Kapitel 7

 

Delilah und ich berieten uns kurz und entschieden, dass ich Chase einweihen würde, während sie Louise einen Besuch abstattete. Als sie zum Indigo Crescent hinüberging, um sich Iris’ Auto zu leihen, machten Chase und ich uns auf den Weg zu Starbucks. Das war etwas, das ich an einer Rückkehr in die Anderwelt wirklich schlimm fände – der Gedanke, dass ich dann meinen Kaffee von der anderen Seite der Portale würde bestellen müssen. Zu Hause gab es diese Pflanzen nicht. Noch nicht. Mir kam eine brillante Idee. Vielleicht sollte ich eine Starbucks-Filiale in Y’Elestrial eröffnen und der Feenwelt den Mocha Frappuccino und den Caramel Latte bringen. Noch besser: Ich könnte meine eigene Kaffeeplantage gründen. In unserem heimischen Klima müssten Kaffeestauden prächtig gedeihen. Das Potenzial war schwindelerregend.

Ich starrte auf die ausgehängte Kaffeekarte und entschied mich für einen großen Venti Caramel Mocha mit extra Schlagsahne, während Chase schwarzen Kaffee bestellte. Als wir uns an unserem Ecktisch niederließen, warf er mir einen verlegenen Blick zu.

»Hör mal – danke, dass du mich heute daran gehindert hast, mich zum Affen zu machen. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als dieses Ding anfing... die... die Leiche zu küssen.« Er fummelte an seinem Zuckerpäckchen herum, bevor er es aufriss und in seinen Kaffee schüttete.

»Dieses Ding ist eine Fee, die in der Anderwelt hochangesehen ist«, erwiderte ich. »Dein Gesichtsausdruck war so unmissverständlich, dass er sogar Delilah aufgefallen ist. Oder was glaubst du, warum sie mit dir Händchen halten wollte?« Ich trank einen großzügigen Schluck von meinem Mocha und erschauerte, als die heiße Schokolade durch meine Kehle rann.

Seufzend konzentrierte ich mich wieder auf Chase. »Hör zu, Kumpel. Du betrachtest die Anderwelt immer noch durch die rosa Brille. Ja, schön, wir haben Elfen und Einhörner und Könige und Königinnen, aber wir haben eben auch Vampire und Gestaltwandler und Wesen, die sich vom Fleisch jener ernähren, die sie töten. Wir sind nicht einfach schwarz oder weiß, Chase, sondern die meisten von uns, die dort geboren wurden, schillern in diversen Grautönen. Mach endlich Schluss mit der Erwartung, wir sollten zu dem Bild passen, das du dir vom ›Märchenland‹ gemacht hast, und du wirst nachts viel besser schlafen.«

»Vielleicht auch nicht«, nuschelte er. »Jetzt mal im Ernst, ihr Schwestern seid halb menschlich, aber ihr denkt nicht wie Menschen, oder? Als wir uns kennengelernt haben, dachte ich, euch würde ich besser verstehen als ein paar der anderen AND-Agenten. Aber jetzt frage ich mich, ob die Mischung von Menschenund Feenblut euch nicht noch seltsamer macht, als wenn ihr reinblütige Sidhe wärt.«

Ich lehnte mich zurück und starrte in den ewigen Nieselregen, der über den Straßen niederging. »Warum? Weil wir uns ständig weigern, mit dir ins Bett zu gehen?«

Er fegte meine Bemerkung mit einer Handbewegung zur Seite. »Du glaubst wohl, darum würde sich alles drehen. Falls ich diesen Eindruck erweckt haben sollte, tut es mir leid. Ja, ich will mit dir vögeln; du bist scharf, und ich bin nicht immun gegen diesen Feencharme, den ihr irgendwie habt. Wenigstens gebe ich das offen zu. Aber das habe ich damit nicht gemeint.«

Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich gebe dir ein Beispiel. Du hast nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als diese Leichenzunge ihr Ding abgezogen hat. Dir kommt das alles normal vor. Ich hingegen fürchte allmählich, ich könnte der ganzen Sache nicht gewachsen sein.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Ich habe schon darüber nachgedacht, mich versetzen zu lassen. Ich weiß nicht, wie viel ich noch verkraften kann. Es kommt ein Schock nach dem anderen.«

Ich konnte selbst kaum glauben, was ich nun sagen musste, doch ich beugte mich über den Tisch. »Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren, Chase. Du hast das AnderweltErdwelt-Tatortteam auf die Beine gestellt. Du bist das ErdweltFundament des AND. Wir brauchen dich, vor allem jetzt. Möchtest du wirklich, dass dein Chef den Laden übernimmt und alles ruiniert, was du aufgebaut hast?«

Mehr brauchte es nicht. Ich hatte gewusst, dass das ziehen würde. Devins war ein Vollidiot, und Chase bemühte sich, nicht allzu sehr über ihn zu jammern, aber ich war dem Mann einmal begegnet und hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst, dass er an die nächste Wand geklatscht wäre.

»Danke«, sagte er barsch. »Keine Sorge, ich bleibe euch noch ein Weilchen erhalten. Also, was habt ihr herausgefunden?«

Ich erzählte ihm von Schattenschwinge und den Geistsiegeln. Als ich fertig war, lehnte er sich zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er sah aus, als sei er in den vergangenen fünf Minuten um zehn Jahre gealtert.

»Der AND hat uns also Informationen vorenthalten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. So schlau sind sie auch wieder nicht. Der AND ist schwerfällig – Bürokratie vom Allerfeinsten, und die Garde Des’Estar ist nicht viel besser. Hof und Krone haben das Militär im Lauf der Jahre immer mehr sich selbst überlassen. Der Thron ist faul und selbstherrlich geworden, und unsere militärischen Anführer sind noch verkommener.«

»Die meisten Agenten, die ich kennengelernt habe, schienen für ihren Posten aber durchaus qualifiziert zu sein«, bemerkte Chase.

Ich schüttelte den Kopf. »Chase, es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Agenten und einem Krieger. Die meisten Agenten, die ich kenne, nehmen ihren Job wirklich ernst, aber sie – wir – sind keine Soldaten. Und das Hauptquartier legt uns ständig Steine in den Weg. Mein Vater ist bei der Garde. Er sieht, wie apathisch das Militär geworden ist. Er war sehr stolz auf uns, weil wir quasi in seine Fußstapfen getreten sind, aber selbst er gibt zu, dass die Anderwelt nicht darauf vorbereitet ist, es mit Schattenschwinges Armeen aufzunehmen. Das gilt auch für die Erdwelt, glaub mir. Die Dämonen könnten eure Panzer und Waffen einfach auffressen, ohne auch nur rülpsen zu müssen. Und es gibt ganze Horden von ihnen, Chase. Horden.«

Chase musterte mich schweigend und nippte an seinem Kaffee. Schließlich fragte er: »Was können wir tun? Wenn es stimmt, was du sagst, sind unser beider Welten in Gefahr.«

Ich runzelte die Stirn und dachte daran, was Trillian gesagt hatte. »Es kommt noch schlimmer. Wenn unser Informant die Wahrheit sagt, wäre es möglich, dass der AND uns bald kaum noch unterstützen kann. Irgendetwas geht zu Hause vor sich, und ich wüsste gern, was.« Mein Magen knurrte. Das Frühstück schien schon sehr lange zurückzuliegen. »Ich bin gleich wieder da.«

Ich nahm meinen Geldbeutel mit, erkundete die Kühltheke und überlegte, was ich essen wollte. Ein Thunfischsandwich und ein großes Stück Karamellkonfekt sahen ziemlich gut aus. Während ich mein Essen bezahlte, standen zwei Frauen Mitte fünfzig neben mir, die mich mit offenen Mündern überrascht anstarrten. Ich warf ihnen ein geistesabwesendes Lächeln zu und kehrte an unseren Tisch zurück. Als ich mich setzte, schüttelte Chase den Kopf. »Was ist?«, fragte ich. »Kannst du Thunfisch nicht riechen, oder was?«

»Du und Delilah, ihr esst, als ob ihr ständig am Verhungern wärt. Bekommt ihr denn in der Anderwelt nichts zu essen?« Er zwinkerte mir zu, und ich begriff, dass er mich nur aufziehen wollte.

»Unser Stoffwechsel läuft auf höheren Touren als eurer, also brauchen wir mehr Essen«, sagte ich und biss einen Mundvoll Sandwich ab. Selig verdrehte ich die Augen – Thunfisch schmeckte so gut wie Naorifisch zu Hause in der Anderwelt, obwohl er bedenkliche Mengen Quecksilber enthielt. Aber unsere Heiler konnten unsere Körper von Metallen reinigen, deshalb machte ich mir keine allzu großen Sorgen.

»Eine Menge Frauen hier würden nur zu gern mit euch tauschen«, bemerkte er.

»Wenn sie sich ein bisschen mehr bewegen und nicht so besessen Kalorien zählen würden, hätten sie gar kein Problem. Warum ihr VBM glaubt, alle müssten gleich aussehen, ist mir ein Rätsel. Feen gibt es in allen möglichen Formen, Größen und Farben, und für uns ist Schönheit nicht nur visuell. Es ist nicht zu fassen, wie unglücklich die meisten Frauen bei euch sind. Wirklich traurig.« Ich biss erneut von dem Sandwich ab und kippte einen großen Schluck Mocha hinterher.

Chase zuckte mit den Schultern. »Wir haben eine Menge Probleme, das ist sicher, aber ich bezweifle, dass das nur auf der Erde so ist. Also, zurück zum Thema. Erzähl mir mehr über diese Dämonen. Wo gehören sie in der Anderwelt hin, welche Rolle spielen sie, und wie sind sie so?«

Ich blinzelte. Ich hatte nicht erwartet, eine Vorlesung in Dämonologie für Anfänger abhalten zu müssen, aber im Grunde war das nicht verkehrt. Chase stand auf unserer Seite, und er verdiente zu wissen, womit er es zu tun bekam. Wenn er allerdings erfuhr, was genau ihm da bevorstand, würde er sich womöglich doch in die Büsche schlagen. Ich räusperte mich und begann meinen Vortrag.

»Okay, zunächst einmal gibt es drei Kategorien von Dämonen, und innerhalb dieser drei Kategorien wiederum viele verschiedene Unterarten. Es gibt die Höheren Dämonen, wie zum Beispiel Schattenschwinge. Das sind die Bösesten der Bösen, und einen von ihnen zu töten, dürfte für uns so gut wie unmöglich sein – nicht ohne jede Menge Unterstützung von Magiern und Zauberinnen. Dann gibt es die Niederen Dämonen, zu denen gehören unsere Freunde, die wir jetzt verfolgen: Wesen wie die Harpyie und Bad Ass Luke. Sie alle bewohnen die Unterirdischen Reiche, dort werden sie geboren. Die dritte Gruppe sind die Minderen Dämonen; ein paar von denen sind gar nicht mal so dämonisch. Dazu gehören Wichtel, Vampire und so weiter. Sie leben auch in den U-Reichen – aber nicht alle.«

»Dann gilt deine Schwester als Dämonin, weil sie ein Vampir ist?«, fragte Chase und blickte nervös über die Schulter.

Ich lachte. »Keine Sorge, sie kann dich nicht hören, und ich werde ihr nicht verraten, dass du mich das gefragt hast. Aber, ja, strenggenommen wird Menolly jetzt als Dämon klassifiziert. Aber wie ich dir schon einmal gesagt habe, können Definitionen sehr verzwickt sein. Nicht alle Minderen Dämonen sind böse. Manche treiben gern Schabernack, und schließlich sind auch nicht alle Feen oder Menschen gut.« Das Letzte, was ich wollte, war, Chase noch mehr Angst vor meiner Schwester einzujagen.

Doch er überraschte mich. »Na ja, Menolly macht mir eine Scheißangst, aber ich würde sie nicht als böse bezeichnen.«

Ich lächelte ihn erleichtert an. »Danke. Du brauchst dir ihretwegen wirklich keine Sorgen zu machen, schon gar nicht im Vergleich zu den Höheren und Niederen Dämonen. Das Problem ist: Die meisten Dämonen sind viel stärker als Menschen und verfügen über ein gewaltiges Potenzial an zerstörerischer Magie. Sie sind viel gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Denk so in Richtung Feuerbälle, Blitze und giftige Gase, die aus ihren Mäulern schießen.«

»Ich verstehe«, sagte Chase und streckte die Hand nach dem halben Sandwich aus, das ich auf meinem Teller liegengelassen hatte. »Isst du das noch?«

Mit leisem Schnauben schob ich ihm den Teller hin. »Bedien dich.«

Er lachte. »O Mann, das Leben war so viel einfacher, bevor ihr auf einmal hier aufgetaucht seid. Ich hole mir noch einen Kaffee. Kann ich dir etwas mitbringen?«, fragte er und zückte seine Brieftasche.

»Ja«, sagte ich. »Noch einen Mocha. Mit extra viel Karamellsirup. Und mit Eis. Und ein Croissant.«

»Bist du sicher? Von so viel Koffein schnappst du am Ende noch über.«

»Spar dir die Kommentare und hol mir meinen Kaffee.« Ich scheuchte ihn davon, er zuckte mit den Schultern und ging zur Theke. Sobald er weg war, kamen die beiden Frauen, die mich vorhin angestarrt hatten, an unseren Tisch.

»Wir wollen nicht stören«, sagte die größere mit leuchtenden blauen Augen. Sie verströmte Aufregung wie eine Parfümwolke. »Meine Freundin Linda und ich haben uns nur gefragt... Sind Sie aus der Anderwelt?« Sie hielt eine Kamera hoch und deutete auf einen Button an ihrer Bluse. Das kreisrunde Abzeichen war marineblau, und kleine, bunte Sternchen umgaben die in Silber geprägten Buchstaben VDF.

Na toll, noch mehr Feenfreunde – obwohl die beiden nicht von hier zu sein schienen. Ich hatte sie jedenfalls noch nie in Erin Mathews’ Gruppe gesehen. Ich betrachtete die beiden Frauen. Sie blickten so hoffnungsvoll drein, dass ich sie nicht enttäuschen konnte. »Ja, ich bin aus der Anderwelt. Mir gehört der Indigo Crescent hier in der Stadt.«

»Habe ich es dir nicht gesagt, Elizabeth? Ich wusste es – ihre Augen! Man kann die Sterne in ihren Augen sehen.« Linda, die kleinere der beiden, strahlte.

»Ich dachte, das wären vielleicht nur gefärbte Kontaktlinsen«, entgegnete Elizabeth, eher an Linda gewandt als an mich. »Sie sieht nicht so aus wie die, der wir in San Francisco begegnet sind. Aber ich nehme an, sie sehen wohl nicht alle gleich aus.«

Ich hatte es allmählich satt, ausdiskutiert zu werden, als sei ich nicht da, deshalb meldete ich mich zu Wort. »In der Anderwelt leben viele verschiedene Rassen und Arten, meine Damen. Wir werden nicht am Fließband hergestellt.«

Lindas Wangen färbten sich scharlachrot. »Entschuldigung, wir wollten nicht unhöflich sein. Wir kommen aus einem kleinen Ort in Iowa und sind hier zu Besuch bei einer Freundin. Wir hatten gehört, dass in Seattle einige Feen leben, und fanden die Vorstellung, tatsächlich einer richtigen, lebendigen Fee zu begegnen, so aufregend. Bei uns zu Hause gibt es nicht viele Ausländer. Ein paar Schwarze, aber keine Außerirdischen, deshalb kennen wir uns mit Ihren Gebräuchen nicht so aus.«

Sie plapperte noch ein paar Minuten lang weiter, bis ich sie mit erhobener Hand zum Schweigen brachte. Die größere – Elizabeth – wirkte ein wenig beleidigt, sagte aber nichts. Offenbar hatte sie immerhin die verbreiteten Warnungen darüber gelesen, wie unberechenbar die Feen seien, denn sie biss sich energisch auf die Zunge.

»Na dann, herzlich willkommen in Seattle. Hätten Sie gern ein Foto?«, fragte ich und deutete auf ihre Kameras, während ich mich entspannte und lächelte. Mit Honig fängt man Fliegen... allerdings hatte ich den Sinn dieser Redewendung nie so ganz verstanden. Mutter hatte sie ständig gebraucht, und schon als Kind hatte ich mich gefragt, warum irgendjemand überhaupt Fliegen fangen wollte, außer man war ein Goblin und gab sie statt Croutons an den Salat.

Linda und Elizabeth nickten, und ihr Lächeln kehrte zurück. In diesem Moment erschien Chase wieder am Tisch. Er bemerkte die Buttons und Kameras und warf mir einen mitfühlenden Blick zu. Er hatte die Feenfreunde schon ein paarmal in Aktion erlebt.

»Chase, wärst du so freundlich, ein Foto von mir und diesen reizenden Damen zu machen?«

Eines musste ich ihm lassen: Er bemerkte meinen Sarkasmus sehr wohl, nickte aber nur und nahm die Kamera entgegen. Ich stellte mich zwischen Elizabeth und Linda, Chase schoss mehrere Fotos und gab ihnen dann den Apparat zurück.

»Meine Damen«, sagte er und ließ seine Dienstmarke aufblitzen, »ich bedaure, aber Miss D’Artigo und ich haben Wichtiges zu besprechen. Wenn Sie uns entschuldigen würden... ?«

Widerstrebend zogen sie ab, wobei sie noch mehrmals »Danke schön« und »Es war uns eine Freude« über die Schultern zurückriefen. Als sie das Café verließen, war ich Chase geradezu dankbar.

»Manchmal bist du gar nicht so verkehrt«, sagte ich, und er schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Seine Zähne schimmerten im trüben Licht des verregneten Nachmittags.

»Das muss die Hölle sein«, sagte er und wies mit einem Nicken auf die aufgeregten Frauen. »So ist das überall, wo du hingehst, oder?«

»Bei mir ist es nicht so schlimm wie bei manchen anderen. Immerhin bin ich halb menschlich. Aber ja, dieses Jahr scheinen wir Sidhe besonders angesagt zu sein, und ich nehme an, das wird noch eine Weile so bleiben.«

Ich beugte mich vor und vergewisserte mich, dass uns niemand belauschte. »Also, zurück zum Thema. Unser Plan sieht so aus: Wir beschaffen Beweise, die der AND nicht mehr ignorieren kann. Beweise dafür, dass die Dämonen und Schattenschwinge dahinterstecken. Wir finden diesen Tom Lane und bringen ihn nach Hause in die Anderwelt. Wenn sie erst einmal das Ausmaß dieser Ereignisse erkennen, werden sie etwas unternehmen müssen

Während ich mein Croissant auseinanderzupfte, musste ich mich fragen, ob wir, zur Hölle, überhaupt eine Chance hatten, das durchzuziehen. Hölle war dabei wohl der springende Punkt.

 

Unser nächster Schritt war die Suche nach der Harpyie, doch Chase musste erst auf dem Revier vorbeischauen. Ich beschloss, inzwischen rasch zum Laden zu gehen.

»Wir treffen uns im Indigo Crescent«, sagte ich. »Ich lasse mir schon mal was einfallen, wie wir diese Harpyie finden können.« Ich sprach mit viel mehr Zuversicht, als ich empfand, aber irgendjemand musste hier die Initiative ergreifen, und es war unwahrscheinlich, dass Chase wissen könnte, wie man eine riesige Vogelfrau zur Strecke brachte, die sich irgendwo in der Stadt herumtrieb. Allerdings dürfte es hier nicht einfach für die Harpyie sein, sich zu verbergen. Wie viele riesenhafte Vogelfrauen konnte es in Seattle schon geben? Früher oder später musste irgendjemand sie sehen und hoffentlich die Polizei oder die Tierfänger rufen.

Ich fand erst drei Querstraßen vom Indigo Crescent entfernt einen Parkplatz, aber das war mir ganz recht. Auf dem Weg zum Laden musste ich nämlich am Scarlet Harlot vorbei, Erin Mathews’ Dessous-Boutique. Ich hatte ohnehin bei ihr vorbeischauen wollen, um mir ihre neue Kollektion anzusehen, und da Chase erklärt hatte, er werde in etwa einer Stunde in der Buchhandlung sein, hatte ich Zeit, um mich ein bisschen umzusehen.

Erin stand am Ladentisch und sah wesentlich professioneller aus als bei den Treffen des Vereins der Feenfreunde. Ihre Augen leuchteten auf, als sie mich durch die Tür kommen sah, und sie winkte mir fröhlich zu. Ich hatte ihr erlaubt, ein Foto von mir an die Wand zu hängen, und darunter stand: »Camille D’Artigo – Buchhandlung Indigo Crescent – ist unsere Stammkundin«, und das allein brachte ihr schon mehr Umsatz. O ja, Feen waren wirklich gut fürs Geschäft.

Sie kam eilig hinter dem Ladentisch hervor. »Camille! Wie schön, dich zu sehen. Was macht das Geschäft?«

Ich konnte ihr wohl kaum erzählen, dass ich eigentlich gerade auf Dämonenjagd war, also nickte ich nur und murmelte etwas Unverbindliches vor mich hin, während ich schon an den Kleiderständern herumstöberte. »Ich wollte nur mal vorbeischauen und mir ansehen, was du so in Pflaumenblau oder Magenta da hast. Satin oder Seide wäre gut.« Das waren Trillians Lieblingsfarben, doch das war natürlich nicht der Grund, weshalb ich danach fragte. Nein, ich doch nicht. Ich hatte schon halb entschieden, nicht wieder mit Trillian zu schlafen. Das war ein Fehler gewesen, ein wunderbarer, leidenschaftlicher Fehler, aber trotzdem... Andererseits hatte Delilah jetzt offenbar nichts mehr gegen Trillian einzuwenden. Verflucht, dachte ich. Warum konnte ich ihn nicht einfach ein für alle Mal gehen lassen?

Erin lächelte. »Ich habe ein paar Ensembles, die wie für dich geschaffen sind. Warte kurz.« Während sie durch einen Vorhang ins Hinterzimmer schlüpfte, ging ich die aufgereihten Kleiderbügel durch und betrachtete meterweise Spitze und Satin, Seide und feine Baumwolle. In mancher Hinsicht vermisste ich die Anderwelt, wo jedes Kleidungsstück einmalig war und von Hand genäht wurde. Niemand trug jemals genau das Gleiche wie jemand anders... aber die Stoffe und die Auswahl hier waren schon toll. Latexklamotten bekam man in der Anderwelt nicht, das war mal sicher.

»Suchen Sie etwas, das diese zauberhafte Figur kleiden würde?«

Verblüfft drehte ich mich um und starrte einen riesigen Mann an, der in einer bauschigen blonden Perücke über mir aufragte. Er trug ein hautenges, kurzes, orangerotes Paillettenkleid. Seine Haut war so gebräunt, dass er beinahe dunkelhäutig wirkte, und den rosa Lippenstift sowie den grünen Lidschatten hatte er offensichtlich dick mit dem Spatel aufgetragen. Er brauchte dringend eine umfassende Stilberatung.

»Mein Name ist Cleo Blanco«, sagte er. »Und Sie sind?« Er streckte mir die Hand hin. Ich bemerkte, dass seine Fingernägel länger – und wesentlich sorgfältiger manikürt – waren als meine.

Na, das war mal ein interessantes Zwischenspiel. In der Anderwelt gab es keine Drag Queens. Zu Hause gab es sexuelle Vorlieben in allen nur erdenklichen Geschmacksrichtungen, von lieblicher Vanille bis zur durchgeknallten Peperoni, aber nur sehr wenige Feen kleideten sich wie das andere Geschlecht. Natürlich war unser Kleidungsstil von vornherein etwas abenteuerlustiger als jener der Erdwelt, deshalb fielen uns gewisse Überschneidungen vielleicht nur nicht auf.

Ich ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie. »Camille D’Artigo. Mir gehört der Indigo Crescent.« Neugierig fragte ich mich, was er wohl von mir wollte, und blickte mit zurückgeneigtem Kopf an dem schlaksigen Riesen hoch. »Was kann ich für Sie tun?«

Er lachte, ein volles, fröhliches Lachen, das wie Honig von seinen Lippen tropfte. »Es geht darum, was ich für Sie tun kann. Süße, ich kenne Männer, die tausend pro Nacht für Ihre Gunst bezahlen würden. Die Feenpussy zwischen Ihren Beinen ist ein wertvolles und begehrtes Gut.«

Wäre ich ein VBM, dann wäre ich jetzt wohl knallrot geworden. So jedoch erwiderte ich sein lockeres Lächeln und zog die Nase kraus. »Danke für das Angebot, aber ich fürchte, nein. Meine Pussy ist derzeit exklusiv verpachtet, und außerdem keine Universalgröße.« Genaugenommen stimmte das nicht, aber doch beinahe. Ich hatte v. T. – vor Trillian – auch so meine Riesen und Zwerge gehabt, doch Cleo hier brauchte das nicht unbedingt zu wissen.

Mit einem belustigten Schnaufen tätschelte er mir die Schulter. Die Berührung war freundlich und nicht aufdringlich, deshalb ließ ich sie mir gefallen. »Süße, Sie sind in Ordnung. Ich hoffe, ich habe Sie nicht beleidigt, aber ich kenne mehrere Mädchen wie Sie, die dank ihres Feenblutes leben wie die sprichwörtliche Made im Speck. Und ich sehe es eben nicht gern, wenn gute Gelegenheiten einfach vergeudet werden.«

Feen-Nutten in der Erdwelt? Nun ja, dazu hatte es wohl kommen müssen, dachte ich. Unser angeborener Charme hatte nun einmal große Wirkung bei den VBM, da war es klar, dass irgendjemand das ausnutzen würde. Die Idee, mich als Hure anzubieten, fand ich persönlich reizlos, doch der Vorschlag beleidigte mich auch nicht. In unserer Welt war Sex eine offene, einfach zu habende Angelegenheit, daher hatten wir kaum Bedarf an Huren oder Bordellen. Zumindest unter uns Sidhe. Sex wurde zwar manchmal als Waffe benutzt, und in Schlafzimmern hatten sich schon zahllose Machtkämpfe ereignet, ganz abgesehen von großen Dramen und Duellen.

Ich schnaubte. »Nein, ich bin nicht beleidigt. Und, Cleo, arbeiten Sie auch auf der Straße?«

Cleo pfiff und blickte zur Decke hinauf. »Nicht doch, Mädchen, ich gehe nicht auf den Strich. Ich bin Entertainer – genauer gesagt, Frauenimitator. Ich arbeite drüben im Glacier Springs – das ist ein Nachtclub an der East Pine Street in der Nähe des Seattle Community College. Dienstag- und Mittwochabend bin ich Bette Davis, Daaarling, und während der restlichen Woche Marilyn Monroe.« Die letzten Worte hauchte er mit atemloser, dünner Stimme. »Sonntags habe ich frei, da besuche ich meine kleine Tochter und ihre Mama.«

In diesem Moment eilte Erin aus dem Hinterzimmer herein, mehrere Kleidungsstücke in der Hand. Sie warf einen einzigen Blick auf Cleo und runzelte die Stirn. »Belästigst du wieder meine Kundinnen, Cleo?«, bemerkte sie, aber ich hörte an ihrem Tonfall, dass sie das nicht ernst meinte. Er lachte sie an.

»Er stört mich nicht«, sagte ich, nahm ihr die Kleiderbügel ab und hielt die Dessous vor mir in die Höhe. »Du hast nicht gelogen. Die Sachen sind wunderschön. Darf ich sie mit nach hinten nehmen und sie anprobieren?«

»Aber natürlich.« Erin setzte sich wieder hinter den Ladentisch.

Cleo beugte sich darüber und hielt ihr einen dicken Rubinring unter die Nase. »Schau mal, was Jason mir geschenkt hat. Der ist sogar echt. Ich habe ihn schätzen lassen.« Ich winkte ihm zu, als ich nach hinten zur Kabine ging, und er rief mir nach: »Haben Sie gesagt, Sie arbeiten im Indigo Crescent?«

»Der Laden gehört mir. Schauen Sie doch mal vorbei«, rief ich über die Schulter zurück und verschwand in der Kabine.

Das erste Outfit – ein Body – war zu eng, ich bekam ihn über den Brüsten nicht zu. Aber das zweite – ein magentarotes Bustier mit aufgestickten schwarzen Rosen – passte perfekt. Es war mit Spitze besetzt und schick genug, um es auch abends anzuziehen, mit einem Bolerojäckchen darüber. Ich legte es beiseite und starrte das nächste Teil an, das Erin mir gebracht hatte. Es war ein hauchfeines Nachthemd in Pfauenfedern-Farben. Die Seide war fast durchsichtig, aber nicht ganz, und in den Augen der stilisierten Pfauenfedern glitzerten goldene Perlen. Ich zog es über den Kopf und schnappte nach Luft, als ich in den Spiegel schaute. Das Gewand hüllte mich in prächtige Edelsteinfarben und schillerte bei jeder Bewegung; gut verborgene Bügel in dem figurbetonten Mieder hoben sacht meine Brüste an. Ich musste es haben, was es auch kosten mochte.

Widerstrebend zog ich mich wieder an und trug das Bustier und das Nachthemd zum Ladentisch. »Okay, du hast gewonnen. Die muss ich einfach haben. Und ich will ein Kleid wie dieses Nachthemd, Erin, wenn du eines finden kannst, das nicht durchsichtig ist.« Ich blickte mich um und stellte fest, dass Cleo verschwunden war. »Ist dein Freund schon gegangen? Er war nett.«

»Cleo ist der Beste«, sagte sie. »Im Moment ist er ziemlich verwirrt – er ist nicht ganz sicher, was er ist –, aber er hat ein gutes Herz, und jeden Cent, den er erübrigen kann, gibt er seinem Kind und dessen Mutter. Irgendwann hat er mir mal erzählt, dass seine Tochter und seine Exfrau nicht wissen, dass er schwul ist – oder bi – oder was auch immer er ist, und dass sie auf gar keinen Fall darunter leiden sollen. Deshalb geht er tagsüber zur Schule und arbeitet abends und am Samstag im Club.« Sie gab meine Einkäufe in die Kasse ein, wickelte die Dessous in Papier und schob sie in eine rosa Tüte mit roten Trageschlaufen. »Das macht dann zweihundertsiebenundfünfzig vierunddreißig.«

Während ich einen Scheck ausstellte, fragte ich: »Was studiert er denn?«

»Er will Computerprogrammierer werden und irgendwann mal bei Microsoft arbeiten.« Sie reichte mir die Tüte. »Wenn du mal einen guten Computertechniker brauchst – ich kann ihn wirklich sehr empfehlen.«

Ich nickte und nahm mir vor, mir das zu merken. Man konnte nie wissen, wann man mal einen guten Hacker brauchen würde, und selbst falls es uns gelingen sollte, Bad Ass Luke und seine Kumpane zu besiegen... Ich hatte das Gefühl, dass wir einen langen Kampf vor uns hatten. Ich warf Erin eine Kusshand zu und rannte den restlichen Weg zu meinem Laden, während der Regen um mich herum aufs Pflaster spritzte.

 

Iris wirkte sehr erleichtert, mich zu sehen. »Du hast ein Problem«, sagte sie, als ich zur Tür hereinkam.

»Meinst du? Ich sitze in der Erdwelt fest, mit drei Dämonen, die in der Stadt Amok laufen. Natürlich habe ich ein Problem!« Ich schüttelte mir das Wasser aus dem Haar und stellte meine Einkaufstüte hinter den Ladentisch. Iris sah mich unbeeindruckt an und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum, bis ich seufzte und fragte: »Na schön, was ist jetzt passiert? Haben wir Termiten? Ein leckes Dach? Hat wieder jemand Bücher geklaut?«

»Keine Termiten, kein Leck und auch keine Diebe. Das Problem ist, dass die Aufrechte-Bürger-Patrouille nächste Woche vor der Buchhandlung demonstrieren will.« Sie hielt ein Flugblatt hoch. »Das habe ich heute Morgen gefunden. War an die Tür geklebt.«

Ich nahm das Blatt Papier und betrachtete es. Es war in schreiendem Blau und Weiß gehalten, mit schwarzen Lettern bedruckt und eine Art »Abmahnung«, auf der uns befohlen wurde, den Laden zuzusperren und in die Anderwelt zurückzukehren – andernfalls müssten wir »die Konsequenzen tragen«. Was bedeutete, dass sie sich mit ihren Schildern vor dem Laden aufbauen und aus voller Kehle Beleidigungen brüllen wollten, wodurch sie die Kunden allerdings in den Laden hinein- statt davontreiben würden.

»Die sind gut fürs Geschäft«, sagte ich. »Sollen sie doch kommen. Wenn es hässlich wird, rufe ich Chase, und der wird sie wegschaffen lassen.«

Iris grinste. »Soll ich draußen ein paar Zauberfallen für sie aufstellen?«

»Nicht doch, nicht doch«, erwiderte ich ebenso boshaft, »das wäre gar nicht nett von uns. Ich sage dir was: Wenn sie wirklich lästig werden, darfst du sie dir vornehmen, ehe ich die Polizei hole. Aber ja nichts allzu Schädliches, hörst du? Außer natürlich, sie versuchen uns anzugreifen. Jedenfalls werde ich ein Auge zudrücken, falls du ganz aus Versehen einen Freikörperkultur-Förderungs-Spruch oder so was in der Art fallen lassen solltest.«

Kichernd schüttelte sie ihr langes Haar, das ihr bis zu den Füßen reichte und zu zwei dicken Zöpfen geflochten war. »Du bist gemein. Deshalb arbeite ich so gern hier«, bemerkte sie. »Wie laufen die Ermittlungen? Aus dieser Tüte schließe ich, dass du gerade nicht von einer Dämonenjagd kommst.« Sie senkte die Stimme und deutete auf eines der Regale, vor dem Henry Jeffries stand und die diversen Titel durchsah. Ich hatte das Gefühl, dass Henry ein bisschen in Iris verliebt war, aber er wäre der Letzte, der so etwas laut aussprechen würde.

»Chase holt mich hier wieder ab. Er musste erst zu einer Besprechung mit seinem Chef. Und wieder einmal habe ich kaum seinen Namen erwähnt, da taucht er auch schon auf«, fügte ich hinzu, als er hereinplatzte und den Regen von seinem Schirm schüttelte. Er sah nicht unbedingt glücklich aus. Ich schnupperte. Extrascharfe Rindfleisch-Tacos, zweifellos, und dazu eine kräftige Dosis Ärger. »He, was ist denn los? Deine Gewitterwolke guckt vor.«

Er brummte: »Erspar mir das. Ich musste mir gerade von Devins den Kopf waschen lassen. Anscheinend machen die Aufrechten Bürger wieder mal mächtig Wirbel, und Devins wollte wissen, warum ich noch keine Möglichkeit gefunden habe, die zum Schweigen zu bringen. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht die PR-Abteilung bin, aber offenbar glaubt er, dass die Bürgerpatrouille automatisch in meinen Zuständigkeitsbereich fällt, weil sie gegründet wurde, als ihr Feen hier auf der Erde aufgetaucht seid.«

»Pff. Klingt ja herrlich. Vielleicht kann ich dich ein bisschen aufheitern. Ich habe eine Idee, wie wir die Harpyie aufspüren können.« Ich hielt die Feder hoch.

»Warum habe ich das Gefühl, dass ich das bereuen werde?«, erwiderte er. »Aber es kann wohl kaum schlimmer werden, als mir wieder von meinem Arsch von Chef etwas anhören zu müssen. Schön, machen wir einen kleinen Ausflug in die Hölle.«

Warnend schüttelte ich den Kopf. »Darüber solltest du keine Witze machen, Chase«, sagte ich. »Also, willst du meinen Plan jetzt hören oder nicht?«

Er zuckte mit den Schultern. »Klar doch – warum den Tag nicht endgültig zur Katastrophe machen?« Auf meinen finsteren Blick hin lachte er. »Ich werde Euch folgen, holde Camille. Ich habe noch nie gebratene Harpyien probiert.«