lippen, als sie den Parmesanstreuer auf den Tisch stellte. »Chase kommt mir heute Abend richtig nett vor. Er benimmt sich nicht mehr so, als hielte er mich für eine Missgeburt.«

Ich warf ihr einen Blick zu und grinste. »Vielleicht hat der Anblick der Harpyie ihm vor Augen geführt, wie normal du im Grunde bist.«

Lachend schob Delilah eine Schüssel Brokkoli in die Mikrowelle und stellte das Gerät auf drei Minuten ein.

»Weißt du«, bemerkte ich, »ich habe zwar oft Heimweh, aber ich muss zugeben, dass Technologie viele Dinge sehr vereinfacht. Die Elektrizität wird mir fehlen, wenn wir nach Hause gehen.«

»Dafür hatten wir dort Diener«, erwiderte Delilah. »Aber dem Himmel sei Dank dafür, dass Mutter uns so viel beigebracht hat. Zumindest beherrschten wir die Sprache und konnten uns in der Kultur zurechtfinden, als wir hierherkamen.« Mutter hatte uns zweisprachig erzogen und uns viel über die Gebräuche auf der Erde beigebracht, seit wir ganz klein gewesen waren.

»Das stimmt. Ich schätze, wir waren schon die logische Wahl für diesen Posten. Vielleicht wollte das Hauptquartier uns damit doch nicht bestrafen. Die meisten Agenten, die auf die Erde geschickt werden, brauchen lange, bis sie sich überhaupt zurechtfinden. Aber wir wussten schon sehr viel über das Leben hier, bevor wir zum AND gegangen sind.«

»Das ist ein tröstlicher Gedanke.« Delilah spähte aus dem Flur ins Wohnzimmer. »Chase und Maggie sind eingeschlafen. Sie ist ja so süß. Können wir sie wirklich behalten?« Ihr sehnsüchtiger Tonfall entlockte mir ein Lächeln. Delilah hatte früher immer herrenlose Tiere angeschleppt, und Mutter hatte Vater gebeten, hinten am Haus einen Schuppen anzubauen, eigens für Delilahs kleine Menagerie.

»Ja, wir können sie behalten. Vermutlich halten die Dämonen ihre Mutter als Gebärmaschine für leckere Snacks, und das Hauptquartier wird Maggie nicht haben wollen. Ich weiß nicht, wie Menolly dazu stehen wird, aber wir kriegen sie bestimmt herum.«

»Alles ist fertig. Essen wir.« Damit ging sie hinüber, um Chase zu wecken. Während er sich die Hände wusch, zeigte ich Delilah, wie man Maggies Sahnemahlzeit zusammenrührte. Wir fütterten sie und legten sie in ihr Bettchen, bevor wir uns selbst zum Essen setzten.

»Sind Gargoyles eigentlich intelligent?«, fragte Chase und nahm sich sein drittes Stück Pizza.

»Einige schon«, sagte ich zurückhaltend, nur für den Fall, dass Maggie rudimentäre Sprachkenntnisse besitzen sollte. »Sie können genial sein oder gerade so den Verstand einer durchschnittlichen Katze entwickeln. Das hängt stark davon ab, wie ihre Mütter sich während der Schwangerschaft ernähren, von welcher Blutlinie sie abstammen, und ob man bei der Geburt grob mit ihnen umgegangen ist. Da die Harpyie Maggie hatte, bin ich nicht sicher, ob sie jemals schlauer sein wird als ein gewöhnliches Haustier. Vielleicht wird sie nicht die Fähigkeit besitzen, in Stasis zu fallen.«

Wenn sie das nicht konnte, würde sie für den AND völlig nutzlos sein. Angesichts der Lebensbedingungen, die Gargoyles aufgezwungen wurden, wenn man sie in die Erdwelt schickte, war das vermutlich das Beste für sie. Manche Gargoyles, vor allem die weniger intelligenten, waren nicht zur völligen Erstarrung fähig.

Chase blinzelte, als ein lautes Schnarchen aus Maggies Kiste drang. »Sie klingt ein bisschen wie eine Katze und ein bisschen wie ein Schwein.«

»Sie schnaufen so, wenn sie zufrieden sind.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Es wird Zeit, Menolly zu wecken. Wir müssen Pläne schmieden.«

»Hauptsache, wir finden Tom Lane, bevor Bad Ass Luke ihn aufspürt«, sagte Delilah.

»Und bevor Bad Ass Luke uns aufspürt«, gab ich zurück. Weder sie noch Chase wollten darauf etwas erwidern.