Kapitel 1

 

Seattle ist eigentlich fast das ganze Jahr über düster, aber der Oktober kann besonders scheußlich sein, was schlechtes Wetter angeht. Vom bleigrauen Himmel trommelte der Regen herab und schlug schräg gegen die Fenster, um in kleinen Sturzfluten am Glas hinabzuströmen. Auf dem Boden sammelte sich das Wasser zu großen Pfützen, wo sich Unkraut durch das gesprungene Pflaster geschoben hatte. Zum Glück lag der Eingang zum Indigo Crescent etwas erhöht an einer kleinen Rampe, hoch genug, so dass die Kunden den Laden trockenen Fußes betreten konnten. Sofern man nicht vom Rand abrutschte und mit einer Sandalette in der Pfütze landete, so wie ich es eben geschafft hatte.

Ich schüttelte den Regen ab, als ich meinen Laden betrat, und tippte den Code der Alarmanlage ein. Dank meiner Schwester Delilah sprang diese Anlage nicht nur bei einem Einbruch an, sie meldete auch Spione. Und dieses beruhigend sichere Gefühl konnten wir angesichts der Tatsache, wer wir waren und woher wir kamen, wirklich gebrauchen.

Mein Fuß erzeugte ein schmatzendes Geräusch, als ich auf den Zehn-Zentimeter-Absätzen zu meinem Lieblingsplatz hinüberhumpelte und aus einer Riemchensandalette schlüpfte. Während ich den Designerschuh trockentupfte, ging mir durch den Kopf, dass es manchmal recht günstig war, zur Hälfte Feenblut in sich zu tragen – Sidhe-Blut, um genau zu sein. Ich hatte kein Vermögen für diese Schuhe ausgeben müssen, sondern sie geschenkt bekommen, von meiner Ortsgruppe des Vereins der Feenfreunde, deren Mitglieder gern meine Buchhandlung besuchten.

Bei einem ihrer letzten Besuche hatten sie gesehen, wie ich in einem Katalog sehnsüchtig diese Schuhe bewundert hatte, und ein paar Tage später waren sie mit einer Einkaufstasche aufgetaucht. Natürlich hatte ich sehr genau überlegt, ob ich das Geschenk annehmen konnte... etwa dreißig Sekunden lang. Dann hatte die Begierde gesiegt, und ich hatte mich sehr liebenswürdig bei den Mitgliedern bedankt, während ich in die Schuhe schlüpfte, die perfekt passten, wie ich hinzufügen möchte.

Ich untersuchte die Sandalette und stellte fest, dass sie keinen dauerhaften Schaden genommen hatte. Nachdem ich mir die Füße abgetrocknet und sie wieder mit ihren Lieblingsabsätzen vereint hatte, holte ich mein Notizbuch hervor und überflog meine To-do-Liste. Es gab Bücher einzusortieren und Bestellungen aufzugeben, und ich hatte mich bereiterklärt, die Gastgeberin für das monatliche Treffen des Lesezirkels der Feenfreunde zu spielen. Sie würden sich gegen Mittag hier treffen. Delilah würde fast den ganzen Tag lang wegen eines Falles unterwegs sein, und meine andere Schwester Menolly schlief natürlich.

Also, an die Arbeit. Ich schaltete die Stereoanlage ein, und »Man in the Box« von Alice in Chains dröhnte durch den Laden. Später würde ich zu verkaufsfördernder Klassik wechseln, aber am frühen Vormittag, wenn die Buchhandlung leer und ich allein war, richtete ich mich ganz nach meinem Geschmack. Brav schnappte ich mir einen Karton neuer Taschenbücher, um sie in die Regale zu räumen, und sehnte mich danach, dass etwas Interessantes passieren möge... als die Klingel über der Tür bimmelte und Chase Johnson hereinplatzte. Nicht die Art interessanter Ablenkung, auf die ich gehofft hatte.

Chase faltete seinen Regenschirm zusammen und ließ ihn in den Schirmständer neben der Tür fallen. Während er sich aus seinem langen Trenchcoat schälte und ihn am Garderobenständer aufhängte, achtete ich darauf, den Blick auf das Buch zu richten, das ich gerade einsortierte. Toll – genau das Richtige, um mir den Tag zu versüßen. Dass die meisten Männer meine Schwester und mich bewunderten, war ja durchaus angenehm. Aber Chase gehörte nicht zu meinen Lieblingsmenschen; er schaffte es nicht einmal unter die Top Ten. Wahrscheinlich hatte ich deswegen Gefallen daran gefunden, ihn zu provozieren, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte. Nett? Wohl nicht. Aber lustig? Auf jeden Fall!

»Ich brauche dich. Sofort, Camille!« Chase schnippte mit den Fingern und zeigte auf den Ladentisch.

Ich klimperte mit den Wimpern. »Was denn? Du willst mich vorher nicht mal zu einem romantischen Abendessen ausführen? Jetzt bin ich aber beleidigt. Du könntest wenigstens bitte sagen... «

»Zickig wie immer.« Chase verdrehte die Augen gen Himmel. »Und würdest du diesen Lärm abstellen?« Verächtlich schüttelte er den Kopf. »Da kommst du den ganzen weiten Weg aus der Anderwelt hierher, und was hörst du dir an? Diesen Heavy-Metal-Mist!«

»Ach, halt die Klappe, Chase«, sagte ich. »Mir gefällt das. Hat mehr Pfeffer als die meiste Musik, mit der ich aufgewachsen bin.« Normalerweise hätte meine Bemerkung ihn aus dem Konzept gebracht; das hätte mir eine Warnung sein sollen, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn ich mehr auf meine Intuition gehört hätte, statt so genervt zu sein, hätte ich wohl meine Sachen gepackt, meine Kündigung eingereicht und mich noch am selben Nachmittag auf den Heimweg in die Anderwelt gemacht.

Widerstrebend legte ich Grisham neben Crichton auf ein Tischchen, damit sie sich inzwischen nett unterhalten konnten, und schlüpfte hinter den Ladentisch, um die Stereoanlage nicht nur leiser, sondern ganz abzustellen. Der Indigo Crescent war meine Buchhandlung, was die Öffentlichkeit anging, doch in Wirklichkeit war er die Tarnung einer Außenstelle des AND – des Anderwelt-Nachrichtendienstes. Für den arbeitete ich nämlich als Erdwelt-Agentin. Um ehrlich zu sein: Sklavin wäre der treffendere Ausdruck.

Ich blickte mich um. Es war noch früh. Keine Kunden. Wir konnten uns leider ungestört unterhalten.

»Also gut, was ist los?« Ich schniefte und bemerkte einen durchdringenden Geruch, der von Chase ausging. Zuerst dachte ich, er müsse wohl gerade aus dem Fitness-Studio gekommen sein. Ich hatte in der Vergangenheit schon eine Menge Dinge an ihm gerochen: Geilheit, Testosteron, Schweiß, seine nie nachlassende Sucht nach scharf gewürzten Rindfleisch-Tacos. »Bei allen Göttern, Chase, duschst du eigentlich nie?«

Er blinzelte erstaunt. »Zweimal am Tag«, erwiderte er und fügte dann erstaunlich schlagfertig hinzu: »Riechst du vielleicht etwas, das dir gefällt?«

»Nicht unbedingt«, sagte ich, zog spöttisch eine Augenbraue hoch und versuchte, dahinterzukommen, was genau ich da roch. Der Geruch, den er verströmte, war... pure Angst! Das war kein gutes Zeichen. So etwas hatte ich noch nie an ihm gerochen. Was auch immer er mir sagen wollte, es konnte nichts Gutes sein.

»Ich habe schlechte Neuigkeiten, Camille.« Er machte keine Umschweife. »Jocko ist tot.«

Ich stutzte. »Du machst wohl Witze. Jocko kann nicht tot sein.« Jocko war ebenfalls AND-Agent und ein Riese, wenngleich ein wenig kleinwüchsig für seine Art. Er maß etwas über zwei zwanzig, aber sein Bizeps ließ nichts zu wünschen übrig. »Jocko ist so stark wie ein Ochse!« Als ich sah, wie Chase den Blick senkte, durchfuhr es mich eiskalt. »Was ist passiert?«

»Er wurde ermordet.« Chase blickte todernst drein.

»Nein!« Es drehte mir den Magen um. »Teufel auch. Wie ist das passiert? Hat Jocko sich mal wieder mit der falschen Frau eingelassen, und irgendein eifersüchtiger Ehemann hat ihn erschossen?« So musste es sein. Kein gewöhnlicher Mensch konnte einem Riesen etwas anhaben, nicht einmal so einem kleinen wie Jocko, außer mit Hilfe einer fetten Kanone.

Chase schüttelte den Kopf. »Du wirst es nicht glauben, Camille.« Er blickte sich im Laden um. »Sind wir allein? Ich will nicht, dass irgendetwas davon durchsickert, solange wir nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben.«

Wenn Chase etwas unter vier Augen mit mir besprechen wollte, versuchte er bedauerlicherweise oft, mit mir zu flirten, aber er war einfach nicht mein Typ. Zunächst einmal fand ich ihn widerlich. Außerdem war er ein VBM – ein Vollblutmensch, also ein rein menschliches Wesen. Ich hatte noch nie mit einem VBM geschlafen und war keinesfalls in Versuchung, jetzt damit anzufangen.

Chase, von Kopf bis Fuß in Armani gehüllt, war knapp über eins achtzig groß und hatte welliges braunes Haar und eine schmale Patriziernase. Er sah gut aus, auf diese lockere Art, die galante Männer so an sich haben, und als meine Schwestern und ich ihn zum ersten Mal sahen, dachten wir, er könnte ein wenig Feenblut haben. Gründliche Nachforschungen ergaben: Er war durch und durch menschlich. Und ein guter Polizist im Rang eines Detectives. Er konnte nur überhaupt nicht mit Frauen umgehen, seine Mutter eingeschlossen, die ihn ständig auf dem Handy anrief und fragte, wann er denn endlich ein braver Sohn sein und sie besuchen kommen würde.

»Wo ist Delilah?« Seine Augen blitzten.

Ich grinste. Ich wusste genau, was er von meinen Schwestern hielt, obwohl Delilah ihn eher verblüffte als ängstigte. Dafür zitterte der arme Kerl vor Menolly, und sie jagte ihm gern absichtlich noch mehr Angst ein.

»Sie stellt verdeckte Ermittlungen an. Warum willst du das wissen? Hast du Angst, dass sie plötzlich hinter einem Regal vorspringt und Buh schreit?« Delilah wollte die Leute ja nicht erschrecken, aber sie bewegte sich so leise, dass sie sich an einen Blinden heranschleichen konnte, ohne von ihm gehört zu werden.

Er verdrehte die Augen. »Ich muss das wirklich mit euch allen dreien besprechen.«

»Ja, schon gut«, gab ich nach und schenkte ihm ein Lächeln. »Du weißt aber, dass wir dann bis nach Sonnenuntergang warten müssen. Vorher kann Menolly nun mal nicht mitspielen. Also, hast du wegen Jocko schon den AND kontaktiert?«

Nicht, dass ich mir von denen viel erwartet hätte. Als das Hauptquartier Delilah, Menolly und mir diesen Erdwelt-Posten zugewiesen hatte, waren wir überzeugt gewesen, dass wir kurz davor standen, gefeuert zu werden. Wir arbeiteten zwar hart, aber unsere Erfolgsstatistik ließ eine Menge zu wünschen übrig. Eines war sicher: Keine von uns würde es je zur Mitarbeiterin der Woche bringen. Aber während ein Monat nach dem anderen vergangen war, ohne dass wir ernsthafte Anweisungen oder irgendwelche wichtigen Aufträge bekamen, hatten wir uns allmählich entspannt und festgestellt, dass diese unfreiwillige Versetzung auch ihr Gutes hatte. Es machte durchaus Spaß, die hier in der Erdwelt herrschenden Gepflogenheiten kennenzulernen.

Nun jedoch war Jocko tot, und es würde unsere Aufgabe sein, die Sauerei zu beseitigen. Wenn er wirklich ermordet worden war, würde der AND Antworten verlangen. Antworten, die wir vermutlich nie finden würden, wenn man bedachte, wie wenig Ergebnisse wir in der Vergangenheit hatten vorweisen können.

»Das Hauptquartier lässt mich ganz schön im Stich«, sagte Chase langsam. Er verzog missbilligend die Lippen. »Ich habe mich heute Morgen mit denen in Verbindung gesetzt, und sie haben nur gesagt, dass ich den Fall euch zu übergeben hätte. Ich soll euch nur behilflich sein, wenn ihr irgendwelche Unterstützung braucht.«

»Das war alles?« Ich blinzelte erstaunt. »Keine Richtlinien? Keine langatmigen bürokratischen Vorschriften, die wir bei unseren Ermittlungen zu beachten haben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Offenbar hat Jockos Tod für die nicht gerade oberste Priorität. Der Mitarbeiter, mit dem ich gesprochen habe, war so kurz angebunden, dass ich schon fast dachte, ich hätte irgendetwas Falsches gesagt.« Das wäre zwar nicht das erste Mal gewesen, dass Chase mächtig ins Fettnäpfchen trat, aber diese Reaktion des Hauptquartiers erschien mir doch bemerkenswert seltsam.

Ich blickte die leeren Gänge zwischen den Regalen entlang. In ein paar Stunden würde es hier von Leuten nur so wimmeln, wenn die literaturbeflissenen Feenfreunde auftauchten. Ein Rudel gaffender, wild mit ihren Kameras knipsender Fans zu unterhalten, gehörte zwar nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber he, es brachte Geld ein und nützte zugleich den Anderwelt-Erdwelt-Beziehungen. Außerdem waren die Frauen ganz nett, wenn auch ein bisschen schrullig.

»Also, gehen wir das kurz zusammen durch. Die Feenfans werden erst gegen Mittag hier sein.«

»Der Verein der Feenfreunde. Das ist nicht dein Ernst! Sag bloß, du hast dich von denen breitschlagen lassen?« Chase lächelte. »Ist es nicht toll, ein Promi zu sein?«

Ich schnaubte. »Na klar, ich wollte schon immer unbedingt so berühmt sein wie Anna Nicole Smith.« Tatsächlich hatte die Erdwelt-Klatschpresse einen riesigen Aufschwung erlebt, als wir Feen hier aufgetaucht waren. Unsere Ankunft hatte dem Enquirer, dem Star und anderen Boulevardblättern frisches Blut geliefert. »Ach, es könnte schlimmer sein. Zumindest sitzen mir nicht die Aufrechten Bürger im Nacken.«

»Dem Himmel sei Dank«, schnaufte Chase.

Die Aufrechte-Bürger-Patrouille, eine Gruppierung selbsternannter Ordnungshüter, betrachtete jeden, der kein VBM war, als »außerirdisch« und damit als Feind. Die Aufrechten Bürger nannten sich selbst die »Erdgeborenen«, warfen alle aus der Anderwelt in einen Topf und bezeichneten uns samt und sonders als Gefahr für die Gesellschaft im Allgemeinen, für ihre Kinder im Besonderen und erst recht für die Moral. Die wären vielleicht überrascht, wenn sie dahinter kämen, wer hier, von ihnen völlig unbemerkt, jahrhundertelang in den Schatten gelauert hat, lange bevor wir die Portale geöffnet haben. Auf der Erde hat es immer eine ganze Menge Vampire und Naturgeister gegeben, und dazu noch ein paar andere Wesen, die in keinem Märchenbuch vorkommen.

Die Bürger-Patrouille hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach Vorfällen Ausschau zu halten, die irgendetwas mit uns Feen und unseren Verwandten zu tun hatten, um diese Geschichten dann für ihre Zwecke auszuschlachten. Die BürgerPatrouille war wirklich gefährlich, im Gegensatz zum Verein der Feenfreunde – die blitzten einem bloß zehnmal mit der Kamera ins Gesicht, wo man ging und stand, und baten ständig um Autogramme.

»Du glaubst doch nicht, dass die etwas mit Jockos Tod zu tun haben könnten, oder? Die Aufrechten Bürger?«, fragte ich, während ich Chase zu einem Klapptisch hinter einem Regal voll merkwürdiger ausländischer Romane führte. Ich schob die Überreste meines Frühstücks beiseite, Muffin mit Ei und Würstchen und ein Venti Mocca – nach beidem war ich inzwischen absolut süchtig –, und bedeutete ihm, sich zu setzen.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Chase. »Große Klappe und nichts dahinter, abgesehen von ihren endlosen Protestmärschen und Mahnwachen.«

Ich ließ mich in meinem Sessel nieder, legte die Füße mit überkreuzten Knöcheln auf den Tisch und vergewisserte mich, dass mein Rock noch alles bedeckte, das Chase vielleicht gern sehen wollte. »Hast du irgendeine Ahnung, wer Jocko getötet haben könnte? Wie ist er genau gestorben?«

»Neue Schuhe?«, bemerkte Chase mit hochgezogener Augenbraue.

»Ja«, sagte ich gedehnt, doch ich hatte nicht die Absicht, ihm zu sagen, woher ich die hatte. »Also, weißt du mehr? Über Jocko?«

Chase seufzte tief. »Nein. Nur, dass er erdrosselt wurde.«

Erdrosselt? Meine Füße knallten auf den Boden, als ich mich aufrichtete. »Du hast dem Hauptquartier auch wirklich genau gesagt, wie er gestorben ist? Und die haben dich abblitzen lassen? Das ist ja unmöglich!« Da stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Habe ich doch gesagt.« Er lehnte sich zurück und schob die Hände in die Taschen. »Aber ich habe ein komisches Gefühl bei der Sache. Ich glaube nicht, dass wir es mit menschlichen Tätern zu tun haben, und ich könnte dir nicht einmal eine Erklärung dafür liefern. Ist nur so ein Gefühl.«

»Wenn er erdrosselt wurde, hast du vermutlich recht. Manchmal schlüpft auch der Abschaum aus der Anderwelt durch die Portale. Und nicht alle meine Verwandten halten sich an die menschlichen Spielregeln.« Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht hat da jemand etwas gegen Riesen, oder irgendwer hat eine Flasche schlechten Koboldwein erwischt? Vielleicht hatte jemand auch einfach miese Laune und hat beschlossen, sie am Barkeeper auszulassen, solange er noch in der Erdwelt war?«

»Wäre möglich«, sagte Chase und nickte langsam. »Aber ich glaube das nicht.«

Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Tisch. Chase hatte recht. Ich wusste, dass ich den falschen Mond anheulte. »Also schön, gehen wir die Sache logisch an. Kein Erdweltler hat die Kraft, Jocko zu erdrosseln. Zumindest kein Mensch. Hast du irgendwelche Anzeichen dafür gefunden, dass jemand von den Sidhe im Spiel sein könnte?«

»Mir ist nichts aufgefallen. Es wäre natürlich gut möglich, dass ich etwas übersehen habe, weil ich gar nicht weiß, wonach ich suchen soll. Ich habe allerdings den Riemen gefunden, mit dem er erdrosselt wurde. Hier.« Chase ließ einen ausgefransten, geflochtenen Lederriemen auf den Tisch fallen. Er war mit Blut bespritzt. »Ich kriege so ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich das Ding anfasse... Ich dachte, vielleicht könntest du mehr darüber in Erfahrung bringen.«

Sollte Chase vielleicht doch einen Anflug des Zweiten Gesichts haben? Ein schwacher Schwefelduft drang mir in die Nase. Ich griff nach dem geflochtenen Riemen und schloss die Augen – als plötzlich ein dunkles Miasma aus den miteinander verflochtenen Ledersträngen sickerte und schleimig wie verbranntes Öl über meine Finger lief! Ich riss die Hand zurück, ließ den Riemen wieder auf den Tisch fallen und sog scharf die Luft ein. »Üble Neuigkeiten, Chase. Ganz üble Neuigkeiten.«

»Was? Was ist damit?«

»Dämonen!« Ich schluckte den Kloß herunter, der mir plötzlich in der Kehle steckte. »Dieser Riemen ist bis in die letzte Faser mit dämonischer Energie durchdrungen.«

Chase beugte sich vor. »Bist du sicher, Camille?«

Ich verschränkte die Arme und lehnte mich zurück. »Absolut sicher. Nichts fühlt sich auch nur so ähnlich an wie dämonische Energie. Und diese Schnur trieft nur so davon.« Damit war der Fall klar. Wir hatten es nicht mit einer erzürnten Fee oder einem übellaunigen Zwerg zu tun, oder sonst einem der zahlreichen Bewohner der Anderwelt, die man relativ einfach fangen und deportieren konnte.

Chase stolperte wohl über denselben Gedanken. »Ich dachte, Dämonen wären aus der Anderwelt verbannt.«

»Sind sie auch, jedenfalls größtenteils. Es leben noch ein paar Gremlins unter uns, Gnome, ein Haufen niederer Vampire und so weiter, aber nichts in der Größenordnung, die eine so starke dämonische Aura hervorrufen könnte.« Ich starrte die Mordwaffe an. »Ich sage das wirklich nur sehr ungern, aber es wäre möglich, dass sich ein Dämon aus den Unterirdischen Reichen nach oben geschmuggelt hat und durch eines der Portale geschlüpft ist.«

»Das soll eigentlich nicht passieren dürfen, oder?« Chase klang geradezu flehentlich, und er tat mir beinahe leid.

»Da hast du recht, das sollte nicht passieren.« Als wir unseren Posten hier angenommen hatten, hatte der AND uns versichert, dass keine Dämonen aus den U-Reichen bis hierher durchdringen könnten. Aus sämtlichen Berichten ging hervor, dass in all den Jahrhunderten, seit die Portale beobachtet wurden, nicht ein einziger Dämon oder Ghul von ganz unten bis nach oben durchgekommen war. Andererseits versprechen die vom AND eine Menge Dinge, die sie dann doch nicht einhalten. Feen stehen den Menschen in nichts nach, was die Bürokratie angeht.

Er versuchte es noch einmal mit einem anderen Aspekt. »Du bist ganz sicher, dass dein innerer... magischer... Zeiger nicht danebenliegt?«

»Innerer magischer Zeiger? Was redest du denn da, Chase? Dieser Riemen gehört einem Dämon. Du kannst mir glauben oder nicht, ganz wie es dir passt.«

»Okay, schon gut«, sagte Chase und schnitt eine Grimasse. »Es gefällt mir nur nicht, wie sich das anhört. Wie soll ich jetzt damit verfahren? Soll ich dem AND von dem Riemen berichten?«

»Ja, versuch es.« Ich schnaubte. »Vielleicht kriegen sie dann mal den Hintern hoch. Ich würde dir raten, so bald wie möglich Verbindung aufzunehmen.«

Die Zauberergilde – so etwas wie die Computerspezialisten der Anderwelt – hatte ein Kommunikationssystem für die Erdwelt-Außenstellen des AND aufgebaut. Das Problem war nur: Wenn das Hauptquartier einen Anruf nicht entgegennehmen wollte, ignorierten sie die Nachricht einfach. Wenn sie natürlich uns kontaktieren wollten, würden wir mächtig in der Tinte sitzen, falls wir nicht erreichbar wären.

Chase blickte sich um. »Ist es auch wirklich sicher, hier so offen zu reden? Ich kann mir gut vorstellen, was passieren würde, wenn die Zeitungen Wind davon bekämen, dass ein Dämon in Seattle herumläuft. Das war schon riskant genug, als ihr Feen und so weiter hier aufgetaucht seid.«

Ich sparte mir die Mühe, ihn daran zu erinnern, dass ich halb menschlich und daher ebenso berechtigt war, mich erdseits aufzuhalten wie in der Anderwelt. »Du bist ja furchtbar nervös, Chase. Bleib locker. Ich habe den Laden erst gestern mit einem Bann gegen Lauscher belegt. Wir dürften hier ziemlich sicher sein.«

»Äh, na klar doch. Bist du sicher, dass du deinen Laden nicht aus Versehen in ein einziges Megaphon verwandelt hast?« Er lachte so laut, dass er zu prusten begann.

»Wie bitte?« Ich beugte mich über den Tisch und schnippte mit einem Finger gegen seine Nase. »Zu Hause war es ja schon schlimm genug, aber jetzt soll ich mir diesen Mist auch noch von einem VBM gefallen lassen? Nicht mit mir! Zufällig leide ich an einer... leichten magischen Behinderung. Hast du ein Problem damit?«

»Leichte magische Behinderung, so nennst du das also jetzt? He, Süße, nichts für ungut, aber ich bin nicht derjenige, der einen kleinen Zauber wirken wollte und plötzlich vor versammelter Mannschaft splitterfasernackt dastand«, erwiderte er grinsend.

»Wie wäre es denn, wenn du mal ein bisschen Magie versuchen würdest, hm?«, sagte ich knapp. »Na, lass mal sehen, was du drauf hast, Superman.«

Das brachte ihn zum Schweigen. Eines hatte ich entdeckt, seit wir in Belles-Faire, einem schäbigen Vorort von Seattle, angekommen waren: Chase gierte nach Macht. Er konnte selbst keine Magie ausüben, folglich tat er das Nächstbeste, als er vom AND erfuhr. Er ließ sich dorthin versetzen. Manchmal glaubte ich, dass es ihm richtig Spaß machte, wenn meine Zauber nach hinten losgingen.

Er hob abwehrend die Hände. »Entschuldigung! Ich wollte keinen wunden Punkt treffen. Waffenstillstand?«

Ich stieß ein langgezogenes Seufzen aus. So taktlos er auch sein mochte, er hatte ja nicht unrecht. Und bei dem Miasma auf diesem Riemen hatten wir wirklich größere Sorgen als mein verletztes Ego. »Ja, schon gut. Waffenstillstand. Was meine Schutzbanne angeht, reg dich nicht auf. Als Ergänzung zu meinen magischen Mitteln hat Delilah ein elektronisches Überwachungssystem installiert. Sie hat ein Händchen für eure Technologie, und sie hat das Ding so umfunktioniert, dass es auch auf Wanzen oder andere Lauschwerkzeuge reagieren würde, falls jemand so etwas hier anbrächte.« Ich erzählte ihm nicht, dass ihr dabei eine Sicherung herausgesprungen war und sie einen hübschen Schlag bekommen hatte. Um genau zu sein, hatte der Stromstoß sie quer durch den Raum geschleudert. Aber Delilah gab nicht so leicht auf. Irgendwann hatte sie alle Fehler gefunden und die Anlage zum Laufen gebracht.

»Ihr seid tüchtige Mädchen, du und deine Schwester.«

»Mädchen?« Ich gönnte ihm einen langen Blick. »Chase, ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein.«

Er blinzelte. »Das vergesse ich immer wieder. Du siehst nicht so aus.«

»Das möchte ich doch hoffen«, sagte ich und zog eine Augenbraue hoch. Ich war verdammt stolz auf mein Aussehen und gab mir wirklich Mühe, meine Vorzüge zu betonen. Ein Vorteil am Erdwelt-Leben: Das Make-up war phantastisch! Zunächst einmal hinterließ es keine dauerhaften Flecken, wie Schminke, die aus Kräutern und Beeren hergestellt wurde. Zu Hause in der Anderwelt hatte ich länger, als mir lieb war, wie eine tätowierte Piktin ausgesehen, nachdem ich ein Make-up auf Färberwaid-Basis ausprobiert hatte. Nie wieder. Wenn ich irgendwann nach Hause zurückkehren müsste, würde ich eine Wagenladung voll MAC-Kosmetik mitnehmen, Lippenstifte und reichlich Lidschatten, vor allem Soft Brown. Ich erlaubte mir eben meine kleinen Eitelkeiten.

Chase hüstelte, und ich sah ein Lächeln in seinen Augen aufblitzen. »Kommen wir zur Sache«, sagte er. »Folgendes ist passiert: Heute Morgen habe ich einen Anruf von einem der Obdachlosen bekommen, die in der Gasse hinter dem Wayfarer hausen. Er hat Jockos Leichnam gefunden. Der Kerl hat schon ein paar Mal den Informanten für mich gespielt und verdient sich gern ein paar Dollar mit solchen Tipps. Deshalb war ich als Erster da, und das war ein Glück, denn Jocko sah... er sah nicht besonders hübsch aus, Camille. Natürlich habe ich sofort das AETT gerufen.«

Ich unterdrückte ein Lächeln. Das Anderwelt-Erdwelt-Tatortteam war eine Spezialeinheit, die Chase aufgebaut hatte. Sie bestand aus menschlichen und AW-Agenten und war speziell dazu ausgebildet, sich um Verbrechen an Anderwelt-Bürgern zu kümmern.

Chase besaß Initiative und Weitsicht, das musste ich ihm lassen. Ein Jammer, dass sein Vorgesetzter Devins ein absolutes Arschloch war, aber meistens gelang es Chase, seinen Chef aus allem Wesentlichen herauszuhalten. »Ich habe außerdem einen AND-Gerichtsmediziner eingeschaltet, und sämtliche Infos zur Verschlusssache erklärt.«

Ich sank auf meinem Sessel zusammen. Auf einmal erschien mir das alles allzu real. Der Gedanke, dass Jocko sein Ende in einer schäbigen Gasse gefunden hatte, war grässlich. Er war vielleicht nicht der Allerhellste gewesen, aber das hatte er durch seine nette Art mehr als wettgemacht, und ich hatte den sanften Riesen wirklich gemocht. »Jocko war der ausgeglichenste Riese, der mir je begegnet ist. Deshalb hat er den Job überhaupt bekommen, weißt du? Er konnte mit anderen umgehen, ohne sie gleich in den Boden zu stampfen, wenn er gereizt war. Er war ein gutherziger Mann, der sein Bestes getan hat. Er... er wird mir fehlen.«

»Er war kein Mann«, sagte Chase und rümpfte die Nase, »er war ein Riese. Und er war ungehobelt, rüpelhaft und hat sich immer über meine Anzüge lustig gemacht.«

»Riesen sind eben so, nur sind die meisten dazu auch noch äußerst brutal. Was hast du also von ihm erwartet?«

Chase warf mir einen genervten Blick zu. »Keine Ahnung. Ich kenne keine anderen Riesen. Mir ist auch noch nie ein Vampir oder ein Lykanthrop begegnet, bevor ich deine Schwestern kennengelernt habe, also friss mich nicht gleich, wenn meine Begeisterung zu wünschen übrig lässt. Riesen und Blutsauger und Werwölfe –«

»Werkatze. Lykanthrop bedeutet Werwolf. Das ist kein Synonym für Werwesen. Delilah würde dir die Augen auskratzen, wenn ihr zu Ohren käme, dass du sie mit den Kaniden in einen Topf wirfst.«

»Schön, Werkatze. Tut mir schrecklich leid«, sagte er, doch seine Stimme klang nach dem Gegenteil. »Abschnitt fünf im Handbuch: Nicht alle Werwesen sind gleich

»Verdammt richtig, und vergiss das nie. Einige von denen würden dir die Kehle aufschlitzen, wenn du so etwas nur andeuten würdest.« Ich setzte ihm ziemlich zu, aber das war besser, als dass Chase das selbst herausfand – auf die harte Tour. Ein Schwert oder ein Reißzahn war wesentlich spitzer als meine Zunge.

»Wie auch immer. Was ich damit sagen wollte, ist, dass ihr alle nichts weiter als Mythen und Legenden wart, bis ihr vor ein paar Jahren plötzlich wie aus dem Nichts hier aufgetaucht seid. Das ist manchmal etwas schwer zu verstehen. Sogar du – du siehst ganz normal aus, aber du bist eine Hexe. Und noch dazu Halbfee. Ich versuche immer noch, irgendwie damit klarzukommen.«

»Verstanden«, lenkte ich lächelnd ein. »Wir waren wohl tatsächlich ein ziemlicher Schock für euch, vor allem, da man euch euer ganzes Leben lang erzählt hatte, dass es uns gar nicht gibt. Okay, kommen wir wieder zur Sache. Erzähl mir mehr über Jockos Tod.«

»Nun, abgesehen davon, dass der Mörder mindestens so groß und stark gewesen sein muss wie sein Opfer, gibt es nicht viel mehr zu erzählen. Nichts in der Bar hat uns irgendeinen Hinweis darauf gegeben, was passiert ist. Kein Eintrag im Logbuch des Portals, dass gestern Nacht jemand Neues hier angekommen ist. Im Grunde weiß ich nicht viel mehr, als dass der Wayfarer jetzt einen Barkeeper zu wenig hat und das Hauptquartier will, dass du dich darum kümmerst.«

The Wayfarer Bar & Grill gehörte wie der Indigo Crescent dem AND und war Teil eines weltweiten Netzwerks sicherer Häuser und Portale. Die Bar war außerdem ein Treffpunkt für VBM, die Feen kennenlernen wollten. Und wir hatten eine Menge Bewunderer, die Schlange standen, um die Chance zu bekommen, einen von uns zu sehen, mit ihm zu sprechen... oder auch zu schlafen. Der Laden war immer voll und die Stimmung ausgelassen.

Meine Schwester Menolly arbeitete in der Nachtschicht an der Bar. Sie hielt die Ohren offen, achtete auf Tratsch und Gerüchte unter den Reisenden, die aus der Anderwelt ankamen. Dieser Posten war eine gute Möglichkeit, potenziellen Ärger im Vorfeld auszumachen, da die Gerüchteküche immer schneller war als die offiziellen Kanäle. Außerdem war das einer der wenigen Nachtjobs, die sie finden konnte, und sie war stark genug, um auch einmal den Türsteher zu vertreten, wenn es sein musste.

Chase holte eine Packung Zigaretten hervor, schob sie jedoch wieder in die Tasche, als ich den Kopf schüttelte. Zigarettenrauch wirkte sich verheerend auf meine Lunge aus, und bei Delilah war es sogar noch schlimmer. Menolly kümmerte so etwas nicht mehr. Sie war tot. Nun ja, untot. Das Einzige, was sie noch riechen konnte, waren Blut, Angst und Pheromone.

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. »Ich kann Menolly erst nach Anbruch der Dunkelheit wecken. Delilah ist unterwegs und kommt erst am späten Nachmittag zurück. Wie wäre es, wenn wir uns um sechs wieder hier treffen und du dann mit zu uns nach Hause kommst? Dann könntest du vorher noch einmal mit dem Hauptquartier Verbindung aufnehmen. Bis dahin ist auch die Sonne untergegangen.«

»Kannst du Menolly nicht gleich aufwecken? Der Himmel ist bedeckt«, wandte Chase ein.

»Chase, bitte! Vampire vertragen keine Art von Tageslicht. Außerdem ist es schwer für sie, den ganzen Tag im Haus eingeschlossen zu sein. Da ist es besser, wenn sie schläft, so viel sie kann; dann bekommt sie wenigstens keinen Budenkoller. Menolly ist noch nicht lange ein Vampir, jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Sie lernt immer noch, damit zurechtzukommen, und wir machen es ihr so leicht wie möglich. Ich tue mein Bestes, ihr zu helfen, aber manchmal ist es wirklich hart für sie.« Im Moment arbeitete ich an einer Überraschung, für die sie mich vermutlich hassen würde, aber sie würde ihr gut tun.

»Ich verstehe«, sagte Chase nachdenklich. »Also gut, ich versuche noch einmal, dem Hauptquartier den Ernst der Lage zu verdeutlichen und ihnen mitzuteilen, was du über den Riemen gesagt hast. Aber ich an Menollys Stelle würde mich heute Nacht krankmelden und zu Hause bleiben. Wenn tatsächlich ein Dämon dahintersteckt, könnte er es auf AND-Agenten abgesehen haben. Und wenn er Hilfe von drinnen hatte, dann weiß er womöglich, dass Menolly eine Agentin ist.«

Das Werk eines Insiders? »Toll, dieser Gedanke hat mir gerade noch gefehlt«, sagte ich mit einem bitteren Grinsen. »Also dann, bis heute Abend.«

Chase ging zur Tür. Als ich ihm nachsah, bemerkte ich auf einmal einen Schatten, der durch die Buchhandlung glitt. Ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, doch er zitterte und zerfloss in den trüben Tag. Der Mord an Jocko hatte gefährliche Ereignisse in Gang gesetzt. Ich fühlte es in der Luft, konnte mir aber kein klares Bild davon machen.

Ich ging wieder an die Arbeit und versuchte, mich so weit zusammenzunehmen, dass ich mir für die Feenfreunde, die in einer knappen Stunde mit einem großen Aufgebot hier aufschlagen würden, ein Lächeln abringen konnte.