Kapitel 10

 

Lässt du das bitte sein? Nächstes Mal klingelst du gefälligst!« Ich funkelte ihn an, als er hereinschlenderte und sich auf einen Sessel gleiten ließ, ohne mich aus den Augen zu lassen, nachdem er einen einzigen Blick in Morios Richtung geworfen hatte.

»Warum sollte ich?«, entgegnete er. »Du wirst mich doch sowieso einlassen, warum sich also mit überkommenen Höflichkeiten abgeben?«

»Das ist einer der Gründe, warum wir nicht mehr zusammen sind«, sagte ich genervt.

»Wir waren vergangene Nacht zusammen, und du hast dich nicht beklagt, soweit ich mich erinnern kann.« Er wandte sich Morio zu. »Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Trillian, Camilles Geliebter.«

»Hör sofort auf! Ich bin vielleicht schwach geworden und habe wieder mit dir geschlafen, aber du bist nicht mein Geliebter. Nicht mehr.« Ich seufzte. »Du bist rüpelhaft und arrogant. Und entsetzlich unhöflich.«

»Und damit willst du mir sagen... ?«, erwiderte er und musterte mich mit einem berechnenden Blick. Gereizt wandte ich mich ab, als er fortfuhr: »Der AND kann nicht direkt eingreifen, weil die Königin den Kopf so weit in ihren eigenen Arsch geschoben hat, dass sie nicht mehr sehen kann, was um sie herum vorgeht. Und die Generäle sitzen gemütlich in ihren schicken Villen mit ihrem Opiumvorrat und sind vollauf mit ihren Festen und Orgien beschäftigt. Selbst wenn sie kapieren würden, was zum Teufel hier passiert, sind ihre Truppen nicht kampfbereit. Ich sage dir das wirklich sehr ungern, aber dieser chaotische Haufen von einer Armee könnte sich nicht einmal aus der eigenen Tür herauskämpfen. Unsere einzige Hoffnung sind heimliche Aktionen, denn bis die Krone dahinterkommt, dass etwas nicht stimmt, hat Schattenschwinge die Geistsiegel längst entdeckt, und dann ist es zu spät

Er lehnte sich zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

»Hat Vater dir das gesagt?« Wenn das Vaters Worte waren, steckten wir wirklich in Schwierigkeiten.

»Dein Vater steht mit dieser Einschätzung nicht allein. Die Königin wird bald Ärger bekommen. Alte Feindschaften lösen sich nicht einfach in Luft auf, auch nicht in tausend Jahren. Sie sollte sich schnell daran erinnern, wem sie in der Vergangenheit auf die Zehen getreten ist.« Nach einer kurzen Pause schaute Trillian zu Morio hinüber. »Die alte Hexe hat dich also geschickt? Ein Wolfsjunges, das die Aufgabe eines Mannes erfüllen soll? Na ja, vermutlich bist du besser als gar nichts.«

»Ich bin ein Yokai-kitsune, wenn’s recht ist.« Morio war verärgert, und seine Pupillen zogen sich zusammen. »Was du bist, weiß ich. Deinesgleichen habe ich schon in den Bergen im Norden gesehen. Komm mir nicht zu nahe, Svartaner.«

Großartig, ein Testosteron-Wettstreit. Das hatte uns gerade noch gefehlt. »Beruhigt euch wieder, alle beide. Morio, deine Hilfe ist mir sehr willkommen, und meinen Schwestern sicher auch. Trillian, lass ihn in Ruhe.«

Trillian zog die Augenbrauen hoch und sah mich mit einem gemächlichen, sinnlichen Grinsen an. »Ist dir meine Hilfe auch willkommen? Gestern Nacht warst du jedenfalls nicht gerade abweisend.« Seine Augen glitzerten.

Oh-oh. Mir stockte der Atem, und ich zwang mich, den Kopf zu schütteln. Im nächsten Augenblick saß Trillian neben mir und strich mit der Hand über meinen Arm.

»Lass das!«

»Deine Gefühle sind offensichtlich –«, begann er, doch ehe er den Satz beenden konnte, schloss sich Morios Hand um mein anderes Handgelenk und zog mich aus Trillians Griff.

»Lass sie in Ruhe. Offensichtlich wünscht die Dame deine Aufmerksamkeit nicht.« Morio schob mich hinter sich und funkelte Trillian böse an.

»Welpe, du hast gerade einen schweren Fehler gemacht. Halte deine Nase aus Angelegenheiten heraus, die dich nichts angehen.« Trillian stand bereit, die Hände auf Hüfthöhe. Ich wusste, dass er stets einen langen Dolch im Stiefel trug, und ich befürchtete, er könnte mit moderneren Waffen aufgerüstet haben, seit er erdseits gekommen war. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war ein erzürnter Trillian, der mit irgendeiner illegalen Schusswaffe auf Morio anlegte.

»Das reicht!« Nun war ich richtig sauer. Ich schob mich zwischen die beiden und starrte sie finster an, bis sie zurückwichen. »Fahrt euch mal ein paar Stufen herunter, Jungs. Ich meine es ernst.«

Als sie brummelnd wieder Platz genommen hatten und einander beäugten wie feindselige Hunde, ging ich zur Küche. »Ich muss nach Maggie sehen. Falls einer von euch wieder damit anfängt, komme ich hier angeschossen und lasse auf euch beide einen Zauber los. Ihr wisst ja, dass die Nebenwirkungen meiner Zauber etwas unvorhersehbar sind – von mir aus könnt ihr nachher als Stinkpilze hier herumliegen!«

Trillian sah mich mit brennendem Blick an, warf mir ein verschlagenes Lächeln zu und starrte dann weiter Morio an. Ich wartete noch ein wenig ab, um mich zu überzeugen, dass tatsächlich Waffenstillstand herrschte, und schlüpfte dann in die Küche.

Maggie lag zusammengerollt in ihrer kuscheligen Kiste auf einer alten Decke. Mein Ärger verflog, als ich auf das wunderhübsch in Orange, Schwarz und Weiß gezeichnete, weiche Fell hinabblickte, das ihren kleinen Körper bedeckte. Gargoyles waren bei der Geburt sehr klein und wuchsen so langsam, dass es noch viele Jahre dauern würde, bis sie erwachsen wurde. Ich kniete mich neben die Kiste und streichelte sanft ihr Fell. Sie schnaufte im Schlaf.

Ich wünschte mir zwar schon lange eine Katze – eine schwarze, die auch Katze blieb und sich nicht in einen Menschen verwandelte –, aber die fühlten sich in Menollys Nähe nicht wohl. Und Delilah wäre eifersüchtig geworden und hätte ihr Territorium verteidigt. Daher war Maggie der perfekte Kompromiss. Sie würde sich nicht vor Vampiren fürchten, außer sie wäre bereits von einem Vampir schlecht behandelt worden, und sie würde Delilahs Vorherrschaft nicht in Frage stellen. Das Letzte, was wir brauchen konnten, waren Streitigkeiten um das Katzenklo. Maggie drehte sich um, blinzelte einmal, schloss die Augen und schlief gleich wieder ein.

Ich vergewisserte mich, dass Wasser in ihrer Schüssel war, zerkleinerte ein halbes Steak zu Hackfleisch und fügte Brot und Milch hinzu. Als ich die Mischung in einer Untertasse neben die Kiste stellte, öffnete Maggie die Augen und spähte über den Rand. Sie stieß ein leises muuf aus und gähnte. Ich hob sie aus der Kiste, und sie schleckte das Wasser und die Fleischsuppe auf.

Als sie fertig war, massierte ich ihr das Bäuchlein, trug sie dann nach draußen und setzte sie auf den Boden. Sie machte ein paar harte Köttel und ein Pfützchen auf dem Gras in der Nähe der Stufen, und ich sammelte sie wieder ein und trug sie zurück. Es würde noch lange dauern, bis ihre Flügel groß und stark genug waren, um ihr Gewicht zu tragen, und ich wollte nicht, dass sie allein da draußen herumkrabbelte.

Ich steckte sie wieder in ihre Kiste, goss mir ein Glas Wein ein und kehrte ins Wohnzimmer zurück in der Hoffnung, dass Trillian und Morio es geschafft hatten, sich zusammenzunehmen. Offenbar hatte meine Abwesenheit zu lange gedauert. Sie hatten eine Unterhaltung begonnen, um die Stille zu brechen.

»Die Königin wird nicht begreifen, wie groß die Gefahr für sie wirklich ist«, sagte Trillian gerade. »Sie ist zu tief in ihren Opiumträumen versunken, um auf den Rest der Welt zu achten. Der Generalkommandeur versucht, die Ordnung wiederherzustellen, aber auf jedem Schritt legt man ihm Steine in den Weg. Die letzte Zusammenkunft des Militärischen Rates war eine Farce. Männer verlassen zu Dutzenden die Garde, weil Leitung und Organisation zu miserabel sind. Und beim AND herrscht geteilte Loyalität.«

»Wie bitte?«, fragte ich. »Wie um alles in der Welt hast du das herausgefunden?«

»Ich spreche nicht nur mit deinem Vater«, sagte er und schnaubte ein wenig verächtlich. »Ich habe meine Spione. Ein Mitglied des Rates ist ein guter Freund von mir. Ich meine es ernst, Camille. Rechnet nicht damit, dass Hof und Krone euch zu Hilfe kommen werden – sie sind im Lauf der Jahre so korrupt geworden, dass nicht einer dort die Autorität besitzt, etwas zu verändern. Noch nicht.«

Ich riss den Kopf hoch und starrte ihn an. Noch nicht? Trillian sagte niemals etwas ohne Grund, doch bis ich wusste, was da los war, sollte ich wohl besser den Mund halten. Ich kannte Morio nicht gut genug, um ganz sicher zu sein, dass er nicht weitertragen würde, was er hier hörte. Und falls der Königin zu Ohren kam, dass man ihre Kompetenz in Frage stellte, waren wir alle schon so gut wie tot – oder wir würden uns wünschen, wir wären es. Es war eine von Lethesanars Spezialitäten, ihre Gefangenen davon zu überzeugen, dass sie tot besser dran wären. Eine Reihe von ihnen wählten regelmäßig diesen Weg – sie bedienten sich jeder nur vorstellbaren Methode, um sich umzubringen, bevor die Königin die nächste Runde unterhaltsamer Veranstaltungen ausrief.

»Du willst also sagen, der AND müsse das allein lösen?«

Trillian nickte knapp. »Ich will sagen, dass der AND tun wird, was er kann, um euch zu helfen, aber möglicherweise nicht mehr lange. Verlass dich nicht allzu sehr auf deine Kollegen von zu Hause, und um aller Götter willen, rechne nicht damit, dass Hof und Krone dir den Rücken decken werden.«

Ich sank in meinem Sessel zusammen und seufzte tief. Meine Familie hatte nie zum inneren Kreis des Hofes gehört. Mutters Anwesenheit allein hatte ausgereicht, um Vater auszuschließen. Als Agenten niederen Standes waren auch meine Schwestern und ich nicht sonderlich gut informiert, was das Verhältnis zwischen Regierung und AND anging.

Auf einmal wünschte ich mir, mein Vater wäre hier. Er wusste irgendetwas, denn sonst hätte er Trillian nicht geschickt. Aber ich wusste auch, dass er selbst entscheiden würde, wann er uns mitteilte, was da lief. Vater war seiner geliebten Garde treu ergeben. Was auch immer vor sich ging, musste sehr schlimm sein, wenn er Trillian gegenüber eingestand, dass seine Botschaften an uns geheim bleiben mussten.

»Was tun wir als Nächstes?«, fragte Morio – da ging die Tür auf, und Delilah rauschte herein. Sie knallte die Tür hinter sich zu, drehte sich dann um und starrte uns alle an.

»Wie ich sehe, haben wir Besuch«, sagte sie und ließ ihren Rucksack auf einen Stuhl fallen.

Ich starrte sie meinerseits an. Irgendetwas war anders, aber ich kam nicht dahinter, was es war. Ihre Wangen waren gerötet, doch da sie gerade erst hereingekommen war, schrieb ich das der Kälte zu. Aber da war etwas. Sie bewegte sich ein wenig anders, und sie klang atemlos.

Plötzlich wusste ich es. Delilah hatte mit Chase geschlafen! Chase, der sich seit Monaten vor der bloßen Vorstellung einer Werkatze gruselte und mich manchmal ein bisschen angebaggert hatte, hatte meine Schwester gevögelt. Ich nahm sie beim Ellbogen. »Komm mit, ich will mit dir reden.«

Trillian stöhnte. »Du willst mich wieder mit diesem Wolfsjungen allein lassen?«

»Fuchs, du Ignorant – ich bin ein Yokai-kitsune, nicht irgendein dahergelaufener Lykanthrop!« Morio knurrte und streckte die Hände aus. Vor meinen Augen verlängerten sich die Fingernägel zu bösartigen Klauen, und seine Augen blitzten gefährlich.

»Aus! Platz und bleib!« Ich ging erneut dazwischen. »Muss ich einen Babysitter rufen, der dafür sorgt, dass ihr beiden euch benehmt?«

Morio starrte mich einen Moment lang mit trotzigem Gesichtsausdruck an, dann zog er seine Klauen wieder ein. »Kein Problem, Camille.«

Trillian wollte sich nicht übertrumpfen lassen und legte sofort nach: »Wir werden ganz brav sein. Schwatzt ihr nur, so lange ihr wollt.«

Delilah starrte die beiden in offensichtlicher Verwirrung an. Ich schob sie in die Küche, wo wir uns neben Maggies Kiste setzten. Delilah streichelte die Kleine einen Moment lang, holte dann tief Luft und sah mir in die Augen.

»Du weißt es, oder? Du merkst es mir an?« Sie zog den Kopf ein.

»Natürlich merke ich das. Ich kann ihn an dir riechen.« Tatsächlich hing ein Hauch von Chases Aftershave noch an ihrer Haut. Ich nahm sie bei den Schultern. »Mir ist nur wichtig, dass du glücklich und unversehrt bist. Er hat dir doch nicht wehgetan, oder?«

Sie machte große Augen. »Mir wehgetan? Nein, ich war es, die ihn aus Versehen gekratzt hat.« Sie wurde ernst, und mir stand plötzlich ein absurdes Bild vor Augen.

»O nein, das hast du nicht... oder doch?« Ich sah schon, worauf das hinauslaufen würde, und ich war nicht sicher, wie mir das gefiel.

Delilah sah mich empört an. »Nein! Jedenfalls nicht, während wir... Aber danach. Ich schätze, die Anspannung war doch ein bisschen viel. Wir haben nur gekuschelt, als ich mich verwandelt habe. Chase hat sich so erschrocken, dass er aus dem Bett gefallen ist«, fügte sie kichernd hinzu.

Ich unterdrückte ein Lachen. Der gute alte Chase hatte wohl nicht geahnt, worauf er sich da eingelassen hatte. Menschen unterschätzten immer die Macht und Bedeutung, die Sex für Feen hatte, sogar für halbblütige. In der Anderwelt hatte primitive Lust mehr Leben gekostet als sämtliche Kriege zusammen.

»Bist du böse?« Delilah durchsuchte den Küchenschrank nach einer Tüte Chips und riss sie mit den Zähnen auf. »Ich weiß, dass er dich auch manchmal angemacht hat. Ich war nicht sicher... «

»Du weißt ganz genau, dass ich mich nicht für Chase interessiere«, sagte ich, nahm ihr die Tüte ab und stibitzte eine Handvoll Chips. »Aber du bist... warst... noch Jungfrau. Fühlst du dich auch gut?« Sie brauchte sich weder um Krankheiten noch eine Schwangerschaft zu sorgen – wir waren bei der Medizinmutter gewesen, ehe wir die Anderwelt verlassen hatten; unsere Fruchtbarkeit war vorübergehend unterdrückt, und wir waren durch Magie vor Krankheiten geschützt. Ich machte mir eher Gedanken um ihren emotionalen Zustand.

Sie nickte. »Ja, wunderbar. Ich werde aber wachsam bleiben. Das war mein erstes Mal, und obwohl es nur mit einem VBM war, weiß ich um das Risiko.« Etwa eine von zehntausend Sidhe verlor nach dem ersten Sex den Verstand – üblicherweise endeten sie als verrückte Seher, die wurzellos durchs Land zogen.

»Chase ist wirklich ganz niedlich«, fügte sie hinzu. »Und ich wollte eben wissen, wie das ist.«

»Und, was hältst du davon? War er gut?« Ich holte einen Karton Milch aus dem Kühlschrank und schenkte ihr ein Glas ein. »Es war lustig – nichts Weltbewegendes, also weiß ich immer noch nicht, warum alle so einen Aufstand darum machen. Ich habe mehr Spaß beim Mäusejagen, um ehrlich zu sein. Aber ich wollte Chases Ego nicht verletzen, also habe ich ihm erzählt, er sei ganz toll gewesen.«

Ich betrachtete sie und wunderte mich darüber, wie unterirdisch schlecht Chase im Bett sein musste. Feen reagierten auf die meisten sexuellen Begegnungen auf eine Art und Weise, die Pornostars wie Kindergärtnerinnen wirken ließ. Vielleicht lag es auch daran, dass Chase menschlich war, und Delilah... nun ja... nur halb menschlich. Wie auch immer, ich hoffte nur, dass sie später nichts bereuen würde.

»Hauptsache, dir geht es gut. Wir haben ernste Probleme.« Ich erzählte ihr, was in der Bar geschehen war, und schilderte den Angriff des Fellgängers. »Morio ist hier, um uns zu helfen, Großmutter Kojote sei Dank, aber es klingt ganz so, als könnten wir uns weder auf den AND noch auf Hof und Krone verlassen. Was auch immer da vor sich geht, das alles hört sich nicht gut an.«

Delilah wollte gerade etwas erwidern, als wir einen Tumult an der Haustür hörten. Sie rannte den Flur entlang, und ich folgte ihr dicht auf den Fersen.

»Du Idiot, bring ihn nicht um! Verdammt, jetzt ist er weg – kannst du denn gar nichts richtig machen? Ich hole ihn zurück!«, hallte Morios Stimme durch den Flur.

Delilah und ich stießen am Eingang zusammen. Die Haustür war weit offen, und Trillian stand davor, eine fremde Jacke in der Hand und einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. Morio schoss die Einfahrt entlang, schneller, als ich je einen Menschen oder eine Fee habe rennen sehen, doch ich konnte nicht erkennen, wen oder was er verfolgte. Hatte der Fellgänger uns aufgespürt? Doch das Wesen hatte keine Kleidung getragen, da war ich ganz sicher. Stumm nahm ich Trillian die Jacke aus der Hand und warf einen Blick auf Morio, der die Jagd offenbar aufgegeben hatte und zum Haus zurückkam; ich winkte Delilah, mir nach drinnen zu folgen.

Im Wohnzimmer untersuchten wir die Jacke und fanden zwei Gegenstände: ein Messer und ein kleines Notizbuch. Als ich den Mechanismus aus Versehen berührte, schnellte eine achtzehn Zentimeter lange Klinge hervor, die meine Finger nur um Haaresbreite verfehlte.

»Das ist jedenfalls kein Taschenmesser«, sagte ich, betrachtete die Klinge, schloss die Augen und untersuchte die Energie des Messers. Es hatte keine gefährliche Aura, obwohl die Energie sich auch nicht sonderlich klar anfühlte. Aber es gab keinerlei Anzeichen von Dämonenlicht oder Feenfeuer. »Wer auch immer das war, ich glaube, er war menschlich«, sagte ich. »Das Messer ist nicht verzaubert. Keine Magie daran zu spüren.«

Delilah blätterte in dem Notizbuch herum. »Ganz vorn steht ein Name. Georgio Profeta. Aber keine Telefonnummer oder Adresse.« Sie schnappte nach Luft, und ich spähte über ihre Schulter. Dort, auf der nächsten Seite, in ordentlicher Schrift, stand eine genaue Abschrift des Textes über die Geistsiegel, den wir gelesen hatten. Darunter war ein Foto geklebt, das einen sehr großen, sehr schlangengleichen, leuchtend weißen Drachen neben einem ausgesprochen müde wirkenden Holzfäller zeigte. Neben dem Foto stand ein Name: Tom Lane.

Ich starrte Delilah an. »Was zum Teufel... ?« Ich nahm ihr das Notizbuch ab und blätterte die restlichen Seiten durch, aber bis auf ein paar unverständliche Gedichte enthielt es kaum mehr als die Informationen über Geistsiegel und das Foto. Ich hielt das Bild ins Licht. Der Drache sah nach einer Mischung aus östlicher und westlicher Abstammung aus – ein weißes, glattes Ungetüm mit Schlangenhals, majestätischen Flügeln, langen Barthaaren und Hörnern. Der Holzfäller war ein hünenhafter Mann mit irrem Blick, ungepflegtem Bart und langem, wirrem Haar.

»Der sieht aus, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sagte Delilah. »Sieh dir nur die Augen an.«

Ich kniff die Augen zusammen. Sie hatte recht. Sein Blick glimmte wie nicht von dieser Welt. Dann entdeckte ich eine Kette, die um seinen Hals hing. »Wollen wir wetten, dass das tatsächlich Tom Lane ist? Wenn er eines der Geistsiegel schon länger trägt, hat es vermutlich starke Auswirkungen auf seinen Verstand gehabt.«

In diesem Moment kamen Morio und Trillian zur Haustür herein. Ich winkte sie ins Wohnzimmer. »Was ist passiert?«

»Da kann ich nur raten«, sagte Trillian. »Ich habe jemanden vor dem Eingang gehört, und als wir zur Tür kamen, schlich da so ein kleines Wiesel herum. Aber das Wolfsjunge hier hat den Kerl entkommen lassen.«

Morio warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Fuchs, Svartaner, Fuchs. Und ja, er ist mir entkommen. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der so schnell laufen konnte, und ich habe auch noch nie so rasch eine Spur verloren. Es ist, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Aber dazu wäre er gar nicht gekommen, wenn du ihn nicht hättest entwischen lassen.« Er wandte sich mir zu. »Dieser Idiot hatte die Jacke gepackt, aber nicht den Mann. Der Kerl ist einfach aus der Jacke geschlüpft und davongeschossen.«

»Wie hätte ich denn ahnen können, dass er so ein schlüpfriger kleiner Scheißer ist?« Trillian stieß Morio den Zeigefinger gegen die Brust. »Du warst mir jedenfalls keine große Hilfe –«

»Beruhigt euch wieder!« Meine Stimme hallte laut durch den Raum. Trillian und Morio wichen zurück und warfen einander vorwurfsvolle Blicke zu. Als sie sich in ihre jeweilige Ecke des Rings zurückgezogen hatten, fuhr ich fort: »Nichts hat meine Schutzbanne ausgelöst, deshalb glaube ich nicht, dass er wirklich gefährlich war. Wir kümmern uns morgen darum. Vielleicht kann Chase mal im Computer nachsehen, bevor er herkommt. Trillian, du und Morio bewacht bis dahin abwechselnd das Haus – sorgt dafür, dass niemand hereinkommt. Delilah, bevor du ins Bett gehst, ruf Menolly an und vergewissere dich, dass es ihr gutgeht. Dieser Fellgänger läuft noch da draußen herum. Ich brauche dringend Schlaf, um mich wieder aufzuladen. Der Kampf mit der Harpyie hat mich fertiggemacht, ich kann kaum noch die Augen offen halten.«

Plötzlich brach der vergangene Tag mit aller Macht über mich herein. Ich wollte mich nur noch hinlegen, in einem stillen, dunklen Zimmer. Ich ging zur Treppe und war froh um das solide Geländer, froh, dass Delilah den zweiten Stock bewohnte und nicht ich, und dankbar, dass jemand da war, der über das Haus wachen konnte, und ich das nicht selbst tun musste.

In meinem Zimmer zog ich mich aus, vergewisserte mich, dass die Balkontür sicher verriegelt und dort draußen niemand versteckt war, und schlüpfte dann unter die Bettdecke. Erschöpft kämpfte ich mich durch die verschiedenen Schichten des Bewusstseins, während mir Bilder von dem Fellgänger, von Rina und Bad Ass Luke im Kopf herumwirbelten. Ich rang darum, wieder aufzuwachen. Als ich gerade die Augen geöffnet hatte und mich aufsetzen wollte, quietschte das Bett – jemand kroch zu mir herein.

Erschrocken fuhr ich hoch, doch Hände zogen mich wieder herunter und drehten mich auf den Rücken. Erst jetzt erkannte ich, wer das war. Trillian beugte sich über mich und hielt mich mit einer Hand an der Taille fest, während die andere mir übers Haar strich.

»Oh, bei den Göttern, kannst du nicht warten? Ich habe schon geschlafen«, widersprach ich schwach.

Trillian schüttelte nur den Kopf. »Psst... Du weißt, dass wir zusammengehören. Lass mich ein.« Seine Stimme war weich und glatt wie Samt.

»Trillian, du bist unverbesserlich. Lass mich schlafen.« Ich schob ihn weg, doch mein Körper rebellierte gegen meinen Verstand, und er schien meine Zerrissenheit zu spüren, denn er reckte sich und drückte die Lippen auf meine.

Er schob sich über mich, und ich schmolz in den Kuss hinein, der gar nicht mehr aufhören wollte. Seine Zunge zuckte hervor und berührte die meine, seine eisigen Augen schimmerten vor seiner pechschwarzen Haut. Er hatte sein silbriges Haar aus dem Zopf gelöst, und nun fiel es um mich herab; weiche Strähnen kitzelten mich.

Ich dachte an all die Gründe, weshalb das keine gute Idee war, warum es vergangene Nacht ein Fehler gewesen und auch jetzt noch ein Fehler war, doch das schien mir jetzt nicht mehr von Bedeutung zu sein. Als er mich berührte, fühlte sich das an wie seidiges Feuer, und unsere Auren flossen ineinander. Ich schnappte nach Luft, als sein Mund an meiner Brust entlangglitt und all die Gründe, weshalb ich das nicht tun sollte, einfach beiseitestieß. Was wir miteinander hatten, war zu gut, um es zu leugnen, und ich wollte ihn, wollte sein Herz, seinen Körper, seinen Schwanz in mir.

Ich streckte die Hand aus und umfing ihn. Er war steif und fest, bereit, doch Trillian packte meine Arme, schob sie mir über den Kopf und hielt meine Handgelenke fest, während er mich mit Küssen bedeckte, meine Brüste mit der Zunge liebkoste und dann die Lippen über meinen Bauch wandern ließ. Ich stöhnte, und die Funken, die wir hervorbrachten, erhellten das Zimmer. Als ich die Beine spreizte, schob er die Nase dazwischen, küsste das säuberlich getrimmte Haar, drückte dann meine Oberschenkel auseinander und stieß die Zunge in mich hinein. Der Genuss riss mich fort wie ein Wirbelsturm.

»Um aller Götter willen, hör nicht auf«, sagte ich und grub die Hände in sein langes Haar, während sein Kopf zwischen meinen Schenkeln auf und ab glitt. Das Feuer zwischen uns loderte auf wie aus Blitzen und Eis, und ich schrie auf, als ich dem Gipfel näher kam, einmal, zweimal. Er hob den Kopf, starrte mich mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen an, und versenkte sich dann tief in mir. Bei seinem ersten Stoß schrie ich erstickt auf, und dann verlor ich mich in der Bewegung, ritt ihn, wie er mich ritt, und sämtliche Götter in allen Himmeln hätten mich nicht von ihm losreißen können.

Ich spürte, wie er sich dem Abgrund näherte, an dessen Rand ich bereits schwankte, und dann ließen wir los, wir fielen. Trillian stieß einen gedämpften Schrei aus und begrub den Kopf zwischen meinen Brüsten, als ich den letzten Rest Kontrolle losließ und mich dem kleinen Tod ergab.

Während die Schockwellen ausrollten, fiel ich aufs Kissen zurück und genoss die köstlichen kleinen Wellen, die noch durch meinen Körper rasten. Trillian murmelte etwas, das ich nicht verstand, kuschelte sich dann an mich und schlang die Arme um mich – es fühlte sich an wie ein gemütlicher, vertrauter, lange getragener Mantel.

»Ich habe dich so sehr vermisst«, sagte er. »Ohne dich war es einfach nicht dasselbe. Keine andere Frau kann mit mir anstellen, was du anstellst, und glaub mir, ich habe mir alle Mühe gegeben, eine zu finden, die deinen Platz einnehmen könnte.«

Ich starrte ihn an. Trillian gestand mir, dass er Gefühle für mich hatte? Ich wusste, dass er es genoss, mit mir zu schlafen, doch aus seinem Mund zu hören, dass er mich vermisst hatte, das war, als erklärte Donald Trump, er würde sein Imperium aufgeben und in eine Kommune ziehen.

»Habe ich dir wirklich gefehlt?« Schläfrig und befriedigt kuschelte ich mich noch tiefer unter die Decke. Verdammt, es fühlte sich gut an, neben jemandem einzuschlafen.

Er nickte zögernd. Ein finsterer Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Noch nie hat mich jemand verlassen, obwohl ich schon viele Frauen zurückgelassen habe. Aber, Camille, du hast irgendetwas an dir. Ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken, solange wir zusammen waren, und auch nicht, nachdem du gegangen warst. Du bist wie der Geißblatt-Wein, den die Dryaden machen – einmal daran genippt, kann man ihn nie wieder vergessen.«

»Ich dachte, das sei das Verderben für den, der einen Svartaner liebt«, sagte ich und schob mich zum Sitzen hoch. Ich stopfte mir ein paar Kissen in den Rücken. »Trillian, weißt du eigentlich, warum ich dich verlassen habe?«

»Du hast es mir einmal gesagt, aber ich habe überhaupt nicht zugehört«, sagte er, und einen Moment lang schimmerte der Trillian hervor, den ich so gut kannte. Wenn es nicht seiner Bequemlichkeit diente, hörte er nie jemand anderem zu. Im Kern seines Wesens war er selbstsüchtig, was in gewissem Grade für alle Feen galt.

»Ich habe dich verlassen, weil ich wusste, dass du mich verlassen würdest. Svartaner sind berüchtigt dafür, ihre Partner einfach wegzuwerfen. Die meisten Leute aus deinem Volk sind so hedonistisch, dass wir Sidhe daneben wie Heilige dastehen. Ich habe versucht, mein Herz zu schützen, Trillian. Ich bin eine Sidhe; ich habe kein Problem damit, mit einer Menge Leuten herumzuspielen. Aber ich bin auch zur Hälfte Mensch, und wenn ich mich verliebe, dann richtig. Ich hätte deine Zurückweisung nicht ertragen.«

Durstig stieg ich aus dem Bett, tapste ins Bad und schenkte mir ein Glas Wasser ein. Die Technologie und ihre Wunder. Einfach genial, dachte ich.

Trillian stand auf, und wieder einmal konnte ich ihn nur wie gebannt anstarren. Seine Muskeln zeichneten sich im Mondlicht ab, das zum Fenster hereinfiel, und er räkelte und streckte sich genüsslich wie eine Katze. Dann warf er mir ein verschlagenes Lächeln zu.

»Camille, o meine Camille... Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dich nicht einfach wegwerfen würde wie die anderen. Warum willst du mir nicht vertrauen?« Als er gerade einen Schritt auf mich zutrat, klopfte es, und die Tür ging auf. Morio schob den Kopf durch den Türspalt.

Trillian wirbelte mit zorniger Miene herum. Ehe er Morio anschreien konnte, trat ich unbekümmert zwischen die beiden. Nacktheit macht mich selten verlegen, außer sie war demjenigen unangenehm, der mich so sah. Morios Miene hellte sich auf. Er schien sich sogar sehr zu freuen, als er mich so erblickte.

»Was gibt’s?«, fragte ich.

»Deine Schwester Menolly ist am Telefon. Sie will dich sprechen. Und die Gargoyle winselt. Ich glaube, sie hat Hunger.« Er warf einen Blick auf Trillian, und sein Gesicht nahm einen gelangweilten Ausdruck an. »Und du bist in zehn Minuten mit der Wache dran«, fügte er hinzu und schloss die Tür hinter sich.

Trillian schaute zum Bett und sah dann mich an. »Du willst ihn ficken, nicht wahr? Ich konnte den Funken zwischen euch vorhin deutlich spüren.«

Ich seufzte. »Was soll ich dazu sagen? Er ist der erste Mann seit dir, den ich anziehend finde.«

Er räusperte sich. »Spiel ruhig mit dem Fuchs, wenn du willst. Aber lass nicht zu, dass er sich zwischen uns drängt.« Ich hörte einen warnenden Unterton in seiner Stimme.

Ich hob die Hand, ehe er fortfahren konnte. »Zieh dich an. Du musst ihn ablösen, damit er etwas Schlaf bekommt. Und ich will nicht, dass ihr beiden euch streitet.«

Ich schlüpfte in mein neues Nachthemd – das Trillian so gut gefiel, wie ich gehofft hatte – und flauschige Pantoffeln und ging hinunter, um herauszufinden, was Menolly von mir wollte.