Kapitel 12

 

Unterwegs erzählten wir Chase von unserem geheimnisvollen Besucher und dem Notizbuch, das wir in dessen Jackentasche gefunden hatten. Er hielt am Straßenrand, als ich das Notizbuch auf der Seite mit dem Foto aufschlug und es ihm nach vorn reichte.

»Scheiße, ist das ein Drache?« Er sah aus, als wollte er aus dem Auto springen und schreien.

»Chase, deine Beobachtungsgabe ist erstaunlich.« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich ist das ein Drache. Was dachtest du denn? Ein Gecko?«

Chase warf mir einen ätzenden Blick zu. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich mag deine Schwester doch mehr als dich. Sie ist nicht so kratzbürstig.«

»Sie hat mit dir geschlafen«, erwiderte ich schnaubend. »Natürlich magst du sie lieber.«

»He, ich habe Ohren, ihr zwei!«, bemerkte Delilah und wurde rot. Mir ging auf, dass ihre Nonchalance in Beziehung auf Chase vielleicht nur gespielt war – sie hatte diesen verliebten Ausdruck in den Augen. Also lächelte ich sie an, um sie wissen zu lassen, dass ich nur Spaß gemacht hatte.

»Der Typ neben dem Drachen ist auch ein ganz schön großer Brocken«, sagte Chase. »Eine Fee?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Sieht eigentlich nicht so aus, aber das heißt noch gar nichts. Gut möglich, dass er ein Mensch ist.«

»Gut«, sagte er, gab mir das Notizbuch zurück und fuhr weiter. »Sagt mal, was passiert denn, wenn wir dieser überdimensionalen Eidechse gegenüberstehen? Wie besiegt man so was?«

Ich stöhnte. Keiner von uns war stark genug, es mit einem Wesen dieser Größenordnung aufzunehmen. »Gar nicht, außer man ist zufällig ein sehr mächtiger Magier oder eine sehr mächtige Hexe. Ich bin nicht annähernd stark genug dafür, selbst wenn meine Kräfte nicht unter diesen Kurzschlüssen leiden würden. Wenn ein Drache dich angreift, kannst du nur um Gnade flehen, davonlaufen, wozu du schneller sein müsstest als er, dich verstecken, bis ihm langweilig wird – das kann Wochen dauern –, oder ihn töten.«

Morio räusperte sich. »Einen Drachen zu töten, bringt Unglück. Seine Verwandten würden wissen, wer das getan hat, und sie würden den Rest ihres Lebens damit zubringen, den Mörder zu jagen. Die einzige Möglichkeit, in einem Stück zu bleiben, wenn man einen Drachen getötet hat, besteht darin, zu verschwinden. Man muss einen neuen Namen annehmen, sich irgendwo verstecken und hoffen, dass einen das Glück nicht verlässt.«

Ich beugte mich vor und spähte um die Kopfstütze herum, um ihn ernst anzusehen. »Das stimmt, vor allem bei den östlichen Drachen. Das ist eine andere Rasse als die westlichen. Ein paar von denen sind gar nicht so übellaunig, aber arrogant sind sie alle.« An Chase gewandt fügte ich hinzu: »Denk daran: Trample nie auf dem Ego eines Drachen herum. Beiß dir auf die Zunge, lass dich von ihm beleidigen, lass ihn sagen, was er will. Fordere ihn bloß nicht heraus, denn das ist der schnellste Weg, eine knusprige Kruste zu bekommen.«

Er warf mir im Rückspiegel einen Blick zu und sah dann Morio an, der nickte. »Verstanden. Ich werde daran denken. Sag mal, meinst du, dass der Drache mit den Dämonen unter einer Decke steckt?«

»Nein«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Das bezweifle ich. Drachen fressen Niedere und Mindere Dämonen zum Frühstück. Wenn wir einen auf unsere Seite ziehen könnten, hätten wir kein Problem mehr mit Dämonen, bis wir es mit Schattenschwinge selbst zu tun bekommen, aber ich fürchte, wir haben einem Drachen nicht viel zu bieten. Sie sind von Natur aus gewinnsüchtig, wie Söldner. Man muss sie reich entlohnen, damit sie einem helfen.«

Chase schaltete einen Gang herunter, als wir von der Interstate 405 auf die State Route 167 abfuhren. »Wir halten auf den Nisqually-Eingang zum Nationalpark zu. Irgendwo davor verläuft der Goat Creek, und wir suchen vermutlich eine unbefestigte Straße, die irgendwo ins Gebüsch führt.«

»Hat die Straße keinen Namen?«, fragte Morio.

»Nein. Vielleicht steht ein Briefkasten an der Einfahrt, aber es kann auch sein, dass Mr. Lane sich die Post im nächsten Postamt abholt. Ich konnte nur in Erfahrung bringen, dass die Straße zwischen zwei riesigen Stechpalmen hindurchführt. Die müsste man finden können.«

Ich fischte Jockos Tagebuch aus meiner Umhängetasche und schlug es auf. Delilah beugte sich zu mir herüber, und gemeinsam blätterten wir das Büchlein durch. Die meisten Riesen sprachen einen kehligen Dialekt des Faerie, der Feensprache, und ihre Schrift war eine Art Wiedergabe ihrer Sprechweise. Jocko bildete keine Ausnahme. Die Übersetzung dauerte zwar eine Weile, aber wir konnten die Einträge lesen, wenn wir einige Verben und Substantive vertauschten. Zumindest an den Stellen, wo wir seine Handschrift entziffern konnten.

Die Einträge der ersten paar Monate enthielten das, was man von jemandem erwarten würde, der Welten von zu Hause entfernt war. Jocko war einsam und vermisste die Bergluft, obwohl er froh war, nicht mehr wegen seiner Größe verspottet zu werden. Er vermisste seine Mutter, war aber froh, seinem Vater entronnen zu sein. Offenbar neigte Jocko senior zu Gewalttätigkeiten. Jocko war dem AND gegenüber loyal, bemerkte aber sehr wohl, wie wenig Unterstützung Agenten im Auslandseinsatz zuteil wurde.

Und dann, etwa in der Mitte des Buches, erwähnte er zum ersten Mal Louise.

Sie ist heute wiedergekommen, und ich hab sie nach ihrem
Namen gefragt. Louise. Was für ein seltsamer Name, aber
schön. Sie ist so nett, und sie hat gesagt, dass sie gern mit
Feen rumhängt. Ich habe gesagt: »Ich bin nur ein Riese,
und noch dazu kein richtig guter«, aber sie hat gesagt, ich
wäre süß. Sie will diese Woche mit mir ins Kino gehen.
Ich war noch nie im Kino. Ich habe schon davon gehört,
aber allein wäre ich zu nervös gewesen, um da reinzugehen.
Alles kommt mir immer noch so fremd vor.

Delilah lächelte mich an. »Er war in sie verknallt.«

»Und es klingt ganz so, als hätte sie seine Gefühle erwidert.« Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Es war mir unangenehm, die Nase in Jockos persönliche Angelegenheiten zu stecken. Obwohl er tot war, widerstrebte es mir, in seinen privaten Gedanken herumzuschnüffeln, von denen er erwartet hatte, sie würden auch privat bleiben. Aber wir mussten erfahren, was hier los war und warum Louise ermordet worden war.

»Wir sind schon fast in Puyallup«, bemerkte Chase.

»Da ist dieser große Jahrmarkt, oder?« Im September hatte Chase mich eingeladen, mit ihm die Puyallup Fair zu besuchen, aber ich hatte abgelehnt. Während die Straße unter unseren Rädern dahinraste, bemerkte ich, dass der Ort diese gewisse Durchreise-Atmosphäre hatte. Autohäuser säumten die Straße, dazwischen die üblichen Mini-Supermärkte, Tankstellen, Wirtshäuser, Spielhallen – alles, was den müden Reisenden nach einer langen Strecke ansprechen würde.

»Genau. Und da drüben ist der Mount Rainier«, sagte er und wies mit einem Nicken nach Südwesten. »Wir sind noch etwa eine Stunde von der Einfahrt zum Nationalpark entfernt.«

Nachdem ich ein paar Minuten auf den gletscherbedeckten Berg gestarrt hatte, wandte ich mich wieder dem Tagebuch zu und blätterte weiter, bis etwa eine Woche vor Jockos Tod. Dort fand ich einen sehr interessanten Eintrag.

Louise hat der Ring sehr gefallen, und sobald ich genug

Geld gespart habe, werde ich sie durch das Portal schmuggeln.
 Sie verbringt fast jeden Abend mit mir. Ich weiß, dass meine Familie
 sie nie aufnehmen würde, also werden
wir uns eben allein durchschlagen, wenn wir zu Hause
sind. Der AND wird stinksauer sein, aber das ist mir
egal. Die tun sowieso nichts für mich.
Gestern Abend hat Louise Wisteria im Keller erwischt.
Ich habe Wisteria verboten, wieder da runterzugehen. Sie
ist nicht befugt, sich dem Portal zu nähern. Louise auch
nicht, aber ich weiß, dass sie nichts anfassen würde.
Wisteria hat gesagt, sie wolle nur etwas in einem Inventar
nachschauen und dachte, das wäre da unten, also wird
das schon in Ordnung gehen.
Ich weiß nicht, was das Hauptquartier sich dabei gedacht
hat, mir die hierherzuschicken – sie ist mir keine große
Hilfe, und sie ist ein Miststück. Will nicht an den Abenden
 arbeiten, wenn Menolly da ist, weil sie Vampire hasst.
Ich hab versucht, ihr zu sagen, dass Menolly nicht wie die
anderen Vampire ist, sondern echt nett, aber Wisteria hört
nicht auf mich.

»Jocko hatte also vor, sich zusammen mit Louise durchs Portal zu schmuggeln und in der Anderwelt unterzutauchen. Und wer zum Teufel ist diese Wisteria? Hast du je gehört, dass Menolly sie erwähnt hätte?« Stirnrunzelnd versuchte ich mich zu erinnern, ob ich den Namen schon einmal gehört hatte.

Delilah kniff die Augen zusammen. »Nicht, dass ich wüsste, aber ich habe mich nie groß dafür interessiert, was im Wayfarer vor sich geht. Glaubst du, sie könnte unsere undichte Stelle sein?«

»Möglich. Wir müssen uns darum kümmern, sobald wir wieder zu Hause sind, das steht fest.« Ich überflog Jockos letzten Tagebucheintrag. In der Nacht, in der er gestorben war, hatte er Louise ein Essen spendieren und dann mit ihr zum Bowling gehen wollen. Das war so normal, so alltäglich, dass es mir den Magen zusammenzog. Jocko hatte keine Ahnung gehabt, dass sein Leben bald vorbei sein würde. Ihm war nicht klar gewesen, dass er auch Louise in Gefahr gebracht hatte, durch seine bloße Nähe zu ihr. Wenn er gewusst hätte, dass er und Louise in Todesgefahr schwebten, wären die beiden durch das Portal gegangen und verschwunden. Da war ich ganz sicher. Doch Jocko war ahnungslos gewesen, und nun war er tot.

Als ich wieder aufblickte, hielten wir gerade an einer Raststätte in einem kleinen Ort namens Elbe, der seinen touristischen Ruhm der Mount Rainier Scenic Railroad verdankte. Die Bimmelbahn machte eine Rundfahrt von anderthalb Stunden durch die Hügellandschaft am Fuß des Berges. Das klang eigentlich ganz nett, und ich nahm mir vor, später einmal wiederzukommen, wenn sich die Aufregung wieder gelegt hatte, und diese Rundfahrt zu machen. Ich könnte etwas mehr wilde Energie gebrauchen, als die Wälder um unser Stadtviertel zu bieten hatten.

»Muss jemand zur Toilette? Wollt ihr etwas essen?« Chase öffnete die Tür, um zu tanken. Delilah und ich stiegen ebenfalls aus und vertraten uns die Beine.

Der kleine Ort in der Nähe des Alder Lake hielt sich dank der vielen Touristen über Wasser, die auf dem Weg zum Mount Rainier hier durchreisten. Der Ashland Market, der Laden des Rastplatzes, bot einen Ausblick auf den See, und ich schlenderte zum Ufer und starrte auf das weite Wasser hinaus. Die dicken Wolken drohten damit, jeden Augenblick eine Sintflut auf uns loszulassen, und der Wind peitschte auf dem See kleine Wellen mit Schaumkronen auf.

Delilah gesellte sich zu mir, hielt aber ein paar Schritte Abstand vom Ufer. Wie die meisten Katzen hatte sie eine natürliche Abneigung gegen Wasser, und obwohl sie keine Probleme mit dem Baden und Duschen hatte – den Göttern sei Dank – hatte sie nur Schwimmen gelernt, weil der AND darauf bestanden hatte. Seit man ihr das Schwimmerabzeichen überreicht hatte, hatte sie nie wieder einen Fuß in ein Gewässer gesetzt, das größer war als ein Whirlpool.

Sie zog ihre Jacke fester um sich und schob sich die Hände unter die Achseln. »Verdammt, ist das kalt. Mir gefällt es hier nicht. Es ist zu wild und zu alt.«

Ich starrte sie an. »Zu alt? Wir kommen aus der Anderwelt – und du findest diesen Ort hier zu alt?«

Schulterzuckend sagte sie: »Vielleicht ist es das nicht... ich weiß nicht... Diese Gegend fühlt sich nur wild an, auf eine Art, die ich von der Anderwelt nicht kenne. Die Magie in den Wäldern der Anderwelt lässt die Bäume schimmern und erweckt sie zum Leben. Hier reden die Bäume mit niemandem. Sie wachsen in ihren eigenen dunklen Reichen, und ich kann nicht hören, was sie denken.«

Da hatte sie recht. In der Anderwelt war das Land so eng mit seinen Bewohnern verbunden, dass es sich wie ein Teil der Gemeinschaft anfühlte. Selbst in den dunklen Wäldern herrschte immer ein Gefühl von Verständnis und Miteinander. Auf der Erde war der Wald wie durch einen gewaltigen Abgrund von den Menschen getrennt; das unterstrich noch das Gefühl grundlegenden Misstrauens, das ich bei den meisten Menschen spürte, die mir begegneten. Sie vertrauten der Wildnis nicht, sie fürchteten alles Ursprüngliche und nahmen unglaubliche Mühen auf sich, um alles in ihrer Reichweite zu zähmen. Es war, als befänden sich die wilden Orte im Krieg mit der Menschheit. Wenn sie doch nur einen Kompromiss finden könnten.

Wir beobachteten einen Falken auf der Jagd, der tief über dem See dahinflog. »Manchmal«, sagte ich, »frage ich mich, wie es wäre, wenn Anderwelt und Erdwelt wieder frei miteinander verbunden wären, so wie ganz früher, ohne Regeln und Vorschriften, wer wo kommen und gehen darf. Wie würden sich die Dinge dann verändern?«

»Das würde für beide Welten den Tod bedeuten.« Morio hatte sich von hinten an uns herangeschlichen, so leise, dass keine von uns beiden ihn gehört hatte. Erschrocken fuhr ich zusammen, doch er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Entschuldigung, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.« Er warf Delilah einen Blick zu und sah dann wieder mich an. »Bei dem Fortschritt, den die Erde gemacht hat, wäre es ein gewaltiger Fehler, jetzt die Grenzen zwischen den Welten ganz zu öffnen. Vielleicht irgendwann in der Zukunft, wenn beide Seiten gut auf den Kulturschock vorbereitet sind.«

»Seid ihr so weit?« Chase rief vom Jeep aus nach uns; seine Miene wirkte vage beunruhigt. Wir eilten zurück zum Wagen. Er hielt eine Tüte voll Knabbereien in der Hand, doch sein verstörter Blick sagte mir, dass ihm mehr durch den Kopf ging als Kartoffelchips.

»Was ist los?« Ich sah mich um und fragte mich, was in den vergangenen fünfzehn Minuten passiert sein könnte.

»Ich habe mich mit dem Kassierer unterhalten. In letzter Zeit hat es hier ein paar ziemlich merkwürdige Vorkommnisse gegeben. Verlassene Gebäude sind niedergebrannt, ein paar Kühe und Schafe fehlen, Blutflecken wurden gefunden. Es sind sogar ein paar seltsame UFO-Sichtungen gemeldet worden. Wonach klingt das für euch?«

»Nach einem herumstreunenden Drachen.« Ich warf Morio und Delilah einen Blick zu. »Ich habe das scheußliche Gefühl, dass wir ihn noch persönlich kennenlernen werden.«

Bei der Aussicht, mit einem Drachen kämpfen zu müssen, wurde mir schlecht. Was hatte der überhaupt hier zu suchen? Und welche Beziehung bestand da zu Tom Lane? Das Foto in Georgio Profetas Notizbuch wies darauf hin, dass es eine Verbindung gab. Und was war so Besonderes an Tom Lane, dass er eines der Geistsiegel besaß?

Als wir wieder ins Auto stiegen, verdunkelte sich der Himmel, und das Unwetter brach los. Schwerer Regen prasselte aufs Pflaster, und die dicken Tropfen spritzten von der Straße hoch. Chase fuhr vorsichtig weiter. Die Staatsstraße war viel schmaler als der Freeway und wand sich in zahlreichen Kurven durch die ländliche Gegend.

»Sag mir bitte noch einmal genau, was ich tun soll, falls wir diesem Drachen begegnen«, bat Chase und sah mich im Rückspiegel an.

»Wenn du ihn zuerst siehst, weichst du vorsichtig und leise zurück. Versteck dich, wenn es geht. Falls er dich sieht, könnte er dich auf der Stelle angreifen – dann bist du buchstäblich Toast. Er könnte auch versuchen, sich mit dir zu unterhalten. Wenn er spricht, hör zu und widersprich ihm ja nicht. Lass dich nicht von deinem Stolz zu Dummheiten verleiten, droh ihm nicht und nenne ihm niemals deinen richtigen Namen. Das wäre eine ganz schlechte Idee. Entschuldige dich dafür, dass du sein Territorium betreten hast, und frage höflich, ob du wieder gehen darfst. Aber ganz gleich, was du tust, zieh ja nicht deine Waffe, sonst war’s das.« Ich kramte in der Tüte herum und fand ein Milky Way.

Chase hüstelte. »Klingt ja reizend. Ich nehme an, ein Mensch kann bei so einer Begegnung nur auf ganzer Linie verlieren.«

»Also«, sagte Morio und räusperte sich, »ich habe mal einen Drachen kennengelernt, der sogar recht freundlich war.«

Ich starrte ihn an. »Du bist schon einmal einem Drachen begegnet?«

»Zweien sogar, aber mach dir keine großen Hoffnungen. Bei dem freundlichen hatte ich einfach nur Glück. Er war auf der Suche nach seinem Abendessen, und ich wusste zufällig, wo in der Nähe ein Bauer mit einer Herde Kühe wohnte. Die andere Begegnung verlief leider nicht so unblutig.« Er verzog das Gesicht. »Ich war mit einem jungen Priester auf Reisen, der glaubte, er sei mächtiger als der Drache. War er aber nicht.«

»O Gott, das ist genau das, was ich jetzt hören wollte«, sagte Chase und bremste ab, als links von uns eine Straße abzweigte. Der Feldweg führte uns durch dichtes Gebüsch. Heidelbeeren und Farne, Brombeerranken und Wacholder drangen bis auf den Weg vor, und riesige Douglasien ragten aus dem Unterholz auf, dazwischen wilder Holzapfel, Weinahorn und Rotzedern. Hier und dort wucherten verwilderte Weidenröschen. Während wir den Feldweg entlangholperten, wurde die wilde Energie, die Delilah erwähnt hatte, immer dichter, wie Nebel, der sich am Boden verbreitet.

Wir kamen um eine Kurve und sahen links vor uns ein altes Haus. Die Straße endete in einer kreisrunden Auffahrt, auf der zwei alte Pick-ups vor sich hin rosteten. Die drei Nebengebäude weiter hinten sahen aus, als wollten sie jeden Moment einstürzen. Ich blickte mich um und suchte nach Hinweisen auf den Holzfäller. Chase verrenkte sich am Fahrerfenster den Hals, vermutlich auf der Suche nach dem Drachen.

Der Jeep hielt, und wir stiegen aus. Chase stieg leichtfüßig die Stufen vor dem Haus hinauf, wobei er einem geborstenen Brett ausweichen musste, das unter ihm nachzugeben drohte. Er klopfte an die Tür, doch niemand antwortete.

Ich ging seitlich ums Haus herum, in Richtung der wackeligen Schuppen, und suchte dort nach Anzeichen von Leben. Als ich den kleinsten, mit Moos bedeckten Schuppen fast erreicht hatte, stieß Chase einen schrillen Schrei aus, und eine Explosion ließ den Boden erzittern. Was zur Hölle... ?

Ich rannte zurück zum Haus und sah, dass Chase von der Veranda geschleudert worden war, und die unverkennbaren Funken, die auf magische Aktivität hinwiesen, flogen überall herum. Chase lag auf dem Boden, und Delilah kniete neben ihm. Morio näherte sich vorsichtig der Stelle, wo eben noch die Tür gewesen war. Ich sprang die Treppe hinauf und blieb neben dem Yokai-kitsune stehen. Er hielt den Zeigefinger an die Lippen.

»Da drin ist jemand«, flüsterte er.

Ich holte tief Luft und sammelte so viel Energie, wie ich konnte. Obwohl es regnete, fühlte es sich so an, als seien die Blitze noch weit weg. Doch die Mondmutter – unsichtbar hinter Wolken und Tageslicht – spürte ich stark und klar. Ich rief ihre Macht zu mir herab, und sie schoss durch meinen Körper in meine Hände.

»Okay.« Ich nickte Morio zu. »Ich bin bereit. Sehen wir uns an, womit wir es zu tun haben.«

Als wir um die Ecke des Flurs bogen, standen wir plötzlich einer Fee gegenüber. Sie hatte blasse, mintgrüne Haut, und ihre Augen waren von derselben Farbe wie meine, violett mit Lavendelschimmer. Winzige grüne Triebe, die Ranken irgendeiner Pflanze, ragten an mehreren Stellen aus ihrem Körper und lugten unter einem so hauchdünnen Kleid hervor, dass sie nackter wirkte, als wenn sie gar nichts getragen hätte.

Anziehend und wunderschön, warf sie uns einen langen Blick zu und winkte dann Morio, der einen Schritt auf sie zutrat. Ich packte ihn am Arm.

»Nicht! Ich rieche Dämonen«, sagte ich. Und dann wusste ich, wem wir gegenüberstanden. Das war diese Wisteria aus Jockos Tagebuch. Und für mich bedeutete das, dass Bad Ass Luke nicht weit sein konnte.

Wisteria richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Morio. Sie streckte den Zeigefinger und krümmte ihn wieder. Ich sah seinen glasigen Blick und zwickte ihn kräftig in den Arm.

»Wach auf! Sie belegt dich mit einem Glamour-Zauber!«

Morio schüttelte den Kopf und blinzelte. Wisteria warf mir einen hässlichen Blick zu und bleckte die Zähne – spitze kleine Zähne. O nein, die stand nicht auf unserer Seite, so viel war sicher.

In diesem Augenblick drängten sich Delilah und Chase hinter uns durch die Tür. Als Wisteria sich mit gleich vieren von uns konfrontiert sah, beschloss sie offenbar, es lieber nicht auf einen Kampf anzulegen, denn sie wirbelte herum und floh.

Ich brach über sie herein wie ein Schneesturm über einen Berg und sandte ihr einen Energiestoß nach. Ich traf sie genau in den Rücken, sie flog gut fünf Schritte vorwärts, doch dann, o Graus, begann der Blitz von den Wänden zurückzuprallen. Ehe ich ihn aufhalten konnte, traf er Chase und riss ihn von den Füßen.

»Mist! Chase, alles in Ordnung?« Während ich mich neben ihn kniete, griffen Morio und Delilah Wisteria an. Ich hörte einen Tumult und blickte zu ihnen auf. Es war ihnen gelungen, sie zu packen. Morio hielt sie fest, während Delilah versuchte, sie mit einem Ärmel ihrer Jacke zu knebeln.

Chase blinzelte ein paarmal und setzte sich dann langsam auf. Den Göttern sei Dank, er hatte nicht die volle Wucht des Energiestrahls abbekommen – das hätte tödlich sein können. Er blickte auf sein versengtes Hemd hinab und verzog das Gesicht.

»Hast du dir etwas gebrochen? Brauchst du einen Arzt?« Ich half ihm auf die Beine.

Er klopfte sich den Staub von den Jeans und betastete dann vorsichtig seinen Bauch, wo der Stoff sich tiefbraun verfärbt hatte. »Na, herzlichen Dank. Das war eines meiner Lieblingshemden. Verflucht, tut das weh. Du haust vielleicht zu, Mädel!«

»Du hast nicht die volle Ladung abgekriegt. Glück im Unglück«, erwiderte ich grimmig. In der besten aller Welten hätte der Blitz nicht zum Querschläger werden dürfen, doch da meine Magie oft verrückt spielte, konnte eben immer etwas schiefgehen. Ach ja – in der besten aller Welten wäre Menolly noch am Leben, meine Magie würde perfekt funktionieren, meine Schwestern und ich wären ganz hohe Tiere beim AND und hätten es nicht nötig, einem Degath-Kommando aus Dämonen hinterherzulaufen, die fanden, es sei an der Zeit, die Erde zu erobern.

Ich vergewisserte mich, dass Chase es überleben würde, und wandte mich dann Wisteria zu. Delilah und Morio hatten es geschafft, sie zu fesseln; hinter ihr stand ein großer Eichentisch, der mit einem fadenscheinigen Leinentischtuch bedeckt war. Vor einem der Stühle lag ein Set mit einer Serviette darauf. Ich schüttelte die Serviette aus und ging auf unsere Gefangene zu.

Delilah zog ihre Hand weg, als ich die Serviette über Wisterias Mund legte. »Sie ist stark«, sagte Delilah warnend, und im selben Moment wand sich die Fee heftig, um sich zu befreien. Meine Schwester drückte Wisteria zu Boden, und Morio packte sie noch fester.

Ich kniete mich hin und versuchte festzustellen, zu welcher Rasse Wisteria gehörte. Sie stand offensichtlich in Verbindung mit den Wäldern. Die Ranken und Blätter waren keine Stickerei auf ihrem Kleid; sie waren ein Teil ihres Körpers, ihres Wesens. Ich berührte ihr Haar und strich ihr die langen, weizenblonden Strähnen aus den Augen. Der schwache Umriss eines Mals kam mitten auf ihrer Stirn zum Vorschein – drei Blätter.

»Eine Art Baumnymphe, denke ich.« Ich kramte in altem Schulwissen herum. »Eine Dryade.«

»Eine Mänade?«, schlug Morio vor. »Rasend genug ist sie jedenfalls.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich rieche kein Fleisch, und Mänaden essen Fleisch. Die hier hat in ihrem Leben noch keinen Hamburger angerührt, darauf verwette ich meinen guten Ruf. Nein, ich glaube, unsere Wisteria hier ist eine Dryade, die sich über irgendetwas geärgert und sich deshalb mit den falschen Leuten eingelassen hat. Das Problem ist nur, dass sie jetzt mit zwei Morden in Verbindung steht.«

Chase kam zu uns und starrte auf die Fee hinab. »Der wachsen ja Pflanzen aus der Haut.«

»Du bist ein ganz Schlauer, was?«

»He, hübsch langsam. Schließlich hättest du mich eben beinahe umgebracht.«

Ich warf ihm einen raschen Blick zu, erkannte aber, dass er mich nur aufziehen wollte. Plötzlich schnippte ich mit den Fingern und sagte: »Ich weiß, was sie ist! Sie ist eine Floreade – das ist eine seltene Unterart der Dryaden. Sie hassen Menschen wie die Pest.«

Ich runzelte die Stirn. Was sollten wir jetzt mit ihr machen? Floreaden verfügten über beachtliche Kräfte, wenn genug Grünzeug in der Nähe war, und hier saßen wir mitten im großen, weiten Wald.

Morio schien das Problem zu verstehen. »Wir können sie nicht einfach gehen lassen. Sie ist eine Gefahr für uns und unsere Mission.«

»Meinst du, sie würde verstehen, was auf dem Spiel steht, wenn wir es ihr erklären?«, fragte Delilah.

»Das bezweifle ich, aber einen Versuch ist es wert«, erwiderte ich. Wisteria zappelte, und ich lächelte kalt auf sie hinab. »Immer mit der Ruhe, Schwester. Sei still und hör uns zu.«

Ich tastete sie nach Waffen ab. Floreaden trugen für gewöhnlich keine, aber es konnte ja nicht schaden, mal nachzusehen. Als ich ein langes, dünnes Rohr und mehrere bösartig aussehende kleine Pfeile aus den Falten ihres Gewands zog, war ich froh, dass ich mir die Zeit für diese Durchsuchung genommen hatte. Sicher ist eben sicher. Ich schnupperte an den Pfeilspitzen.

»Gift, und ein tödliches obendrein. Wir hatten Glück, dass wir sie erwischt haben, ehe sie einen von uns damit treffen konnte, sonst wäre derjenige am Ende.« Ich gab Chase einen Wink. »Würdest du bitte das Tischtuch in Streifen reißen? Wir müssen ihr die Hände fesseln, denn solange sie frei sind, kann sie damit zaubern. Wir müssen sie befragen.«

»Können wir nicht einfach meine Handschellen nehmen?«, fragte Chase und hielt sie hoch. Ich betrachtete sie. Kalter Stahl. Sie würden nicht angenehm für Wisteria sein, sie aber auch nicht verbrennen, wie Eisen es getan hätte. Sogar meine Schwestern und ich bekamen einen hässlichen Ausschlag von Eisen, dabei waren wir nur Halbfeen.

»Das müsste gehen, aber wir müssen ihr die Hände auf den Rücken fesseln.« Ich nahm Chase die Handschellen ab, blickte mich im Zimmer um und überlegte.

In regelmäßigen Abständen verteilt ragten Stützpfeiler vom Boden bis an die Decke. Ich ließ die anderen Wisteria so festhalten, dass ihr Rücken flach an einen der Pfeiler gedrückt war, zog dann ihre Arme hinter den Pfosten und legte die Handschellen an. Sie wehrte sich, und ihre Haut fühlte sich unter meinen Fingern glatt wie Seide an. Ich musterte prüfend ihre Hände und vergewisserte mich, dass es ihr nicht gelingen würde, die Handschellen abzustreifen. Ihre Finger waren schlank, aber nicht so schlank.

»Okay«, sagte ich und trat zurück. »Wir sind so sicher, wie es in ihrer Gegenwart möglich ist. Nimm ihr den Knebel ab, aber pass auf ihre Füße auf.«

Morio löste den Knebel. Wisteria hustete mehrmals, riss dann den Kopf hoch und fixierte mich mit zornigem Blick.

»Miststück«, sagte sie und verengte die Augen zu Schlitzen. »Du gehörst hier nicht hin – dies ist nicht deine Heimat.«

»Meine Mutter war menschlich. Die Erde ist ebenso meine Heimat wie die Anderwelt.« Ich beugte mich vor und betrachtete ihr dreiblättriges Mal, das zu glühen begonnen hatte. »Beruhige dich endlich. Wir wissen, dass du mit den Dämonen im Bunde stehst, und wir wissen auch, dass du etwas mit Jockos Tod zu tun hast. Mit Louises Tod vermutlich ebenfalls.«

Sie zuckte zusammen. Das war echter Schrecken. Die meisten Feen konnten zwar lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, doch die Überraschung malte sich ganz deutlich auf ihrem Gesicht ab, und mir wurde klar, dass sie gar nichts von dem Mord an Jocko gewusst hatte.

»Was soll das heißen?«, fragte sie. »Jocko und Louise sind tot? Wer hat sie getötet?«

»Deine Freunde. Die perversen Biester, die du durch das Portal hereingeschmuggelt hast. Du hast ihnen von Louise erzählt, nicht wahr? Dass sie dich in der Nähe des Portals gesehen hatte? Ich wette, deshalb haben sie Louise ermordet. Damit sie nicht mehr reden konnte.«

Der Ausdruck auf Wisterias Gesicht sagte mir alles, was ich wissen musste.

»Großartig«, sagte ich. »Du bist nicht nur zur Verräterin geworden und hast, wenn auch unwissentlich, dem Feind geholfen, einen deiner eigenen AND-Kollegen zu töten, du bist auch noch für den Mord an einem Menschen mitverantwortlich. Was ist passiert, nachdem du sie durchgelassen hast? Haben Bad Ass Luke und seine Kumpels dir gesagt, du sollst nach Hause gehen und einfach vergessen, dass du sie je gesehen hast? Haben sie dir versprochen, dass niemandem sonst etwas geschehen würde? Oder dir irgendwelchen Mist erzählt, wie etwa, dass sie die ursprüngliche Pracht und Herrlichkeit der Erde wiederherstellen wollen? War es so?«

Sie antwortete nicht, doch ich sah ihr an, dass ich einen Nerv getroffen hatte. Ich war so wütend, dass ich sie am liebsten auf der Stelle weggepustet hätte, doch ich beherrschte mich.

»Ist das wahr?«, fragte sie und sah Morio an. »Du bist erdgebunden. Du würdest mich nicht belügen, oder?«

Morios Blick huschte zu mir herüber, und ich hielt hübsch den Mund. Fuchsdämonen hatten eine ausgesprochene Begabung für Illusionen und Tarnung. Die Täuschung war ihre zweite Natur, obwohl ich bei ihm noch nie eine Lüge erspürt hatte. Manche Fuchsdämonen benutzten ihre Fähigkeiten, um anderen zu schaden; Morio hatte sich für einen edleren Weg entschieden.

Er verschränkte die Arme, starrte Wisteria einen Moment lang an und sagte dann: »Ich schwöre beim Herzschlag von Inari, dass ich nicht lüge. Jocko ist tot, und die Dämonen haben ihn ermordet.« Er hob eine Hand und machte ein Zeichen, das ich nicht kannte. »Beim Atem der Reismutter, das ist die Wahrheit.«

Wisteria starrte auf ihre Füße. »Ich wusste doch nicht, dass sie ihm etwas tun würden. Er war eigentlich ganz nett zu mir... « Ich fragte mich, ob sie ihre Handlungsweise genug bereute, um mit uns zusammenzuarbeiten – da hob sie den Kopf, und ihre Augen waren so kalt wie Gletscherwasser.

»Der Tod des Riesen ist bedauerlich, aber wie die Menschen sagen würden: ein Kollateralschaden. Und was geht mich Louise an? Sie ist ein Mensch, das ist alles, was zählt. Die Vergewaltigung der Erde durch den Menschen wird bald ein Ende haben. Wir holen sie uns zurück, und diesmal lassen wir sie nicht so leicht wieder los.«

Chase setzte zu einer empörten Erwiderung an, doch ich brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Wisteria, wenn die Dämonen über das Land hergefallen sind, wird es hier nichts mehr geben, was du schützen könntest. Du weißt doch, wie sie sind«, sagte ich. »Die meisten von ihnen hassen alles, was wächst und gedeiht. Sie verabscheuen Leben und Fülle, und die Vögel in der Luft und die Tiere im Wald bedeuten ihnen ebenso wenig wie die Menschen und Feen.«

Ich machte schmale Augen und fuhr fort: »Man könnte sagen, dass sie die Natur ebenso wenig achten wie du Louise. Schattenschwinge und seine Truppen werden nicht eher ruhen, bis das Land zur Wüste geworden ist. Das Leben unter den Dämonen wird viel schlimmer sein als das Leben unter der schlimmsten menschlichen Herrschaft, die man sich nur vorstellen kann.«

»Blödsinn!« Sie bäumte sich gegen die Handschellen auf. »Sie haben mir ihr Wort gegeben –«

»Bist du eigentlich zu blöd zum Atmen?« Morio schlug mit der Faust an den Stützbalken neben ihr. »Glaubst du wirklich, dass sie dir die Wahrheit sagen würden? Großmutter Kojote hatte recht – das Gleichgewicht ist aus den Angeln gehoben, und Spinner wie du sind nicht besonders hilfreich. Klar, die Menschen haben das Land ruiniert, aber was sie getan haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was Schattenschwinge vorschwebt. Mit wem arbeitest du zusammen? Wer hat dir den Auftrag gegeben, Bad Ass Luke zu unterstützen?«

Wisteria spuckte ihn an und traf ihn mitten ins Gesicht. Als er sich mit geballten Fäusten abwandte, trat ich wieder vor sie hin. »Wenn du ihm nicht glaubst, können wir daran nichts ändern, aber du überlässt unsere beiden Welten der leibhaftigen Hölle, wenn du uns nicht sagst, was du weißt.« Als sie stur den Kopf schüttelte, wandte ich mich wieder den anderen zu.

»Sie wird nicht zur Vernunft kommen. Floreaden sind hartnäckig wie Zecken, und in ihrem Erbsenhirn hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass die Dämonen sich höflich vor den Naturgeistern verbeugen und ihnen die Schlüssel zur Erde überreichen werden, wenn die Menschen erst tot oder unterjocht sind. Falls wir versagen sollten, würde ich zu gern ihr Gesicht sehen, wenn sie begreift, wie das wirklich läuft. Die Götter sollen meine Zeugen sein: Ich schwöre, dass ich sie mit bloßen Händen in Stücke reißen werde, sollte dieser Tag jemals kommen.«

Kochend vor Zorn über dieses Spatzenhirn wies ich Delilah und Morio an, das Haus auf irgendeinen Hinweis zu durchsuchen, wo Tom Lane sich aufhalten könnte. Ich trat inzwischen vors Haus und dachte nach; ich wollte mir einen Spruch überlegen, der uns helfen könnte, statt uns zusätzlich in den Arsch zu treten.

Der Wind hatte aufgefrischt; er war nicht mehr kühl, sondern richtig kalt. Er blies von Südwesten her, und dunkle Wolken drohten uns noch vor Sonnenuntergang zu durchweichen. Ich holte tief Luft, sog den Duft von moosbewachsenen Bäumen, Douglasien und verrottenden Pilzen ein, die den Boden polsterten und rutschig machten.

Die Ahornbäume, Eichen und anderen Laubbäume waren schon fast kahl, und die wilden Böen rissen ihnen die letzten Blätter ab. In der Anderwelt gab es Unwetter, die manchmal gewaltig und ehrfurchtgebietend waren, doch ich hatte noch nie erlebt, dass man in irgendeiner Gegend so permanent durchnässt wurde wie im pazifischen Nordwesten, und das gut neun Monate im Jahr. Ich sehnte mich nach der Sonne, doch wenn man Chase glauben durfte, würde ich die nicht so bald in nennenswertem Ausmaß zu sehen bekommen.

Während ich im feuchten Nachmittag stand und trotz meiner Jacke vor Kälte zitterte, begann ich die Präsenz von Magie zu spüren. Es war alte Magie, die tief aus dem Wald kam, tief aus dem Boden. Das war nicht die Magie der Magier und Hexen. Nein, dies war die Magie, die ihren Ursprung unter dem Erdboden hatte und aus dem Element hervorwuchs, dem sie entsprang. Erdmagie – dunkel und lehmig, erfüllt von Geheimnissen, unter vielen Jahren von Blättern und Zweigen verborgen, die verrottet und wieder ein Teil des Planeten selbst geworden waren.

Diese Energie hatte etwas Schwerfälliges, so drückend, dass es mein Gehör dämpfte und mich hinabsog. Dunkel wie die tiefen Nächte mitten in den Wäldern, dunkel wie die Wilde Jagd, die über den Himmel zog. Dunkel wie uralte Geheimnisse, die weder zum Guten noch zum Schlechten gereichten, sondern einfach eine Kraft an sich darstellten. Grüne Funken blitzten um mich auf, und ich erkannte, dass ich in Kontakt mit einem Erdelementar getreten sein musste.

Ich kniete mich hin, weit genug weg von einer Pfütze, die sich in einer Reifenspur in der Einfahrt gebildet hatte, und legte eine Hand auf die glitschige Erde. Hör zu, sagte ich mir. Hör einfach nur zu. Keine Zauberei, keine Sprüche, die Mondstrahlen oder Sternenlicht herabrufen. Hör genau hin und frage höflich, wo wir den Mann namens Tom Lane finden können.

Und dann sah ich ihn – so deutlich wie eine Vision. Holzfäller, ja, aber nicht im Herzen. Er war groß und stark, und unter dem wirren Bart lag ein Adel, der einer anderen Zeit, einem anderen Land entstammte. In seinen Augen glimmte der Wahnsinn, der Wahn eines Menschen, der zu lange gelebt und zu viel gesehen hatte. Ich schnappte nach Luft, als er die Hand nach mir ausstreckte und mich um Hilfe anflehte.

Wer war der Kerl? Und warum besaß er das Geistsiegel?

Vor meinen Augen tat sich das dunkle Maul einer Höhle auf, und ich begriff, dass er sich dort drin versteckte. Ich richtete mein inneres Radar aus und freute mich, als ich ein starkes Signal aus den Wäldern empfing, von der Flanke eines Hügels her. Tom Lane war nicht weit weg, doch es würde schwierig sein, die genaue Stelle zu finden, und bei diesem Regen würde es auch nicht eben Spaß machen.

Während ich noch die letzten Fäden der Erdenergie abschüttelte, schreckte mich ein heiserer Schrei aus dem Haus auf, und ich wirbelte herum und rannte hin.