Kapitel 14

 

Dracheee!« Delilah wich mit entsetzter Miene zurück.

»Hör auf zu schreien. Ich sehe ihn ja.« Was zum Teufel sollten wir jetzt tun? Die Waldesruhe-Szenerie war plötzlich zu einem Minenfeld geworden, und der letzte Rest des Drangs herumzutanzen wich dem wesentlich stärkeren Drang, die Beine in die Hand zu nehmen. Aber das würde nichts nützen. Drachen waren groß. Drachen waren stark. Drachen waren schnell. Und vor allem – Drachen verspeisten Hexen wie mich zum Frühstück.

Der Wyrm war eine Mischung aus asiatischer und westlicher Abstammung. Sein Körper war lang und schlangenartig, die Flügel groß, aber nur Zierde; er brauchte sie nicht zum Fliegen. Was wie Hörner aussah, waren in Wirklichkeit Fühler auf der Stirn der Bestie. In seiner ganzen reptilienhaften Anmut ragte er nun vor uns auf, milchweiß und schimmernd wie Perlmutt in allen Schattierungen von Hellrosa bis Elfenbein.

Ich starrte in seine eisig grauen Augen, schwarz umrandet und mit Pupillen, in denen zwei diamantene Lichtpunkte glitzerten, und konnte nicht anders, als staunend festzustellen, wie wunderschön er war. Es war viele Jahre her, dass ich zuletzt einen Drachen gesehen hatte, und ich war noch nie einem so nahe gewesen. Ein Teil von mir wollte nur ehrfürchtig vor ihm stehenbleiben, doch ich rüttelte mich aus meiner leichten Trance auf. Drachen waren berüchtigt dafür, dass sie ihre Beute hypnotisieren konnten – das machte es ihnen leichter, ihre Häppchen schön knusprig zu grillen.

Womöglich tat ich ihm damit Unrecht. Immerhin spien nicht alle Drachen Feuer, doch wenn man sich die Landschaft hier so ansah, war ihm das durchaus zuzutrauen. Die Wiese war völlig verbrannt, und der makellose Kreis der Zerstörung legte nahe, dass das kein Waldbrand gewesen war.

Vorsichtig trat ich zurück, einen Schritt nach dem anderen, den Blick fest auf das Gesicht des Drachen geheftet, während ich mich innerlich darauf vorbereitete, wegzurennen oder zu erstarren – je nachdem, was mein Bauch mir als lebensrettende Maßnahme raten würde.

Der Drache gab ein tiefes Grollen von sich, das sich verdächtig nach einem Lachen anhörte. Kein gutes Zeichen. Die Scherze von Drachen gingen gewöhnlich auf Kosten der Zuhörer, deshalb bedeutete die Belustigung eines Drachen selten etwas Gutes, außer natürlich für seine eigene Laune.

Ich warf Morio einen raschen Blick zu. Auch er spielte eine Statue. Delilah war nirgends zu sehen, und ich hoffte, sie hatte es geschafft, sich hinter einem Baum zu verstecken. Aus den Augen, aus dem Sinn, aus dem Magen.

»Also, soll ich euch jetzt fressen oder für später aufheben?« Die Stimme des Drachen war tiefer als jeder Bass, den ich je gehört hatte. »Ihr habt euer letztes Festmahl bereits genossen – einander nämlich –, also bin ich jetzt dran.«

Ich rief mir verzweifelt alles ins Gedächtnis, was ich über diese Bestien wusste. Was hatte ich Chase gleich wieder eingeschärft? Versuche nie, einen Drachen zu beeindrucken oder zu übertrumpfen, spiel dich nicht vor ihm auf. Drachen waren so arrogant, dass sie kurzen Prozess mit jedem machen würden, der es wagte, ihre Überlegenheit anzuzweifeln. Blablabla. Andererseits wussten manche Drachen Mut zu schätzen. Feiglinge waren nicht bekannt dafür, als Drachensnack verschont zu werden, zumindest nicht im Ganzen. Ich räusperte mich.

»Wir bitten um Verzeihung. Wir wussten nicht, dass wir in dein Territorium eingedrungen sind. Bitte, wenn du uns gehen lässt, verschwinden wir und kehren niemals hierher zurück.« Ein Kompromiss – das könnte unsere Rettung sein. Wir haben einen Fehler gemacht, wir haben richtig Mist gebaut, hab Erbarmen mit uns und lass uns ziehen. Bettel, bettel, kriech, kriech.

Der Drache schnaubte, und kleine Dampfwölkchen pafften aus seinen Nüstern. »Erwartest du ernsthaft, dass ich das glaube, kleine Hexe? Du bist eine von diesen verflixten Sidhe, nicht wahr?« Seine leuchtenden Augen drehten sich wirbelnd, und wieder starrte ich unwillkürlich hinein, doch als sein Geist den meinen berührte, zuckte ich zurück.

Er lachte erneut. »Also doch keine reinblütige Sidhe. Ein Halbblut. Mensch und Fee... köstliche Kombination. Nachtisch, das bist du. Aber sag mir, Hexling, was tust du hier? Du bist nicht erdgebunden, im Gegensatz zu deinem Begleiter.« Der geschwungene Hals schlängelte in Morios Richtung.

Ich stieß den Atem aus. Ich hatte ihn so fest angehalten, dass ich das Gefühl hatte, aus einem Korsett zu platzen. Morio schob gelassen die Hände in die Taschen und nickte dem Drachen zu. Er wollte es wohl über die kumpelhafte Schiene versuchen. Im Stillen wünschte ich ihm Glück.

»Ich grüße dich, Ewiger. Wir bedauern sehr, dich gestört zu haben. Wir waren auf der Suche nach jemandem und wurden in die Irre geführt.« Morios Stimme klang glatt und seidig. Er versuchte doch hoffentlich nicht, seine Illusionen zu benutzen, um den Wyrm einzuwickeln, oder? Drachen waren gegen derartigen Charme so gut wie immun. Ich zwang mich, den Mund zu halten. Morio wusste schon, was er tat. Zumindest hoffte ich das.

Der Drache hickste, als hätte er Schluckauf, und ein weiteres Rauchwölkchen stieg auf, das eindeutig nach gebratenem Fleisch roch. Ich wollte seiner letzten Mahlzeit ganz entschieden nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen. Ich betete nur darum, dass es nicht Tom Lane war, der nun in diesem Bauch lag, zusammen mit dem Geistsiegel. Ein Reh auszuweiden, war eklig genug; einen Drachen auszunehmen, glich einer chirurgischen Expedition ins Monsterland – und vorher müssten wir ihn töten.

Nach kurzer Pause sagte der Drache: »Fuchsmann, diese Versuche, mich zu verzaubern, lässt du besser sein, denn sonst fange ich bei deinem Kopf zu kauen an und benutze deine Knochen als Zahnstocher. Nun sag mir die Wahrheit – warum seid ihr in mein Territorium eingedrungen?«

Morio warf mir mit fragender Miene einen Blick zu. Uns blieben noch etwa drei Minuten, bis der gute Smoky den ersten Feuerstoß losließ. Falls der Drache mit den Dämonen im Bunde stand, waren wir tot. Falls der Drache aus eigenem Antrieb handelte – was sehr gut möglich war –, was dann? Ich wusste nur, dass Drachen furchtbar geschickt darin waren, Lügen aufzuspüren.

Schließlich zuckte ich mit den Schultern und erklärte: »Wir suchen einen Mann namens Tom Lane. Wir müssen mit ihm sprechen.«

Smokys Augen leuchteten auf. »Ihr wollt mit diesem lästigen Idioten sprechen?«

Oh-oh. Seinem Tonfall war eindeutig zu entnehmen, dass er kein Freund von Tom war, doch ich nahm an dem Drachen auch keine dämonische Aura wahr. Vielleicht hatten er und Tom irgendein Problem miteinander. Aber warum hatte Smoky das Problem dann nicht längst mit einem Feuerstoß gelöst? Ich hatte keine Ahnung und hielt es nicht für sonderlich diplomatisch, danach zu fragen.

»Wir müssen ihn finden«, sagte ich. Dann kam mir ein Geistesblitz. »Wenn du uns sagst, wo er ist, nehmen wir ihn mit uns fort, und er wird dich nie wieder belästigen.«

Der Drache machte es sich auf dem Hügel bequem. Sein Hals wippte auf und ab wie eine Kobra im Korb des Schlangenbeschwörers, dann schoss der Kopf plötzlich auf mein Gesicht zu. Diese glitzernden, eisigen Augen waren keine drei Meter von mir entfernt, und vor diesem Drachenkopf kam ich mir auf einmal sehr klein vor. Er musterte mich forschend. Ich gab mir Mühe, möglichst unschuldig dreinzuschauen.

»Hexling, wie lautet dein Name?«

Das wäre ein schwerer Fehler gewesen. Nenne einem Drachen niemals deinen richtigen Namen – keine gute Idee. Ich schüttelte den Kopf. »So dumm bin ich nicht. Du weißt, dass ich dir meinen Namen nicht nennen werde, also versuche es gar nicht erst.«

Ein tiefes Donnergrollen ließ die Luft erzittern, als er prustend lachte. »Ich mag dich. Du bist lustig und mutig, eine seltene Kombination. Deine Beute ist heute früh in die Höhle gerannt. Ich habe ihn gejagt, so weit ich konnte, aber er ist mir entkommen. Wenn du ihn mitnimmst, lasse ich dich leben, und du darfst in meinem Wald spazieren gehen. Wenn du versagst, esse ich dich zum Frühstück.«

Ich seufzte. Allmählich kam ich mir vor wie der Unglücksrabe am Ende einer Kette miserabler Deals. Bring mir einen Dämonenfinger, sonst nehme ich mir einen von deinen. Schalte die Dämonen aus, sonst werden sie die Welt zerstören. Schaff mir Tom Lane aus den Augen, oder ich fresse dich zum Frühstück.

»Uns bleibt wohl keine andere Wahl. Abgemacht.« Was hätte ich sonst sagen sollen? »Aber du musst uns Zugang zur Höhle gewähren, damit wir ihn finden können. Und du darfst nichts tun, was ihn verscheuchen könnte, solange wir versuchen, ihn zu fangen. Und keine faulen Tricks.«

Morio unterdrückte ein Schnauben, und ich wusste, was er dachte. Diesmal hatten wir uns wirklich was eingebrockt. Ich konnte immer noch nicht spüren, wo Delilah steckte.

Der Drache machte eine Geste, die an ein Schulterzucken erinnerte. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, auf meine Rauchkanäle und Barthaare, kleine Hexe.«

Ehrenwort, von wegen. Drachen waren sehr geschickt darin, Worte zu verdrehen, und ich traute Smokys jovialem Auftreten keineswegs. Aber dieser Handel war das Beste, was wir würden herausschlagen können, jedenfalls ohne den Schutz eines Magiers oder einer Hexe mit wesentlich größeren Kräften als den meinen.

Er nickte und deutete auf die Höhle in dem Hügelgrab. »Ich habe ihn dort hineingejagt. Nun macht euch an die Arbeit und sucht ihn. Ich fühle mich heute ein wenig reizbar.«

Während Morio und ich vorsichtig auf die Höhle zugingen, zwang ich mich, stur geradeaus zu starren. Ich wollte mich nach Delilah umsehen, aber dann hätte der Drache Verdacht geschöpft. Wir hatten den Eingang zu dem dunklen Tunnel fast erreicht, als ich zurückblickte.

»Verrat mir eines. Warum hast du Tom nicht selbst gefangen? Warum hast du ihn noch nicht gefressen?«

Smokys Augen sprühten glitzernde Funken. »Ich wollte mir keine Verdauungsstörung einhandeln«, lautete seine rätselhafte Antwort.

Als wir an ihm vorbeigingen, spürte ich seinen heißen Atem, der die Luft erwärmte. Eigentlich war das nach dem Regen sehr angenehm, und eigentlich wäre ich gern einen Moment lang stehengeblieben, um mich ein wenig trocknen zu lassen, aber ich besann mich rasch eines Besseren. Immerhin bedeutete ein Drache, der einem Spitznamen wie Hexling gab, im Zweifel nur Ärger. Der Geruch nach Kohle und Fleisch, der ihn umgab, war so durchdringend, dass ich schauderte und weitereilte.

Morio folgte dicht hinter mir, eine Hand auf meiner Schulter. Als wir den Eingang erreichten, zwang ich mich, ruhig weiterzugehen. Wir wollten den Drachen schließlich nicht zu einem Fehler verleiten, den wir selbst bereuen würden. Doch sobald wir drinnen waren, sank ich zitternd an die Höhlenwand.

»Das war mal eine Begegnung, die ich so nie erwartet hätte. Oder gern wiederholen würde. Also gut, wo zum Teufel steckt Tom? Suchen wir ihn, und dann machen wir, dass wir hier wegkommen.« Ich schüttelte den Kopf und sah mich um.

Die Wände der Höhle schillerten. Phosphoreszenz vielleicht? Oder Feenfeuer? Ich schloss die Augen und forschte mit meinen magischen Sinnen nach einem Anzeichen von Leben. Da – ein kurzes Aufblitzen, nur eine schwache geistige Berührung, den Tunnel entlang und dann links.

»Hier drin ist jemand, so viel ist sicher«, sagte ich; ich war nicht gerade begeistert von der Vorstellung, im Dunkeln herumzutappen. Höhlen mochte ich nicht besonders. Der offene Himmel war mir lieber, oder zumindest ein Haus, in dem ich sicher sein konnte, nicht in Minenschächte zu fallen, über Felsbrocken zu stolpern oder von herabstürzendem Geröll erschlagen zu werden.

Morio warf mir einen Blick zu. »Du leidest unter Klaustrophobie, nicht wahr?«

Ich zuckte mit den Schultern und starrte zu Boden. »Ein bisschen. Außerdem habe ich Höhenangst und stelle mich ziemlich an, wenn es um Babywindeln geht. Ich bin eine Katastrophe, was?« Ich seufzte tief und lehnte mich widerstrebend an die schimmernde Wand. »Genaugenommen leide ich nicht unter Klaustrophobie im engeren Sinne, aber meine Magie kommt vom Mond und von den Sternen. Ich bin nicht gern unter der Erde gefangen. Zu Hause in der Anderwelt habe ich auch nie die Zwergenstadt besucht, weil der Großteil davon unter dem Berg liegt. Mein Vater hat sie Delilah und Menolly gezeigt, aber ich konnte da einfach nicht reingehen.«

»Ist deine Mutter mitgegangen?«, fragte Morio.

»Nein, sie wollte auch nicht dorthin, also bin ich bei ihr geblieben, und wir sind eine Woche lang Shoppen gegangen, in Aladril, der Stadt der Seher am Meer.« Wir hatten sogar ein paar tolle Schnäppchen gemacht, obwohl Vater fast erstickt war, als die Rechnungen ins Haus geflattert kamen. Aber er hatte sie bezahlt, ohne ein Wort zu sagen. Er verweigerte Mutter nie etwas, das sie sich wünschte.

»Ich würde die Anderwelt gern eines Tages besuchen«, sagte Morio und blickte sich in der Höhle um. »Wenn du mir hilfst, einen Zweig oder Stock zu finden, kann ich uns Licht machen.«

»Mit Fuchsfeuer?« Ich blickte mich mit zusammengekniffenen Augen um. Da lag ein Ast, etwa dreißig Zentimeter lang. Ich reichte ihn Morio, und binnen Sekunden hatte er ihn so verzaubert, dass wir fast die gesamte Höhle sehen konnten. Die glitzernde Lichtkugel am Ende des Stocks war heller als Kerzenschein, spendete aber nicht so viel Licht wie eine Öllampe.

»Fuchsfeuer ist ein gebräuchlicher Ausdruck dafür, allerdings nicht ganz zutreffend«, erklärte Morio. »In Japan nennen wir es Kitsune-bi. Komm, ich gehe voran.«

Er schob sich an mir vorbei, und der Geruch seines Schweißes löste erneut Erregung in mir aus. Ich kämpfte gegen den Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Na toll – was würde ich tun, wenn Trillian zurückkam? Falls Trillian zurückkam, dachte ich ernst. Falls er es überlebte. Dieser Gedanke riss mich schneller aus meinen heißen Phantasien als ein Eimer Eiswasser.

»Ich glaube, die Anderwelt würde dir gefallen.« Ich trat hinter ihn, und wir gingen vorsichtig den Tunnel entlang. Die Höhle war feucht und kühl. Die Nässe kondensierte an den Wänden, und hier und da sah ich Schleimpilz in Flecken wuchern, aufgedunsene weiße Pilze und eine Menge eklige Krabbeltiere.

Die Viecher machten mir nichts aus – die war ich seit meiner Kindheit gewöhnt –, aber der Schleimpilz machte mich nervös. Zu Hause in der Anderwelt entwickelte er gern ein Eigenleben und sogar ein rudimentäres Bewusstsein, und er konnte ahnungslosen Reisenden gefährlich werden. Obwohl das hier sicher andere Schimmelsorten waren, konnte ich mich nicht beherrschen und wich vor den Stellen zurück, wenn wir daran vorbeimussten.

»Wie ist sie so?«, fragte Morio.

»Die Anderwelt? Offen und riesig. In Y’Elestrial, der Heimatstadt der Sidhe, herrschen Hof und Krone, doch es gibt noch viele andere Städte und Länder. Die meisten Städte sind sehr schön, aber in den Dörfern sieht es ganz anders aus. Viele sind bettelarm, und die Leute leben von der Hand in den Mund.«

»Gibt es denn keinen Regierungsrat für die gesamte Anderwelt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Jeder Stadtstaat ist ein Reich für sich. Allerdings sind die Bewohner von Y’Elestrial diejenigen, die den meisten Kontakt zu Menschen haben, und wir kontrollieren auch die Portale. In der Anderwelt gibt es außerdem viele Urwälder und dunkle Landstriche, die seltsame Arten von Feen beherbergen. Sie haben wenig mit den Sidhe zu tun. Oder mit sonst irgendjemandem.«

Wieder einmal wünschte ich, ich wäre zu Hause, nicht erdseits in einer Höhle auf der Suche nach einem geheimnisvollen Mann, der sich vor Dämonen versteckte. Im Augenblick erschien mir ein beruflicher Neuanfang sehr erstrebenswert, aber ich wusste, dass ich nicht kündigen würde. Mein Vater gab niemals auf, und er hatte seinen Töchtern dasselbe Pflichtbewusstsein anerzogen.

Morio schwieg, und ich fragte mich, ob er meine Gedanken lesen konnte.

»Da, etwa zehn Schritte vor uns, kommt eine T-Kreuzung. Gehen wir nach links oder nach rechts?« Er wies auf das Ende des Tunnels vor uns.

»Bleib mal kurz stehen, dann finde ich es heraus.« Zögernd lehnte ich mich an die Wand, wobei ich darauf achtete, einen Fleck weißer Pilze zu meiden. Ich schloss die Augen, streckte meine geistigen Fühler aus und versuchte, den Lebensfunken zu berühren, den ich vorhin erspürt hatte. Da, hinter der Wand? Nein, das war nur ein Huschen – ein paar Ratten auf der Suche nach ihrem Mittagessen. Rechts spürte ich die Bewegung eines Gespensts, irgendeines Geistes, der durch den Tunnel strich. Vermutlich die Überreste einer Mahlzeit von Smoky, dachte ich.

Ich tastete weiter herum und begann, ein langsames, aber stetiges magisches Pulsieren zu fühlen. Starke Magie, links von uns. Uralte Magie, so machtvoll, dass sie mich beinahe umwarf. Erdmagie, tief und vibrierend, als dringe sie aus dem Herzen der Welt. Aber darüber trieb eine Kopfnote, in der glitzerndes Sternenlicht mitschwang, und der Wind, der durch die Bäume strich. Und verbunden mit dieser Kraft, auf eine Art, die ich nicht verstehen konnte, schlug das Herz eines Mannes. Auch er fühlte sich alt an – viel älter als ich. Tom Lane. Das musste er sein.

»Hier entlang«, sagte ich fasziniert. Während wir den Stollen entlangeilten, erzählte ich Morio, was ich gespürt hatte.

»Wenn es Tom war, den du aufgespürt hast, dann möchte ich wetten, dass diese andere Energie zu dem Geistsiegel gehört. Stand in dem Buch nicht, dass die Geistsiegel den Elementarfürsten gegeben wurden? Dass jeder Elementarherr einen Teil davon erhielt und sie im Lauf der Jahrtausende alle Stücke verloren haben? Tiefe Erdenergie könnte darauf hindeuten, dass dies das Siegel ist, das Robyn, dem Eichenprinzen, gegeben wurde.«

Aber natürlich! Robyn, der über die Wälder der Erde herrschte, zwischen den Welten wandelte und über Waldländer tanzte. »Da könntest du recht haben.«

Der Eichenprinz hatte im Lauf der Jahre mehr Zeit mit Menschen verbracht als die meisten anderen Elementare. Er liebte die Sterblichen, sie lagen ihm am Herzen, und die Zerstörung der Urwälder und Forste verletzte ihn zutiefst. Ich war ihm einmal begegnet, vor langer Zeit, als er nach Y’Elestrial gekommen war, um der Königin seine Huldigung darzubringen.

Morio ging, geleitet von seinem Fuchsfeuer, um die Ecke, doch er hob die Hand, als ich ihm folgen wollte. »Warte einen Augenblick. Ich spüre eine Illusion ganz in der Nähe. Lass mich das erst austesten.«

Ich wartete, während er vorsichtig voranrückte, einen winzigen Schritt nach dem anderen, und jedes Mal den Boden überprüfte, ehe er einen Fuß belastete. Plötzlich schwankte er und verlor beinahe das Gleichgewicht. Ich sprang vor, packte ihn am Ellbogen und hielt ihn fest.

»Was ist passiert?« Ich konnte nichts sehen, das ihn hätte ins Wanken bringen können.

»Direkt vor uns ist eine Grube, mitten im Gang. Sie ist mit einer Illusion überdeckt, so dass wir sie nicht sehen können, aber sie ist da, und vermutlich tief genug, um sich den Hals zu brechen, wenn man hineinfällt. Lass mir einen Augenblick Zeit, ich tue, was ich kann, um das Trugbild zu zerstören.« Er reichte mir das Licht und nuschelte einen leisen Sprechgesang vor sich hin, der sich laufend wiederholte. Nach ein paar Sekunden begann der Boden zu schimmern, und ich konnte die vagen Umrisse eines Lochs erkennen. Dann zerbrach die Illusion, und die Fallgrube wurde deutlich sichtbar.

»Verdammt, das sieht hässlich aus«, flüsterte ich.

Morio nahm mir den Stock ab und hielt ihn vorsichtig über das gähnende Loch. Er spähte über den Rand. »Ist auch hässlich. Sei vorsichtig.«

Ich rückte langsam zu ihm auf. Als ich nah genug war, um über den Rand zu schauen, tat sich vor mir ein langer, dunkler Schacht auf, der unten in einer Grube endete, gut dreißig Meter tief, wenn nicht mehr. Von unten drang das Gurgeln fließenden Wassers zu uns herauf – offenbar irgendein unterirdischer Strom. Ein Sturz da hinab wäre tödlich.

»Na, hurra. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass wir hier nicht willkommen sind, aber ich kann Tom dort unten nicht spüren. Ich glaube nicht, dass er da reingefallen ist.« Das Loch nahm gut zwei Drittel des Gangs ein; man musste sich am glitschigen Rand darum herumschieben. Beim bloßen Gedanken daran, an dieser Grube entlangzubalancieren, begann es in meinem Magen zu kribbeln.

Morio untersuchte die Ränder um die Grube herum. »Ich frage mich, ob er sie nicht selbst geschaffen hat. Wusste er vielleicht, dass die Dämonen hinter ihm her sind, und versucht sich hier zu verstecken? Der Drache war offenbar nicht besorgt, weil er sich hier versteckt, und der Wyrm würde niemals in diesen Tunnel passen. Aber ein Dämon... «

»Ein Dämon schon. Aber Tom ist ein Mensch. Wie hätte er eine solche Illusion erschaffen können? Die meisten Menschen, die mit Magie arbeiten, besitzen nur rudimentäre Fähigkeiten. Es gibt ein paar, die besser sind, aber das sind sehr wenige.« Ich starrte in die Fallgrube und versuchte die Situation zu verstehen. »Könnte die Illusion schon vorher dagewesen sein? Vielleicht wusste Tom irgendwie davon?«

Morio schüttelte den Kopf. »Illusionen verfliegen schnell. Die Grube hier ist vermutlich ein uralter Schacht, aber die Illusion kann höchstens seit ein paar Stunden da sein. Komm, wir müssen weiter. Wenn Tom glaubt, es wären Dämonen in der Nähe, dann hat er vermutlich recht, und das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein unterirdisches Duell auf Leben und Tod

»Es gefällt mir nicht, wie das klingt«, brummte ich.

»Wie was klingt?«

»Auf Leben und Tod. Das hat so etwas Endgültiges, und weder Delilah noch Menolly sind bei mir. Apropos, ich wüsste gern, ob es Delilah gutgeht. Ich hoffe nur, sie hat es geschafft, Smoky da oben aus dem Weg zu gehen.«

»Vermutlich ist sie zu dem Haus zurückgekehrt, um nach Chase zu sehen, sobald ihr klar war, was wir vorhatten. Sie ist ein schlaues Mädchen. Schreib sie nicht als zu naiv ab.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schlau, ja. Klug? Nicht besonders. Also schön, wie kommen wir um dieses Loch herum?«

Morio lachte und tänzelte leichtfüßig an der Kante entlang, ohne auch nur einmal zu wackeln. Als er die andere Seite erreicht hatte, legte er das Licht auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und streckte mir die linke Hand hin.

»Dreh dich zur Wand und nimm meine Hand. Dann rutschst du langsam herüber. Ich bin stark, ich kann dich halten, falls du abstürzt.«

»Klar, und ich passe in Kleidergröße zweiunddreißig.« Doch mir blieb nichts anderes übrig, also drückte ich die Wange an die Stollenwand und rutschte mit winzigen Schritten seitwärts am Rand der Grube entlang. Morio packte meine Finger und gab mir so viel Sicherheit, dass ich den restlichen Weg ohne Zwischenfall hinter mich brachte. Ich freute mich jedoch nicht auf den Rückweg.

Sobald wir wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, hob Morio das Licht auf, und wir gingen langsam weiter. Morio prüfte jedes Stückchen Boden, ehe er sein Gewicht darauf verlagerte. Wo eine Falle war, könnten noch mehr sein.

Wir waren kaum dreißig Meter weit gekommen, als der Gang sich wieder gabelte. Diesmal führte unser Stollen weiter geradeaus, und einer zweigte nach rechts ab; dieser würde uns tiefer in den Hügel führen, der inzwischen eher ein Berg war. Wieder suchte ich voran. Diesmal war die Energie stärker und kam eindeutig von rechts.

»Wir biegen ab«, sagte ich zu Morio.

Wir hatten den abzweigenden Gang kaum betreten, als Morio stehenblieb. »Schau – genau vor uns. Siehst du das Licht? Das ist keine Illusion.« Und tatsächlich, ein schwacher Lichtschein drang durch einen Riss im soliden Fels. Wir eilten den Gang entlang, der plötzlich zu Ende war. Eine Sackgasse.

»Es muss eine verborgene Tür geben«, sagte er und strich mit den Händen an dem Spalt entlang. »Aber ich spüre keine Illusion. Jedenfalls keine, die ich erkennen könnte.«

Ich trat zurück und überlegte. Wenn es am Ende des Gangs keine Tür gab, waren wir dann vielleicht schon an einer vorbeigelaufen? Ich sah mich um und lauschte angestrengt. Zunächst hörte ich nichts als das leise Murmeln des Luftzugs in den Höhlen, doch dann erlauschte ich Atemzüge – langsam und rhythmisch.

Ich legte die Hände flach an den Fels, und tatsächlich, ein zarter Luftstrom strich über meine Hand. Der rauhe Granit fühlte sich kalt an, und ich suchte mit zusammengekniffenen Augen nach den Umrissen der Tür. Und da war sie – schwach, aber gerade noch sichtbar im trüben Lichtschein. Die Tür war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Die Frage lautete nun: Wie war sie zu öffnen?

Ich winkte Morio herbei. Während ich den Umriss abtastete, hielt er das Fuchsfeuer hoch, und wir untersuchten die Felswand auf Vertiefungen oder Riegel.

Dicht am Boden fanden wir ein Griffloch. Ich schluckte schwer und schob die Finger in die dunkle Öffnung. Sie trafen auf einen kalten Hebel und – verdammt! Ich riss die Hand zurück und hielt die Finger ins Licht. Rötliche Blasen bildeten sich an meinen Fingerspitzen. Eisenquaddeln. Die Verbrennung durch das Metall tat verflucht weh, aber ich schaffte es, nicht aufzuschreien. Morio bedeutete mir, zurückzutreten.

Er griff in das Loch. Ich hörte ein schwaches Klicken, und die Tür schwang zu uns heraus; der ganze Steinblock drehte sich an verborgenen Angeln. Wir sprangen zurück, und sobald die Öffnung groß genug war, schoben wir uns durch den Türspalt.

Ich schnappte nach Luft. Die Kammer, die wir betreten hatten, war riesig. Stalagmiten und Stalaktiten bildeten Wäldchen aus Säulen, doch der Großteil der Höhle war offen und schimmerte hell. Wasserfälle aus Kalkstein ergossen sich in erstarrter Pracht die Wände herab, und auf einer Seite befand sich ein von natürlichen Mauern umgebener Teich. Kalzitperlen schufen eine Art schimmernden, versteinerten Whirlpool am Rand des Mineralwasserbeckens. Ein schwaches Leuchten ging von den Wänden aus.

»Wir sind nicht mehr in Kansas, Toto«, murmelte ich und blickte zu der Tür zurück. Und tatsächlich, eine glitzernde Barriere bestätigte mir, dass wir ein anderes Reich betreten hatten. Dieser Teil der Höhle fand sich gewiss nicht auf irgendwelchen Landvermessungskarten. Wir waren durch ein natürliches Portal gegangen und... wo gelandet? Konnten wir in der Anderwelt sein? Oder war dies ein völlig anderer Ort?

»Wo sind wir?«, flüsterte ich. Selbst meine leise Stimme hallte wie flatternde Flügel durch die Kammer. Ich trat näher an Morio heran, der die alabasterne Schönheit der Wände bewunderte.

Sein Arm schlang sich schützend um meine Schultern, und ich spürte seine Lippen, die sich zärtlich an meinen Kopf drückten. »Ich weiß es nicht, Camille. Diese Art von Energie habe ich noch nie gespürt, und sie macht mich nervös. Bist du sicher, dass Tom hier ist?«

Ich nickte. »Ich fühle ihn. Aber wie hat er diesen Ort gefunden? Das Portal ist beim AND nicht registriert, das kann ich dir versichern.« Ich schmiegte mich an ihn und zitterte. Die Luft war nicht mehr feucht, aber das typische Kribbeln von Magie lief an meinen Armen auf und ab. Was auch immer diesen Ort erschaffen hatte – oder wer auch immer –, war wirklich sehr mächtig.

Und dann, ehe Morio etwas erwidern konnte, hörten wir ein Geräusch. Ich trat von ihm zurück und bereitete mich auf einen Angriff vor. Doch es war kein Dämon, der uns gegenübertrat. Eine Frau mit kurvenreicher Figur, über einen Meter achtzig groß und ehrfurchtgebietend schön, trat hinter einer der Kalksteinsäulen mitten in der Höhle hervor. Ihr über die Schulter drapiertes Kleid floss wie Spinnweben an ihr herab, und sie blieb in königlich-würdevoller Haltung vor uns stehen.

»Wer sind Sie?« Die Worte kullerten aus meinem Mund, ehe ich sie zurückhalten konnte. »Und wo ist Tom Lane?«

Sie blinzelte einmal, dann breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht. »Du meinst meinen kleinen Liebling? Meinen armen, süßen Jungen?«

Ich warf Morio einen Blick zu, doch der schüttelte den Kopf, offensichtlich ebenso verwirrt wie ich. »Das verstehe ich nicht. Ihr Liebling? Wer sind Sie?«

Als sie lächelte, bemerkte ich silberne Sprenkel in ihren Augen. War sie eine Fee? Doch dann blitzte eine Erinnerung in mir auf, und ich wusste, wer sie war. Die Legenden entsprachen der Wahrheit. Sie hatte sich also tatsächlich geweigert überzusiedeln, als die Anderwelt alle Verbindungen zur Erdwelt getrennt hatte.

»Ihr seid Titania, nicht wahr?«

Als sie sacht den Kopf neigte, drehte es mir den Magen um. Die einstige Feenkönigin Titania war gefährlich und unberechenbar. Sie war viel weniger menschlich als die Sidhe in meiner Welt, obwohl sie auf der Erde geblieben war.

Titania wandte den Blick nicht von meinem Gesicht. »Und nun sag mir bitte«, sprach sie, »was wollt ihr von meinem armen, gequälten, verrückten Märzhasen Tam Lin?«