18

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Baltic und ich das Feuer gelöscht hatten, das bedauerlicherweise ein Viertel des Waldes verzehrt hatte. Zum Glück waren die Feuerwehrleute, die zum Löschen kamen, nicht wild darauf, in einen Wald einzudringen, der seit Langem als verflucht galt, und so blieben sie mit den Gaffern am Rand und richteten ihre Wasserstrahler auf die nahe gelegenen Häuser, für den Fall, dass sich das Feuer bis dorthin ausbreiten sollte.

Als wir die letzten Flammen gelöscht hatten, tat mir der Kopf weh, und ich sank erleichtert auf den großen runden Stein, der den Eingang zu Baltics Schatzkammer markierte. »Ich habe gar nicht gewusst, dass dein Drachenfeuer so außer Kontrolle geraten kann.«

»Das tut es normalerweise auch nicht«, sagte Baltic. »Es war deine Magie, die es zum Inferno hat werden lassen.« Er zog einen Flachmann aus einem kleinen Rucksack und reichte ihn mir. Ich trank einen kleinen Schluck und genoss den Geschmack des Drachenblut-Weins, der heiß meine Kehle hinunterrann.

»Oh, vermutlich lag es an der Gnade der drei Weisen, weil ich so eine Reaktion noch nie erlebt habe.« Ich blickte zu der Stelle, an die Baltic den Runenstein geworfen hatte. »Was wollen wir denn mit Larry machen?«

»Mit wem?«

»Mit dem Stein. Ich nenne ihn Larry.«

Baltic zuckte mit den Schultern und zog sein Handy heraus. »Lass ihn da liegen. Hier kann er keinen Schaden anrichten.«

»Irgendwie kommt es mir aber nicht richtig vor. Ich meine, er war ja mal ein Mann, auch wenn er versucht hat, dich zu töten.«

»Er hat nicht versucht, Baltic zu töten, meine Anbetungswürdige, sondern er hat versucht, dich zu töten.«

Ich blickte zu den schwachen Umrissen von Constantine, der an einen Felsen gelehnt dastand. »Mich? Warum sollte er mich denn töten? Baltic, das verstehe ich ja – alle wollen Baltic töten.«

Meine große Liebe warf mir einen Blick zu, bei dem ich ein Kichern unterdrücken musste.

»Das liegt daran, dass er eine Bestie ohne Moral und Verstand ist«, sagte Constantine kühl.

»Okay«, sagte ich, stand auf und stellte mich vor ihn. »Das reicht jetzt – hast du mich verstanden! Es reicht! Du wirst Baltic nicht mehr beschimpfen. Ich weiß, dass du sauer bist, weil ich ihn dir vorgezogen habe, aber das war vor fünfhundert Jahren! Ich habe ihn damals geliebt, ich liebe ihn jetzt, und ich werde ihn immer lieben. Jetzt akzeptiere das endlich!«

Constantines Umrisse richteten sich auf. »Niemals! Du hast dich mir hingegeben, bevor er dich genommen hat, und du wirst wieder mir gehören.«

Ich kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Du willst mir einfach nicht zuhören, oder? Ich liebe Baltic. Du bist tot. Also wirklich, das sagt doch alles!«

»Ich bin nicht tot«, erklärte Constantine würdevoll.

Ich schürzte die Lippen.

»Ich bin nur zeitweise ohne Leben. Wenn die Tochter des Erzmagiers den da wiedererwecken kann …«– er machte eine abfällige Geste zu Baltic hin – »… dann kann sie das bei mir auch.«

»Nur über meine Leiche«, murmelte ich.

»Dafür hat er doch bereits gesorgt«, giftete Baltic. Er klappte sein Handy zu und trat näher. Finster musterte er Constantines Umrisse. »Hinweg, Geist! Du belästigst meine Gefährtin!«

Constantine spuckte vor Empörung.

»Ich will wirklich nicht mit dir streiten, Constantine, aber wenn du die Tatsachen nicht akzeptierst, wird es nicht anders gehen.«

»Versuch erst gar nicht, vernünftig mit ihm zu reden, chérie«, unterbrach Baltic mich. »Es ist sinnlos. Constantine besitzt einfach nicht die Fähigkeit, zu begreifen.«

»Doch, natürlich begreife ich es«, sagte der wütende Schatten und erhob sich. »Aber Ysolde hat nicht unrecht. Ich bin jetzt hier, ob nun lebendig oder nicht ganz so lebendig, und offensichtlich sind die Dinge anders als in der Vergangenheit. Deshalb werde ich mich anpassen. Ein guter Wyvern ist immer bereit, Neues auszuprobieren, wenn nötig.«

»Du bist kein Wyvern mehr«, sagte ich.

»Doch, natürlich. Ich war Wyvern, als ich gestorben bin, und jetzt lebe ich wieder. Daher bin ich immer noch Wyvern.«

»Hörst du eigentlich nicht zu? Maura hat mir gesagt, dass du zwar eine körperliche Präsenz haben und autonom sein kannst, aber du bist keine lebende, atmende Person.«

»Ich bin so gut wie lebendig«, erklärte Constantine mit einem hochmütigen Schniefen.

»Und außerdem bist du nicht mehr der Wyvern der silbernen Drachen, das ist nämlich ein sehr netter Mann namens Gabriel Tauhou.«

»Tauhou?« Er runzelte die Stirn. »Ich kenne diesen Namen nicht.«

»Ich gehe davon aus, dass du seinen Vater kanntest, obwohl ich nicht weiß, wie sein Name war. Gabriel lebt mit seiner Gefährtin May in Australien.«

»Er hat eine Gefährtin?«

Ich blickte zu Baltic, der eine Nummer in sein Handy eingab und uns ignorierte. »Ja. Sie ist eine Doppelgängerin.«

»Ah. Erschaffen, nicht geboren. Sehr clever. Aber das spielt keine Rolle.« Constantine schüttelte den Kopf und wurde ein bisschen sichtbarer. »Ich war vor diesem Gabriel Tauhou Wyvern. Und jetzt, wo ich zurück bin, muss er weichen.«

»Ja, viel Glück, du kannst es ihm ja beibringen.« Baltics zornige Miene lenkte mich ab. Er steckte sein Handy wieder in die Tasche. »Du hast doch jetzt nicht Gabriel angerufen, oder? Er würde ja eine Ewigkeit bis nach Lettland brauchen, und ich habe dir doch gesagt, dass mein Kopf schon gar nicht mehr wehtut.«

»Nein, ich habe versucht, Thala anzurufen«, sagte Baltic und blickte sich um. Immer noch stieg schwerer weißer Rauch auf, und man bekam nur schlecht Luft, aber hier mitten im Wald war von den Schäden nichts zu sehen.

»Oh. Ich habe sie ganz vergessen. Wo ist sie denn eigentlich? Du glaubst doch nicht etwa, dass Maura und ihre drei Spießgesellen sie überwältigt haben, oder?«

Constantine schnaubte.

»Nein«, murmelte Baltic versonnen und schloss für einen Moment die Augen. »Ich frage mich langsam, ob sie mich nicht in die Irre geführt hat.«

»In welcher Beziehung?«

»Ich werde diesen Wyvern aufsuchen und ihn über meine Rückkehr informieren«, sagte Constantine und wurde kurzfristig so kompakt, dass er mich in die Arme reißen und mich küssen konnte.

Baltic fuhr herum und kam angerannt.

»Adieu, meine Schöne, ich werde an einem anderen Tag zurückkommen und mich mit deinem unausstehlichen Gefährten befassen.«

Fluchend stürzte Baltic sich auf ihn, aber Constantine löste sich in nichts auf und ließ uns alleine.

»Verdammt«, sagte ich, als ich merkte, dass ich in der ganzen Verwirrung vergessen hatte, Constantine zu fragen, was ich denn nun tun sollte, um seine Ehre wiederherzustellen. »Jetzt ist er weg! Ich wollte doch noch mit ihm reden!«

»Sei dankbar, dass das Schicksal ein Einsehen mit dir hatte«, sagte Baltic und schaute sich erneut forschend um. »Ich bin es jedenfalls.«

»Ja, aber jetzt muss ich ihn wieder aufspüren, um endlich herauszufinden, was ich nach dem Willen des Ersten Drachen für ihn tun soll.«

»Pah. Er kümmert mich nicht. Ich mache mir mehr Gedanken darüber, warum Thala uns verlassen hat.

»Dich mag er ja nicht interessieren«, sagte ich und ließ mich auf meinem Stein nieder, »aber man macht den Sohn des Ersten Drachen nicht ungestraft blöd an, und ich möchte lieber nicht wissen, wie die Strafe dafür aussieht. Er ist schon wütend genug auf mich.«

Baltic blickte mich an. »Warum sagst du das ständig?«

»Was? Dass der Erste Drache wütend auf mich ist, vor allem, nachdem er mich zum zweiten Mal wiedererweckt hat?«

»Nein, das davor.«

Ich dachte einen Moment nach. »Dass wir Constantine nicht blöd anmachen sollten? Ich weiß, dass er dich wütend macht, aber er ist tot und keine Bedrohung mehr, deshalb hör endlich auf, ihn zu beschimpfen …«

»Du hast gesagt, der Sohn des Ersten Drachen. Glaubst du etwa, Constantine ist sein Sohn?«

Ich blickte in Baltics unergründliche Augen. »Ja. Das ist er doch, oder nicht?«

»Nein.«

»Aber …« Ich schüttelte den Kopf. »Er muss es sein.«

»Nein, er ist es aber nicht.« Baltic blickte sich weiter forschend um.

»Ich glaube, du irrst dich. Ich habe den Ersten Drachen mit ihm zusammen gesehen.«

»Constantine ist nicht der Sohn des Ersten Drachen«, wiederholte er.

»Und warum bist du dir da so sicher?«, fragte ich aufgebracht.

»Weil ich meine Brüder kenne.«

Ich hielt inne, als es mir allmählich dämmerte. »Deine Brüder?«

»Ja.« Er sprang von seinem Felsen und hielt mir die Hand hin. »Komm. Sie hat keine Zeichen hinterlassen, das kann nur bedeuten, dass sie in den unterirdischen Gängen ist. Wir folgen ihrer Spur.«

»Deine Brüder?« Er zog mich hoch, aber ich rührte mich nicht von der Stelle, als er mich in die Schatzkammer schieben wollte. »Baltic, soll das heißen …? Das kann doch nicht sein. Du kannst doch nicht …«

»Ja, der Erste Drache ist mein Vater.« Kopfschüttelnd legte er den Arm um mich und zog mich mit sich in eine dunkle Öffnung in der Erde. »Meine alte Ysolde wusste das. Ich weiß nicht, warum du es vergessen hast, aber damals konntest du mit der Tatsache viel besser umgehen als heute.«

»Dein Vater«, sagte ich und atmete schwer durch die Nase. Baltic schaltete eine starke Taschenlampe ein. »Dein Vater ist der Vorfahr aller Drachen? Das mächtigste Wesen seit Drachengedenken? Ein Gott?«

»Meine alte Ysolde hat immer gesagt, ›der Arsch mischt sich in alles ein‹«, erklärte er. Er führte mich einen Gang entlang, der voller Wurzeln, Abfall und Schmutz war. »Sie hat sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Einmal hat sie sogar zu ihm gesagt, er solle vor seiner eigenen Tür kehren und uns in Ruhe lassen.«

»Beim Kreuz«, sagte ich. Mir war es auf einmal ganz schwindlig. »Kein Wunder, dass er enttäuscht von mir war. Ich war frech zu einem Gott!«

»Das hat ihm nur gutgetan. Danach hat er uns tatsächlich in Ruhe gelassen«, erklärte Baltic mit Befriedigung. Er blieb an einer Kreuzung stehen und betrachtete den Boden. »Wenn du dich danach besser fühlst, kannst du das ruhig wieder machen.«

»Heilige Maria«, keuchte ich und ließ mich blindlings von Baltic weiterziehen. »Das bedeutet ja … das bedeutet ja, dass ich dir helfen soll. Es geht um deine Ehre, die ich wiederherstellen soll. Du hast den Tod Unschuldiger verursacht!«

»Du solltest nicht alles glauben, was der Erste Drache dir erzählt«, antwortete er und leuchtete mit der Taschenlampe den Weg entlang. Die Spuren, die er verfolgte, schienen in einem Haufen von Holzscheiten und Steinen zu enden.

»Deshalb kannst du ihn nicht leiden! Deshalb kannte er deinen Namen! Das hatte gar nichts damit zu tun, dass du aus deiner Sippe geworfen worden bist! Du bist sein Sohn! Sein jüngster Sohn!« Ich legte die Hände an die Schläfen. Am liebsten hätte ich laut geschrien und Baltic geschüttelt. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Ich dachte, es würde dir irgendwann sowieso wieder einfallen«, erwiderte er achselzuckend. »Die alte Ysolde …«

»War offensichtlich nicht ganz gescheit!«, unterbrach ich ihn. »Bei aller Liebe, Baltic! Du hättest es mir wenigstens sagen können! Du wusstest doch, was der Erste Drache – ach, du lieber Himmel, er ist mein Schwiegervater! – von mir wollte.«

»Du hast immer gesagt, es hätte etwas mit Constantine zu tun, nicht mit einem seiner Söhne.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Da hatte er recht. »Gibt es noch andere Familienmitglieder, von denen ich wissen müsste? Deine Mutter? Brüder?«

»Sie sind alle tot«, sagte er mit einem prüfenden Blick auf die Holzscheite. »Sieh dir das hier an. Es ist gerade erst hierhergebracht worden. Anscheinend hat Thala den Gang hinter sich versperrt, als sie geflohen ist. Die Schatzkammer!«

Er fuhr herum und rannte den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich folgte ihm. Mir drehte sich immer noch der Kopf von all den neuen Erkenntnissen. »Was war denn eigentlich der Grund dafür, dass du aus der Sippe geworfen wurdest?«

Baltic fluchte, als er die silberbeschlagene Tür zu seiner Schatzkammer berührte. Mit einem quietschenden Geräusch schwang sie auf. Er stürzte in den Raum, ich folgte ihm, wobei ich verzweifelt versuchte, mein Gehirn wieder in Gang zu bringen. Die Luft drinnen war muffig und voller Staub, als ob der Raum seit Jahrhunderten verschlossen gewesen wäre, was ja auch der Fall war. Der Lichtschein glitt über eine aufgebrochene Eisentruhe und die losen Bretter einer zertrümmerten Holztruhe. Alles war mit einer dicken Schicht aus Staub und Schmutz bedeckt.

In einer Ecke lagen ein paar aufgestapelte Fässer, aber ansonsten war die Schatzkammer leer geräumt, zweifellos von Kostya. Baltic würdigte die Überreste mit keinem Blick, sondern ging direkt in die hinterste Ecke des Raums. Mit dem Fuß schob er einen kunstvoll geschnitzten Stuhl beiseite, der unter einem herabgestürzten Balken lag. Er bückte sich, zog eine Falltür hoch und sprang wortlos in das Loch.

»Was ist das? Noch eine Schatzkammer?« Um mich herum war es dunkel. Ich eilte zu der Öffnung und kniete mich an den Rand. Die Luft, die heraufdrang, war noch abgestandener und muffiger. Ich rümpfte die Nase.

Mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe kam auch Baltic zurück. Er hievte sich aus der Öffnung. »Sie sind weg.«

»Was?« Ich entfernte Spinnweben und Schmutz aus seinen Haaren, als er sich an den Rand setzte und die Beine in der Öffnung baumeln ließ. »Was war denn darin?«

»Meine Sachen.« Er blickte mich an. »Unsere Sachen. Unsere privaten Dinge. Noch nicht einmal Kostya wusste von dieser Kammer. Dorthin habe ich dein Liebespfand gebracht, als Dauva zerstört wurde.«

Ich berührte die Kette, die um meinen Hals hing. Der ovale Silberanhänger, den Baltic vor über vierhundert Jahren für mich verziert hatte, lag sicher zwischen meinen Brüsten. »Was fehlt denn?«

»Mein Talisman.«

»Habe ich ihn dir geschenkt?«

»Nein.« Er wirkte zutiefst besorgt. Das kannte ich von Baltic nicht, deshalb folgte ich ihm auch ohne Zögern, als er aufstand und die Schatzkammer verließ.

»Ist er von Bedeutung, dieser Talisman?«, fragte ich, als wir wieder ans Tageslicht kletterten.

»Sehr sogar.«

Ich packte ihn am Gürtel, als er weitergehen wollte, sodass er sich zu mir umdrehen musste. Fragend blickte er mich an.

»Ich weiß, dass du nicht gerne Fragen beantwortest, aber ich werde dir so lange auf die Nerven gehen, bis du sie mir beantwortest, also kannst du uns die Wortgefechte sparen und ebenso gut jetzt gleich schon beantworten.«

Er seufzte schwer.

»Und wenn du es wagst zu behaupten, dass dich die alte Ysolde nie so mit Fragen gelöchert hat, dann werde ich gewalttätig«, drohte ich.

Lachend ergriff er die Faust, die ich schwenkte, und zog mich an sich, um mich zu küssen. »Die alte Ysolde hätte es nicht anders gemacht. Sie hätte so lange gefragt, bis sie erreicht hätte, was sie wollte. Der Talisman war ein Geschenk des Ersten Drachen. Er markiert mich als sein Kind. Meine Brüder und meine Schwester besaßen alle so einen Talisman, als sie ihre Sippen bildeten.«

»Du hast auch eine Schwester?«, fragte ich. Rasch ergriff ich Larry, den Stein, und ging dann mit Baltic den Pfad entlang, der durch den immer noch qualmenden, verbrannten Bereich zu unserem Auto führte.

»Hatte. Sie wurde ein paar Jahre, nachdem sie die schwarze Sippe gegründet hatte, getötet.«

»Das muss vor langer Zeit gewesen sein.« Ich rechnete nach. »Über tausend Jahre?«

»Ja.« Er hielt die Autotür für mich auf. Ich muss völlig durch den Wind gewesen sein, denn ich legte Larry auf den Rücksitz und setzte mich auf den Beifahrersitz, ohne etwas zu sagen, als Baltic hinter dem Steuer Platz nahm. Das fiel mir erst auf, als wir bereits fuhren und Baltic der Steinmauer um eine Weide herum gefährlich nahe kam.

»Stimmt es denn, dass die Kinder des Ersten Drachen die vier ursprünglichen Sippen gründeten?«

»Meine drei Brüder und meine Schwester, ja. Jetzt fragst du bestimmt, warum ich keine Sippe bekommen habe, oder?«

»Ja, das, und warum du auf der falschen Straßenseite fährst«, sagte ich und zeigte auf ein entgegenkommendes Auto.

Fluchend riss Baltic das Steuer herum und fuhr auf die richtige Seite. »Die Sterblichen sollten sich einigen, welche Straßenseite sie benutzen wollen. Ich bin der jüngste Sohn, Ysolde. Ich bin erst einige Jahrhunderte nach meinen Geschwistern geboren worden.«

»Also warst du so eine Art Nachzügler?« Ich grinste ihn an.

Er reagierte aufgebracht. »Nein, wohl kaum. Meine Mutter stammte vom Ersten Drachen ab, sie war ein schwarzer Drache. Er verführte sie, und ich kam zur Welt. Ich bekam keine Sippe, weil ich schon in die schwarze Sippe hineingeboren wurde.«

Ich starrte ihn an. »Dein Vater hat seinen eigenen Nachkommen verführt? Das ist Inzest!«

»Jeder Drache stammt von ihm ab. Theoretisch sind wir beide auch miteinander verwandt.«

»Ja, aber nur entfernt. Dazwischen liegen einige Generationen und was weiß ich nicht noch alles. Beim Kreuz, Baltic! Das ist ja schaurig. Deine Mutter war aber nicht deine Schwester, oder?«

»Nein.« Er fluchte, als mehrere Autos ihn anhupten. Ich weigerte mich hinzusehen. Es war besser, ich wusste nicht, was er tat. »Sie war die Tochter seiner Urenkelin.«

»Warte mal …« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, seinen Stammbaum zu entwirren. »Du bist ein Wyvern. Das bedeutet, dass du einen menschlichen Elternteil haben musst, und wenn deine Mutter auch deine … ich weiß nicht, deine Urgroßnichte … war? Wie auch immer, wie kann sie dann ein Mensch gewesen sein?«

»Sie war kein Mensch. Sie war ein schwarzer Drachen.«

»Aber Wyvern müssen doch einen menschlichen Elternteil gehabt haben«, widersprach ich.

»Andere Wyvern, ja. Aber nicht die, die vom Ersten Drachen gezeugt wurden«, erklärte er selbstgefällig.

Ich dachte darüber nach, als er im absoluten Parkverbot anhielt und mich in den Bahnhof scheuchte. Er grollte, als ich darauf bestand, dass er zurücklief und den Stein holte.

»Aber wie …«, begann ich, als er den Stein so fest neben mich knallte, dass ein Stück abbrach. Ich konnte nur hoffen, dass es Larry nichts ausmachte. Vorausgesetzt natürlich, ich konnte ihn wieder in einen Drachen verwandeln.

»Ich beantworte jetzt keine Fragen mehr, Gefährtin. Schau mich nicht so böse an – es gibt wichtigere Dinge zu besprechen als alte Geschichten.«

»Was für wichtigere Dinge? Maura und die zwei verbliebenen Schurken aufzuspüren?«

»Schon wieder Fragen! Meine alte Ysolde hätte gewusst, wann sie damit aufhören musste.«

»Hat deine alte Ysolde dir jemals auf die Nase gehauen? Die neue denkt nämlich gerade darüber nach …«

Es dauerte drei Stunden, bis wir wieder in England waren, und das auch nur, weil wir einen Portalservice in Anspruch nahmen, der uns in einen Fish-&-Chips-Laden am Rand von London zappte.

»Na gut.« Tief atmete ich die Londoner Luft ein und erstickte fast an den Abgasen. »Ich habe jetzt seit Stunden keine einzige Frage mehr gestellt, dann kannst du mir jetzt ein paar Fragen beantworten, ohne gleich in die Luft zu gehen. Warum, glaubst du, ist Thala abgehauen, nachdem sie deine Schatzkammer leer geräumt hat?«

Er rief ein Taxi und murrte, als ich darauf bestand, dass Larry auch mitmusste. »Du hast doch die Zeichen ebenso gesehen wie ich.«

»Ja, aber ich weiß nicht, warum du auf einmal so misstrauisch ihr gegenüber bist. Ich stimme dir zu, es ist merkwürdig, dass sie einfach so verschwunden ist, aber vielleicht haben die Ouroboros-Drachen sie ja gezwungen, in die Schatzkammer einzubrechen, und dann haben sie sie mitgenommen.«

Er zog eine seiner schokoladenbraunen Augenbrauen hoch. »Glaubst du im Ernst, sie würde sich so etwas gefallen lassen?«

»Nein, vermutlich nicht«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Jemand, der Totenklagen singt, lässt sich wahrscheinlich nicht so einfach kidnappen. Glaubst du, sie hat dich betrogen?«

»Das ist möglich. Wir haben über bestimmte Themen nie geredet, und es könnte sein, dass sie jetzt ihre Pläne allein verfolgen möchte.«

»Was für Pläne?«, fragte ich leise, damit der Taxifahrer nichts mitbekam.

»Sie möchte ihrer Mutter wieder eine Machtposition verschaffen.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte zu hören – vielleicht irgendetwas, was mit Thala, Baltic und mir zu tun hatte –, aber auf keinen Fall etwas, das mit ihrer Mutter zu tun hatte. »Will sie sie auch wiedererwecken? Die berühmte Antonia von Endres? Die Erzmagierin, die so mächtig war, dass sie einst sogar den Fürsten von Abaddon übertraf? Die, mit der du geschlafen hast?«

Er verzog das Gesicht. »Ich wusste, dass du das nicht vergisst.«

»Natürlich nicht. Ich habe ja auch nicht vergessen, dass du mit Thala geschlafen hast.«

»Das war ein gutes Jahrhundert, bevor ich dir begegnet bin, Gefährtin.«

»Deshalb beklage ich ja die Tatsache auch nicht, auch wenn sie mir allen Ernstes erklärt, nicht in dich verliebt zu sein … na ja, das gehört nicht hierher. Antonia von Endres ist doch bestimmt im Jenseits?«

Baltic wirkte unbesorgt. Seine Finger zeichneten Muster auf meinem Bein. »Sie ist da, wo alle Magier hingehen, wenn sie verbleichen.«

»Das ist das Jenseits.« Ich runzelte die Stirn, weil mir etwas einfiel, was May mir erzählt hatte. »Aber du kannst ja auch dort hingehen. Hast du sie dort gesehen?«

»Wir sind Lichtdrachen, Ysolde. In eingeschränkter Weise können wir beide ins Jenseits gehen.«

»Warst du dort, um sie zu sehen?«

Er seufzte erneut, aber ich hatte kein Mitleid mit ihm. »Ich sage es nur ungern, aber ich glaube, du bist jetzt sogar noch eifersüchtiger als früher. Schon damals konnte sich keine andere Frau in meiner Nähe aufhalten, ohne dass du Gift und Galle gespuckt hast.«

»Netter Versuch, das Thema zu wechseln. Beantworte meine Frage, Drache.«

»Ich habe Antonia von Endres nicht gesehen, seit sie vor über sechshundert Jahren verblichen ist. Du darfst mich jetzt küssen und mich um Verzeihung bitten, weil du mich verdächtigt hast, an einer anderen Frau als an dir interessiert zu sein.«

Unwillkürlich musste ich lächeln. Ich küsste ihn und gab ihm einen kleinen Vorgeschmack auf sein Drachenfeuer, bevor ich mich für meine infame Unterstellung entschuldigte.

Er ließ mich an Dr. Kostichs Hotel heraus und warnte mich. »Tu bitte nichts, wobei du wieder stirbst. Mehr Tode überlebe ich nicht, ganz gleich, wie kurz du tot bist.«

»Ich verspreche dir, keine Zauber durchzuführen, die mein Leben bedrohen«, versprach ich feierlich, als er mich zum Aufzug begleitete. »Hat Pavel eine Spur von Thala aufgetrieben?«

»Nein, aber sie hat sich für ein Gebäude hier in London interessiert. Pavel wartet dort auf mich.«

»Na gut. Baltic …« Ich biss mir auf die Lippe, unsicher, ob mein unbehagliches Gefühl gerechtfertigt war. »Ich bin dir dankbar, dass du Pavel angewiesen hast, Brom aus dem Haus zu bringen, für den Fall, dass Thala dorthin kommt und außer Kontrolle gerät. Aber müssen wir uns wirklich in einem Hotel verstecken? Als ich das letzte Mal mit ihr geredet habe, kam sie mir sehr vernünftig vor, gar nicht wie sonst. Ich will ja nicht behaupten, dass sie nicht noch ein Ass im Ärmel hat, aber wenn sie nicht eifersüchtig auf mich ist, weil sie gar nicht in dich verliebt ist, dann stellt sie weder für Brom noch für mich eine Bedrohung dar.«

»Ich will kein Risiko eingehen, bis ich mit ihr gesprochen habe«, erwiderte Baltic mit fester Stimme. »Es ist zwar gegen meinen Wunsch, meinen Sohn bei den grünen Drachen unterzubringen, aber ich weiß zumindest, dass er dort sicher ist.«

»Es war nett von Nico, Aisling zu fragen, ob sie sie für ein paar Stunden aufnehmen«, sagte ich abwesend. »Wenn ich hier fertig bin, hole ich Brom ab. Aber glaubst du wirklich …«

»Ja.« Ohne auf die Menschen um uns herum zu achten, zog Baltic mich an sich. Ich schmiegte mich an ihn, wie ich es immer tat. Ich liebte die harten Linien seines Körpers. »Sei vorsichtig, Ysolde. Du bedeutest mir alles.«

Wenn ein Mann so etwas sagt, würde wohl jede Frau dahinschmelzen, vor allem, wenn sie wüsste, dass es die volle Wahrheit ist. »Und ich hoffe auch, dass sie nicht mit einer Axt auf dich losgeht.«

Er küsste mich, und Drachenfeuer stieg in mir auf. Rasch trat ich es aus, damit die Leute um uns herum nichts merkten. Ich hatte das Gefühl, dass wir schon genug Aufmerksamkeit erregten, auch ohne die Lobby in Brand zu setzen.

Ich blickte ihm nach. Er bemerkte die Frauen noch nicht einmal, die stehen blieben und ihn mit offenem Mund anstarrten. Immer noch ohne Hemd, die Haare offen bis auf die Schultern, war er mit seinem energischen Kinn und seinem kraftvollen Gang in der Tat ein bemerkenswerter Anblick.

Und ich würde alles tun, damit ihm nichts passierte.