Kapitel 6

 

Unser erster Halt war Rinas Laden. Die Bella Gata Boutique lag in einem Viertel, das auf den ersten Blick recht heruntergekommen wirkte. Obwohl auch die benachbarten Geschäfte von außen eher trist aussahen, verkauften sie doch ziemlich teure Sachen. Neben der Bella Gata befand sich ein Restaurant – eine dunkle Treppe führte in das Steakhouse hinab – und auf der anderen Seite ein Geschäft voller Ledermöbel.

Ich spähte durchs Schaufenster und sah einen Polsterschemel in satt burgunderrotem Leder, doch als ich das Preisschild entdeckte, schlug ich mir das schöne Stück sofort aus dem Kopf. Wir hatten noch ein paar Ersparnisse, aber ein Fußschemel für siebenhundert Dollar – das war einfach nicht drin. Und unser Gehalt vom AND war erdseits nicht viel wert. Wir würden noch eine Weile bei Ikea bleiben müssen, obwohl mir edle Designer viel lieber gewesen wären.

Die Bella Gata Boutique war geöffnet. Ein älteres Ehepaar sah sich die Auslagen voll Chintz und Porzellan an, doch ansonsten war der Laden leer. Delilah hielt sich zurück und ließ mich allein zum Ladentisch gehen, als eine Frau dahinter um die Ecke spähte. Einen Augenblick lang dachte ich, sie könnte menschlich sein, doch dann spürte ich den Glamour-Zauber, mit dem sie sich tarnte. Wahrscheinlich wollte sie sich die Fans und Spinner vom Leib halten, die so oft unsere Nähe suchten. Ich vermutete allerdings, dass sich der Umsatz in ihrem Laden verdreifachen würde, wenn sie die Leute wissen ließe, dass sie eine Fee war. Guter Geschäftssinn machte einen ja nicht gleich zum Schwarzen Mann, im Gegenteil – ich hatte den Schwarzen Mann mal kennengelernt, und er war weiß Gott kein Bill Gates.

Ich beugte mich über den Ladentisch. »Wir suchen nach Rina«, sagte ich mit neutralem Blick. Sie zuckte zusammen, und ich wusste, dass ich sie gefunden hatte.

»Was wollt ihr?«, fragte sie und blickte sich nervös um.

»Informationen. Wir sind vom AND.«

Daraufhin ließ sie ihre Tarnung fallen, und ihre wahre Schönheit schimmerte auf. Als ihr Haar blonder, ihre Augen dunkler und strahlender wurden, erkannte ich, warum die Königin sie verbannt hatte. Rina war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte, und mir war klar, dass sie durchaus eine Bedrohung für die königliche Eitelkeit darstellte.

»Hat Lethesanar euch geschickt?« Ihre Schultern waren trotzig gestrafft, und ich spürte, dass sie sich zum Kampf bereit machte.

Ich schnaubte. »Glaubst du wirklich, die Königin wollte mit uns etwas zu tun haben? Wir sind halb menschlich, falls du es noch nicht bemerkt hast. Beruhige dich, wir sind nicht hier, um dir Ärger zu machen. Wir haben uns nur daran erinnert, dass du früher in der Anderwelt eine Hüterin des Wissens warst, und wir wollten dich fragen, ob du etwas über eine bestimmte Legende weißt. Ich heiße Camille D’Artigo«, fügte ich hinzu und neigte tief den Kopf. »Das ist meine Schwester Delilah.«

Rina blinzelte. »Jetzt, da du es erwähnst, sehe ich auch, dass ihr nicht reinblütig seid. Ich erinnere mich – du und deine Schwestern wart oft Thema bei Hofe. Ein paar Leute wollten euch unbedingt in die Goblinreiche schicken. Offenbar haben sie das Nächstbeste durchgesetzt.« In ihrer Stimme lag ein Anklang der alten Feindseligkeit, mit der wir aufgewachsen waren. Rina mochte also keine Halbblüter.

Ich machte schmale Augen und beugte mich über die Theke. »Hör zu, meine Freundin. Unsere Abstammung hat mit dieser Angelegenheit nichts zu tun. Wir arbeiten für den AND, das sollte dir genügen. Auch im Exil bist du der Krone zur Treue verpflichtet. Also, wir sind auf etwas gestoßen, das möglicherweise eine große Gefahr für die Erde sowie für die Anderwelt darstellt. Wirst du uns freiwillig helfen, oder muss ich erst das Hauptquartier anrufen?« Ich bluffte nur, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.

Sie zögerte, und ich sah ihr an, dass sie die Sache von allen Seiten betrachtete. Eigentlich hatte sie keinen Grund dazu, die Königin sonderlich zu mögen oder den AND zu unterstützen, aber wenn ich ihr einen kleinen Schubs versetzte, würde sie vielleicht doch den Mund aufmachen.

»Was wollt ihr wissen?«, fragte sie schließlich.

»Wir müssen wissen, ob du von einem Mann namens Tom Lane gehört hast, der eines der Geistsiegel besitzt. Wir wissen, dass er am Leben ist und sich in der Nähe des Mount Rainier aufhält, und wir müssen ihn finden.«

Rina warf einen Blick auf die paar Kunden, die sich ihre Auslagen ansahen. »Geht in mein Büro und wartet dort auf mich. Ich komme gleich nach«, sagte sie und wies auf eine Tür am Ende des kurzen Flurs hinter dem Ladentisch.

Delilah und ich schlenderten den Gang entlang und betraten das Zimmer. Es war spärlich eingerichtet mit einem hübschen Sofa an einer Wand, einem Bücherregal daneben und einem großen Schreibtisch aus Walnussholz samt Ledersessel, die den Rest des Kämmerchens ausfüllten. Ich machte es mir auf dem Sofa gemütlich und warf Delilah einen Blick zu. Die ersten Vorboten starker Kopfschmerzen rumorten in meinem Hinterkopf herum, doch ich hatte das Gefühl, dass sie nicht nur vom Schlafmangel herrührten. Irgendetwas stimmte nicht.

»Spürst du etwas Seltsames?«, fragte ich.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, Energien... Gerüche... Irgendetwas stimmt nicht, und ich weiß nicht genau, was.«

Delilah schnupperte gründlich. Sie schloss einen Moment lang die Augen und legte dann den Kopf schief. Ihre Schultern versteiften sich, und sie rannte zur Tür und rüttelte am Türknauf. »Wir sind eingeschlossen«, flüsterte sie. »Was ist hier los?«

»Ich weiß es nicht, aber das gefällt mir gar nicht.«

Ich streckte meine geistigen Fühler aus, um mehr in Erfahrung zu bringen. Ich atmete tief ein, ließ die Luft beruhigend meine Lunge füllen, doch der Lärm von berstendem Glas schreckte mich auf. Ein gedämpfter Schrei drang aus dem Laden zu uns.

»Das war Rina!« Ich sprang auf und blickte mich verzweifelt nach etwas um, womit ich die Tür aufbrechen konnte. »Wir müssen hier raus!«

Delilah bedeutete mir, ich solle zurücktreten. Sie starrte einen Moment lang die Tür an, berechnete die erforderliche Kraft, zielte dann und ließ ihren Fuß vorschnellen. Der Absatz ihres Plateaustiefels traf den Türknauf genau im richtigen Winkel, der Rahmen splitterte, und der Türknauf wurde aus dem Holz gesprengt. Zu Hause in der Anderwelt hatte sie die beste Ausbildung erhalten – ein paar Jahre Training bei einem Meister der Kampfkunst. Delilahs Können entsprach ungefähr dem schwarzen Gürtel in Karate.

Wir rannten den Flur entlang in den Laden. Rina lag quer über den Ladentisch hingestreckt, ausgesprochen tot. Blutspritzer führten vom Tisch mitten durch den Raum, und ich blieb stehen und schnupperte. Der metallische Geruch von Blut erfüllte die Luft. Und Ozon. Jemand hatte hier vor kurzem einen gewaltigen Haufen Magie gewirkt. Ich blickte auf meine Füße hinab und sah eine einzelne, gelb-braune Feder am Boden liegen. Als ich mich danach bückte, fauchte Delilah und wich zurück.

»Dämon. Die stammt von einem Dämon«, sagte sie. »Das spüre ich bis hierher.«

»Das ist diese verfluchte Harpyie.« Ich drehte die Feder in meiner Hand herum. Sie fühlte sich schmierig und schmutzig und absolut eklig an. »Wenn wir dieses Mistvieh finden, stecken wir es auf den Bratspieß und rösten es über Schattenschwinges Feuergrube.«

»Glaubst du, sie hatte es auf dieselben Informationen abgesehen wie wir?«

»Ich weiß es nicht, aber ich rufe sofort Chase an. Das hier müssen wir melden, und wir sollten ihn wohl bitten, eine Leichenzunge zu holen.« Seufzend fischte ich mein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahlnummer sieben.

 

Während wir auf Chase warteten, sah ich mir Rinas Leichnam näher an. Noch vor wenigen Minuten war sie eine wunderschöne Frau gewesen, die einst einem König den Kopf verdreht hatte. Jetzt war nicht mehr viel übrig, das man auch nur weitläufig als schön hätte bezeichnen können. Blutlachen breiteten sich auf dem Boden aus, die von mehreren hässlichen Schnittwunden an Körper und Gesicht stammten. Ich wandte hastig die Augen von ihrem Unterleib ab, der ausgeweidet worden war, und zwar so, dass nichts der Phantasie überlassen blieb. An Blut und Eingeweide war ich zwar gewöhnt, aber deshalb musste mir so etwas noch lange nicht gefallen.

Delilah trat zu mir und gab sich Mühe, Rina nicht anzuschauen. Wir wussten, dass wir den Leichnam nicht zudecken durften. Es würden Spuren daran sein, die erst als Beweismittel gesichert werden mussten, und falls wir eine Leichenzunge herbekamen, sollten wir so wenig energetische Abdrücke wie möglich hinterlassen.

»Glaubst du, Bad Ass Luke war hier?«, fragte Delilah.

Ich schüttelte den Kopf. »Ihn kann ich hier nicht riechen, aber ich rieche Vogel

Bad Ass Lukes richtiger Name bestand aus achtundzwanzig Buchstaben und war praktisch unaussprechlich. Vater hatte ihn uns genannt, aber Lucianopoloneelisunekonekari war einfach zu viel auf einmal im Mund, deshalb hatte er ihn zu Luke verkürzt. Den Zusatz Bad Ass hatte sich der Dämon durch seinen wohlverdienten Ruf als richtig übler Bursche erworben.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist das Werk der Harpyie.« Ich befühlte die Feder. »Die Farbe passt zu der Beschreibung, und Rinas zerfetztes Fleisch – Klauen, ganz eindeutig.«

Delilah verzog das Gesicht. »Dreckige, widerliche Biester. Wie zum Teufel sind die überhaupt durchs Portal gekommen? Jocko ist während seiner Wache nie unaufmerksam.«

»Die Antwort darauf würde leider zu Chases Verdacht passen, dass ein Insider dahintersteckt«, sagte ich. In diesem Moment ging die Ladentür auf. Wenn man vom Teufel spricht – Chase lugte durch den Türspalt. Ich winkte ihn herbei, und er näherte sich vorsichtig Rinas Leichnam, einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht. Manchmal vergaß ich, dass VBM weniger robuste Mägen haben als wir.

»Herrgott, was ist denn hier passiert?« Er holte kopfschüttelnd sein Notizbuch hervor. »Sie sieht aus wie eine Statistin in einem schlechten Horrorfilm.«

»Ich glaube, das hier stammt von dem Angreifer.« Ich reichte ihm die Feder. »Harpyie, nehme ich an, aber wir brauchen einen Nekromanten, um ganz sicherzugehen. Eine Leichenzunge, genauer gesagt.«

Mit spitzen Fingern nahm er die Feder entgegen und blickte dann zu mir auf. »Wo warst du zu dem Zeitpunkt?«

Ich verzog das Gesicht. »Delilah und ich waren im Hinterzimmer eingesperrt. Rina hatte uns gebeten, dort auf sie zu warten, und irgendjemand hat uns eingeschlossen.«

»Ihr habt euch im Hinterzimmer einsperren lassen? Was für Agentinnen seid ihr eigentlich?« Er unterdrückte ein höhnisches Schnauben.

»Mal langsam, mein Bester. Was glaubst du, warum sie uns überhaupt in die Erdwelt-Pampa geschickt haben? Außerdem könntest du wirklich etwas pietätvoller sein. Die Frau ist tot, und sie ist nicht gerade sanft aus dem Leben geschieden.« Ich seufzte und kratzte mich am Ohr. Meine Ohrringe waren angeblich aus Silber, aber ich hatte das Gefühl, dass sie doch nur versilbert waren. »Wir wollten ihr ein paar Fragen stellen, aber das hat sich jetzt wohl erledigt. Harpyien kommen aus den Unterirdischen Reichen, Chase. Sie sind Dämonen.« Ich trat beiseite, um ihn näher an den Leichnam heranzulassen.

»Scheiße«, brummte er. »Dann hattest du also recht. Es ist tatsächlich ein Dämon durchgebrochen. Das ist nicht zufällig dieser Schattenschwinge, von dem ihr gesprochen habt, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Neben Schattenschwinge sähe eine Harpyie aus wie ein Kuscheltier. Im Moment wissen wir von drei Dämonen, die erdseits Amok laufen. Sie sind Kundschafter. Wir glauben, dass du recht hattest – ein Insider muss ihnen geholfen haben, sich durch die Portale zu schmuggeln. Jemand, der außerdem weiß, wie man die Tore zur Unterwelt öffnet. Womöglich ein gut getarnter Dämon oder jemand aus dem Feenreich, der mit ihnen im Bunde steht. In jedem Fall sind das üble Neuigkeiten.«

»Da wir gerade von Neuigkeiten sprechen«, sagte er und holte sein Handy aus der Tasche, »ich habe heute Nachricht vom Hauptquartier erhalten. Menolly soll die Bar übernehmen. Sie wird offiziell auf ihren Namen überschrieben. In den Augen der Erdwelt-Behörden ist sie somit die neue Eigentümerin des Wayfarer.«

»Na, das ist ja mal was anderes.« Ich runzelte die Stirn. »Nicht zwingend gut, aber eine Abwechslung. Das könnte sie auch zur Zielscheibe ersten Ranges machen. Und du sagst, das Hauptquartier hat das angeordnet?«

»Die Anweisung lag auf meinem Schreibtisch, als ich heute Morgen zur Arbeit kam. Ach, und da ist noch etwas, wovon du wissen solltest. Der Mord an Jocko ist doch an die Presse durchgesickert. Die Aufrechte-Bürger-Patrouille wird einen Protestmarsch durch die Stadt veranstalten.«

»Marschieren die zufällig auch am Indigo Crescent vorbei?«, fragte ich.

Er nickte. »Ja, und an jedem anderen von Feen geleiteten Geschäft, von dem sie wissen. Völlig gleichgültig, ob du ein Halbblut bist oder nicht, sie halten dich für gefährlich. Die Polizei wird versuchen, die Demonstration einzugrenzen, aber du weißt ja, freie Meinungsäußerung und der ganze Quatsch.«

Ich runzelte die Stirn. Ein juristischer Maulkorb wäre manchmal eine schöne Alternative gewesen, um ein paar der lauteren Radikalengruppen in den Griff zu kriegen. Die Spinner von der Bürgerpatrouille glaubten, dass wir die Menschen in die Arme des Teufels lockten. Sie würden ein ganz anderes Lied singen, wenn Schattenschwinges Truppen erst über diese Welt herfielen und alles vernichteten, was ihnen zufällig begegnete. Dann würde die Bürgerpatrouille auf den Knien bei uns angekrochen kommen und uns um Hilfe anflehen.

Chase stand immer noch neben mir und wählte mit seinem Handy eine Nummer. »Was hast du gesagt, was wir brauchen – eine Leichenzunge?«, flüsterte er mir zu.

Ich nickte. »Vergewissere dich aber, dass sie wirklich Nekromantin ist, sonst schicken sie uns am Ende jemanden, der gar nicht qualifiziert ist. Und wir müssen sie hier haben, ehe irgendjemand sonst den Leichnam anrührt.«

Gleich darauf hatte er eine Leichenzunge und die AND-Spezialeinheit herbeordert, die eigens dafür geschaffen worden war, nach Zwischenfällen wie diesem hier die Sauerei aufzuräumen. Hof und Krone hatten explizit festgelegt, wie mit den Leichen von Angehörigen der Anderwelt umgegangen werden sollte. Es gab Riten, die nur vollzogen werden konnten, wenn man mit dem Leichnam vorher auf ganz bestimmte Art verfahren war. Rina galt zwar zu Hause als Persona non grata, doch nun, da sie tot war, würde man das Exil aufheben, und sie würde nach Hause zurückgebracht werden, um die Ewigkeit in den Armen ihrer Ahnen zu verbringen.

Ein Hurra auf die Scheinheiligkeit, dachte ich kopfschüttelnd.

Während wir warteten, erzählten Delilah und ich Chase, was wir über Rina wussten und wie sie nach Seattle gekommen war.

»Ich dachte, Monogamie sei bei eurem Volk eher ungewöhnlich«, bemerkte Chase.

Ich schnaubte verächtlich. »Das hat mit Monogamie nichts zu tun. Sie hat der Königin nicht den gebührenden Respekt gezollt – das ist Majestätsbeleidigung, ein schweres Verbrechen. Wenn sie um Erlaubnis gefragt hätte, ob sie mit dem König schlafen darf, hätte Lethesanar vermutlich ihren Segen gegeben. Aber so hat Rina im Prinzip die Krone bestohlen.«

Chase blickte verständnisloser drein denn je. »Aber der König war damit einverstanden. Ist er denn nicht auch die Krone?«

Am liebsten hätte ich ihm den Kopf getätschelt. »Ja, das ist recht verwirrend. Sieh es mal so: Der König gehört der Königin. Ja, auch er ist unser Herrscher, aber ohne Lethesanars Erlaubnis geht er nicht mal pinkeln.«

Chase hüstelte. »Eure Gesellschaft ist nicht gerade... männerorientiert, was?«

»Nein, nicht unbedingt. Der Thron wird von der Mutter auf die Tochter vererbt. Die Königin wählt sich ihren Gemahl unter ihren Cousins – es muss immer eine Blutsverbindung geben –, aber jegliche Kinder, deren Vater nicht der König ist, fallen aus der Erbfolge heraus.«

»Hm. Was, wenn die Königin keine Tochter hat?«

»Dann besteigt ihre Schwester oder deren Tochter als Nächste den Thron. Alle Frauen der königlichen Familie, die auch nur im Entferntesten als Thronfolgerinnen in Frage kämen, sind verpflichtet, Kinder zu gebären. Mindestens zwei, vorzugsweise drei, falls eines ein Junge sein sollte. Der König hat Macht, aber die Königin herrscht. Da sie selbst entscheidet, wen sie heiraten will, ist er ihr untertan und gilt als eine Art Erweiterung ihrer Person. Indem Rina es ohne Einverständnis der Königin mit dem König getrieben hat, hat sie – sozusagen – die Königin vergewaltigt.«

Als ich meine Erklärung gerade beenden wollte, flog die Tür auf, und das Anderwelt-Sanitätsteam stürmte herein, gefolgt von den Kollegen vom AETT. Eine kleine Gestalt in einem langen, dunklen Schleier folgte der Gruppe gemessenen Schritts. Sie glitt über den Boden, als schwebe sie. Ein indigoblaues Leuchten drang unter den Chiffonschleiern hervor, die in zahllosen Schichten Gesicht und Körper verhüllten.

Ich trat einen Schritt zurück. Leichenzungen machten mich nervös, nicht weil sie mit den Toten sprachen, sondern weil sie dunkle, missgestaltete Feen waren, die nur selten von tief unter der Erde an die Oberfläche kamen. Sie durften die Stadt Y’Elestrial nicht betreten, außer auf ausdrückliche Anforderung. Ihre Rasse hatte keinen uns bekannten Namen, und niemand hatte je eines ihrer Gesichter gesehen. Die Männer blieben in den Tiefen ihrer unterirdischen Stadt verborgen, und nur die Frauen konnten zu Leichenzungen werden. Die meisten lebten nach strengen Regeln und hielten sich an alle Beschränkungen, doch es gab auch ein paar Gesetzlose, und die galten als wild und gefährlich.

Die Leichenzunge kniete neben Rina nieder. »Hat irgendjemand sie seit ihrem Tod berührt?« Ihre Stimme klang hohl, als dränge sie aus einer Höhle hinter den üppigen Falten des Umhangs mit Kapuze, den sie zusätzlich trug.

Ich holte tief Luft, kniete mich zu ihr, achtete aber darauf, dass nicht einmal meine Aura die ihre berührte. Es gab Geschichten von sehr hässlichen Explosionen, die sich ereignet hatten, wenn die Energie einer Hexe mit der einer Leichenzunge kollidierte, und ich hatte nicht die Absicht, jetzt herauszufinden, ob das Ammenmärchen waren oder nicht.

»Ich habe ihren Puls gefühlt, um zu prüfen, ob sie noch lebte. Ansonsten glaube ich nicht, dass irgendjemand außer dem Mörder sie berührt hat.« Ich hielt die Feder hoch. »Die hier habe ich neben ihr auf dem Boden gefunden und sie einfach aufgehoben – ich habe nicht darüber nachgedacht.«

Die finstere Kapuze wandte sich mir zu, und ich glaubte, ein Paar stählerne Augen starr auf mich gerichtet zu sehen, glitzernd und kalt. »Harpyie« war alles, was sie sagte, doch das genügte uns als Bestätigung.

Im Lauf der Jahre hatte ich schon mehrmals Leichenzungen bei der Arbeit gesehen, und ihre Hingabe und die Leidenschaft, mit der sie ihrer Tätigkeit nachgingen, waren mir unheimlich. Dennoch faszinierten sie mich, beinahe wider Willen. Delilah hingegen blieb lieber bei Chase stehen. Sie wirkte nervös; er sah aus, als würde er gleich schreiend davonlaufen. Glücklicherweise war er Profi genug, um zu wissen, wann er besser den Mund hielt.

Die verhüllte Gestalt beugte sich über Rinas Leichnam und drückte langsam das Gesicht an Rinas blutige Züge. Die Leichenzunge presste die Lippen auf Rinas – und küsste sie innig. Dabei sog sie die Überreste der gefallenen Seele aus dem toten Körper in ihren eigenen. Ich wusste, wie das ging.

Da kommt der tief verhüllte Graus.

Lippen an Lippen, Mund an Mund.

Saug ein den Geist, spei Worte aus

Tu der Toten Geheimnisse kund.

Der Reim hallte mir durch den Kopf; ein Vers, den Kinder sangen, um Schreckgespenster zu vertreiben. Aber Gespenster waren Spielzeug im Vergleich zu diesen Geschöpfen – was immer sie auch sein mochten –, und sie verlangten auch kein Fleisch als Bezahlung für ihre Dienste. Rinas Überreste würden bei ihren Vorfahren bestattet werden, bis auf das, was die Harpyie sich genommen hatte, und die Kleinigkeit, die der Leichenzunge gebührte.

Wir warteten schweigend, und die Luft wurde immer dicker, während die Leichenzunge über dem toten Körper kauerte. Ich warf Chase einen Blick zu. Er sah aus, als könnte er jeden Moment in Ohnmacht fallen, und Delilah – die seinen seltsamen Gesichtsausdruck offenbar bemerkt hatte – griff stumm nach seiner Hand. Er warf ihr einen verblüfften Blick zu, nahm aber ihre Hand, und ihre Berührung verlieh ihm offensichtlich die Kraft, sich aufzurichten und die Schultern zu straffen, obwohl ich noch immer hören konnte, wie er verzweifelt etwas herunterschluckte, das vermutlich sein Frühstück war. Der Geruch seiner Angst vermischte sich mit dem des Blutes, und ich war froh, dass Menolly nicht hier war; sie war immer noch recht neu im Vampirgeschäft, und junge Vampire wurden von unersättlicher Gier überwältigt, wenn man sich in ihrer Gegenwart nur in den Finger piekste.

Endlich erhob sich die Leichenzunge, ebenso lautlos wie vorhin. Ich trat vor. Es war an der Zeit, herauszufinden, ob wir einen Treffer gelandet hatten.

»Rina, kannst du mich hören?«

Mit einer Stimme, die wie Rina klang und doch wieder nicht, hauchte die Leichenzunge ein leises: »Ja.«

Uns blieben nur wenige Minuten, bis auch der letzte Rest von Rinas Seele aus dieser Welt scheiden würde, gerade genug für ein paar schnelle Fragen, und danach – Pech gehabt. Manchmal konnten Leichenzungen den Seelenfaden nicht einmal ein paar Minuten lang festhalten.

»Wer hat dich getötet?«

Eine Pause, dann wieder dieses Flüstern. »Harpyie.«

»Weißt du, warum?« Ich sah, wie die verhüllte Gestalt schwankte und darum kämpfte, Rinas Seele festzuhalten. »Nein.«

Die Toten waren nicht immer gesprächig, was ja auch verständlich war. Jede Frage zählte. Ich dachte angestrengt nach. Uns blieb noch eine, vielleicht zwei Chancen. Was könnte ich sie noch fragen, das wertvoll für uns sein würde? Und dann fiel es mir ein. Weitere Fragen über Rinas Tod wären Zeitverschwendung gewesen, aber wir waren ja überhaupt erst hierhergekommen, um sie etwas zu fragen, und vielleicht konnte ich darüber mehr in Erfahrung bringen.

»Wie finde ich Tom Lane?«

Die Leichenzunge schauderte, als hätte sie diese Frage nicht erwartet, doch es gelang ihr, die Seele unter Kontrolle zu halten. Einen Augenblick später rezitierte sie:

»Lang ist er um den Verstand gebracht.
Geh in die Wälder, doch nimm dich in Acht.
Such nach der Uralten Schutz vor dem Sturm,
doch erst musst du durch die Höhle des Wyrm.«

Dann zuckte Rinas Körper heftig. »O Scheiße!«, platzte Chase heraus. »Was zum Teufel... ?«

Delilah grub die Fingernägel in seinen Arm, als die Leichenzunge zurückgeschleudert wurde und sich schwer an einen der AND-Sanitäter lehnte.

Ich ging zu Chase und Delilah hinüber. »Beruhige dich. Das bedeutet nur, dass die Verbindung getrennt wurde. Rinas Seele ist durch den Schleier gegangen.«

Chase starrte auf den schlaffen Körper hinab, und ich glaubte, in seinem Augenwinkel etwas glitzern zu sehen.

»Alles klar?«, fragte ich.

Er holte tief Luft und nickte. »Ja. Ich bin nur... Ich bin so daran gewöhnt, es mit Mordopfern zu tun zu haben, dass ich manchmal vergesse, dass sie Menschen waren. Ihre Stimme aus diesem... Ding... zu hören und... wie der Körper gezuckt hat... Ich habe mir noch nie Gedanken über das Leben nach dem Tod gemacht.«

Ich sah ihm an, dass er durcheinander war, möglicherweise sogar ein wenig verängstigt. Ich warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »Nimm es nicht so schwer. Wir glauben, dass die Seele nach dem Tod einfach weiterzieht. Rina lebt noch, nur nicht mehr in diesem Körper. Sie weilt jetzt bei ihren Ahnen.«

Das Tatortteam machte sich Notizen und packte alles zusammen. Chase schaute zu der Leichenzunge hinüber und schauderte. »Wie viel bezahlen wir ihr?«

Oh, das konnte nett werden... »Du hast noch nie mit ihnen zu tun gehabt, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, und ich habe auch keine Lust, dieses Erlebnis zu wiederholen, obwohl ich das Gefühl habe, dass das ein frommer Wunsch bleiben wird.«

Ich lehnte mich an eine der Vitrinen und starrte auf meine Stiefel. Sie sahen ziemlich zerschrammt aus, und ich überlegte, dass ich vielleicht neue kaufen sollte. Chase räusperte sich, und ich blinzelte und konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart. Wie zum Teufel sollte ich seine Frage so beantworten, dass er nicht doch noch sein Frühstück von sich gab? Ich kam zu dem Schluss, dass direkt und unverblümt wohl am besten war, und zuckte mit den Schultern.

»Sie verlangt Rinas Herz. Die Mediziner werden es ihr geben. Leichenzungen nehmen immer einen Teil desjenigen in sich auf, für den sie sprechen. Stell es dir als eine Art... Kommunion vor.«

»O Gott! Aber ich musste ja unbedingt danach fragen, was?«

Als ich seine angewiderte Grimasse bemerkte, riss ich ihn herum, damit die Leichenzunge sein Gesicht nicht sehen konnte. »Lass das!«, zischte ich. »Ihre Arbeit ist heilig, und sie selbst wird im selben Maße verehrt wie gemieden. Leichenzungen sprechen nur mit ihresgleichen, außer in geschäftlichen Angelegenheiten. Wir sind nicht einmal sicher, was für eine Rasse sie sind oder was ihnen ihre Kräfte verleiht. Vielen ihrer Frauen ist die Fähigkeit angeboren, und bisher hat keine andere Art der Feen ein ähnliches Talent gezeigt. Mach dich nicht zum Narren, indem du über sie die Nase rümpfst. Sie ist eine Hüterin der Toten, der Ehre gebührt, nicht Verachtung.«

Er blinzelte. »Reiß mir nicht gleich den Kopf ab. Deine Schwester versteht wenigstens meine... «

»Angst?«

»Von wegen. Ich lasse mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.« Chase warf mir einen draufgängerischen Blick zu, doch ein gewisses Glitzern in seinen Augen sagte mir, dass er mit diesem Fall noch längst nicht abgeschlossen hatte.

»Schon klar, Johnson.« Mürrisch verschränkte ich die Arme und starrte aus dem Fenster. Delilah sprach mit den Sanitätern und sah zu, wie sie Rina für den Transport heim in die Anderwelt bereitmachten. Ich hatte die Schnauze voll von Chase und gesellte mich zu ihr. Als ich schließlich zu ihm zurückkehrte, funkelte er mich immer noch finster an.

»Also«, sagte ich in beiläufigem Tonfall, »wenn du so weit bist, sollten wir uns daranmachen, diese Harpyie aufzuspüren. Die ist für Menschen ebenso gefährlich wie für Feen.«

»Klar, von mir aus kann’s losgehen.«

Ich führte ihn ins Hinterzimmer und durchsuchte Rinas Schreibtisch nach irgendwelchen Hinweisen darauf, warum die Harpyie sie getötet hatte. Chase betrachtete die Gegenstände, die ich aus den Schubladen zog.

»Was genau ist eigentlich eine Harpyie? Sind das die aus der griechischen Mythologie?« Er holte ein Bündel kleine Papiertütchen hervor. »Die Sachen da sollten wir auf Fingerabdrücke untersuchen.«

»Äh, Chase – Harpyien hinterlassen keine Fingerabdrücke. Jedenfalls nicht in dem Sinne wie Menschen oder Feen.«

»Haben sie überhaupt Finger?«

»O ja, und wenn ich einen davon bekommen kann, bringe ich ihn Großmutter Kojote.« Ich brachte ihn zum Schweigen, ehe er ein Wort sagen konnte. »Frag nicht mal danach. Das erkläre ich dir später. Also, was Harpyien angeht – sie sind Dämonen. Mit Wörtern wie ›fies‹ oder ›abscheulich‹ könnte man vielleicht einen Mörder oder Verbrecher beschreiben, aber das reicht nicht mal ansatzweise als Bezeichnung dessen, wozu diese Wesen fähig sind.«

Ich hob ein Notizbuch auf. Adressen. Könnte interessant sein. Ich blätterte es durch und suchte nach Namen, die mir bekannt vorkamen. Dann reichte ich es Chase, und er steckte es in eine Papiertüte.

»Könnte sie mit Menschen zusammenarbeiten?«

»O ja, möglich wäre das schon, aber Menschen, die sich mit Dämonen einlassen, leben für gewöhnlich nicht mehr lange genug, um irgendeine Rolle zu spielen. Menschen glauben viel zu sehr an Märchen. Sie glauben, sie würden alles bekommen, was sie wollen, wenn sie dem Teufel ihre Seele versprechen, aber ihnen ist nicht klar, dass es solche Regeln nur in ihrem eigenen kulturellen Kontext gibt. Dämonen benutzen andere nur zu ihrem Vorteil, und wenn sie fertig sind, werfen sie den Rest einfach weg.«

Ich zögerte und überlegte, dass wir Chase sagen sollten, was Schattenschwinge vorhatte und wonach er suchte. »Chase, wir wissen, worauf diese Dämonen es abgesehen haben, und warum.«

Er fuhr herum. »Was?«

»Trinken wir einen Kaffee, dann erzähle ich dir, was wir gestern Nacht erfahren haben.« Natürlich würde ich Chase, der von meinem Feencharme oft sehr eingenommen war, nicht sagen, dass ich mit Trillian geschlafen hatte. Es gab Geheimnisse, die besser nicht enthüllt wurden.