6

»So peinlich ist mir in meinem ganzen Leben noch nichts gewesen, auch nicht damals, als ich aus dem Gericht des Göttlichen Bluts herausgeworfen wurde, weil ich versucht habe, den Lieblingscollie des Souveräns zu bespringen, oder dieses kleine Missverständnis mit der Schwuchtel, die dachte, ich stünde auf Bondage. Verwandele mich sofort wieder zurück!«

Aisling gab dem Dämon einen Klaps aufs Hinterteil. May und ich spähten aus dem dunklen Raum, in den wir hineingeklettert waren, auf den beleuchteten Flur. »Sei still, Jim! Wenn wir Thala befreit haben, kümmern wir uns um dich.«

»Befiehl mir einfach, mich wieder zu verwandeln! Vielleicht hat es ja nicht gehalten, weil du nicht gebieterisch genug warst. Wobei ich niemals gedacht hätte, dass man in dieser Hinsicht an dir zweifeln müsste. Aber vielleicht ist Abaddon ja auch eingefroren, oder so.«

»Ich finde, du siehst ganz gut aus, Jim«, sagte Cyrene zu ihm. »Und du hast einen wirklich hübschen Hintern.«

»Mann, ich wusste, dass so etwas passieren würde! Als ich das letzte Mal in menschlicher Gestalt auftreten musste, waren ständig irgendwelche Weiber hinter mir her«, brummelte Jim und zupfte an dem Pullover, den ich ihm gegeben hatte. Er hatte ihn zusammen mit Aislings Jackett zu einer Art Behelfslendenschurz gebunden. »Wie soll ich denn in dieser Gestalt an Ceciles Ohren lutschen, hm?«

»Jim, ich weiß, dass du aufgebracht bist …«, setzte Aisling an, schwieg jedoch auf eine Geste von May hin, die hastig die Tür schloss.

»Wachen?«, fragte Cyrene fast unhörbar.

»Ja, zwei«, antwortete May, das Ohr fest an die Tür gedrückt. »Hat Drake auch bestimmt gesagt, Thala sei im zweiten Stock?«

»Ganz bestimmt«, antwortete Aisling. Sie zuckte zusammen, als etwas an ihr zu summen begann. »Oh, Entschuldigung. Ich dachte, ich hätte mein Handy abgeschaltet. Zum Glück habe ich es wenigstens auf Vibrieren gestellt … Oh nein. Das ist Drake. Ich muss drangehen. Jim, du gehst mit den anderen und hilfst ihnen. Ja, das ist ein Befehl. Drake? Hallo. Was gibt es?« Aisling stellte sich ans Fenster.

»Lasst uns gehen«, sagte May und spähte erneut durch die Tür. »Wir haben weniger als eine Minute Zeit, bis der Schichtwechsel vorbei ist.«

Während Aisling leise mit ihrem Drachen redete, eilten wir über die dick mit Teppichen ausgelegte Treppe nach oben. Im zweiten Stock hockten wir uns neben das Geländer, während May in die Schatten ging, um die Zimmer zu erkunden. Sie war in Windeseile wieder zurück und scheuchte uns auf. »Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen uns beeilen.«

»Ich halte meinen Taser bereit«, sagte Cyrene und fummelte mit ihrem Spielzeug herum. Wir eilten durch einen leeren Flur und blieben vor einer Tür stehen, die mit Zauberformeln geschützt war.

May betrachtete sie. »Wir brauchen Aisling«, sagte sie. »Oder kannst du etwas dagegen ausrichten, Ysolde?«

Ich warf einen Blick auf Jim. Er betrachtete mich mit finsterer Miene, die Arme über der nackten Brust verschränkt. »Äh … ich glaube, das wird uns nicht viel nützen. Ich kann zurückgehen und … Ach, nicht nötig, da kommt sie.«

Aisling kam auf uns zugerannt. Ihr Gesicht war blass. »Habt ihr sie gefunden?«

»Sie ist hier, aber die Tür ist mit Schutzzaubern belegt, und Ysolde zögert verständlicherweise, sie zu lösen«, antwortete May. »Was ist los?«

»Wir müssen sofort hier weg. Drake hat herausgefunden, dass ich weggefahren bin, und er brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, was wir vorhaben. Er hat noch über dem Kanal sein Flugzeug wenden lassen. Er ist wütend und alarmiert wahrscheinlich gerade alle Drachen in der Gegend, damit sie uns aufhalten und Thala wieder festnehmen.« Während sie sprach, arbeitete sie an den Schutzzaubern, gab aber schließlich auf und zwängte einfach ihren Arm hindurch, um die Tür zu öffnen. In dem schwach beleuchteten Raum saß eine Frau in einem Lehnsessel und las. Sie blickte auf, als Aisling unter Ächzen und Stöhnen durch die Schutzzauber hindurch den Raum betrat.

»Hallo. Du bist Thala, nicht wahr? Ich bin Aisling Grey. Wir sind gekommen, um dich hier herauszuholen, aber wir müssen uns beeilen, weil Drake schon alarmiert ist.«

Die Frau erhob sich langsam. Sie war mittelgroß und hatte kupferfarbene Haare, und als sie Drakes Namen hörte, wich die Verwirrung aus ihrem Gesicht. »Hat Baltic dich geschickt?«, fragte sie.

»Äh … nein, eigentlich nicht. Wir haben leider keine Zeit mehr, deshalb kannst du nichts mitnehmen. Wir müssen dich schleunigst durch die Schutzzauber schieben. Das wird ein bisschen zwicken. Ich wünschte, ich könnte es dir leichter machen, aber es geht leider nicht anders.«

Aisling drängte Thala durch die Zauber, und ihr Gesicht verzerrte sich, als der Schutzzauber versuchte, sie an der Flucht zu hindern. Aber Aisling war ja nicht umsonst Hüterin, und nach ein paar schmerzhaften Augenblicken tauchten sie und Thala aus der Umklammerung des Schutzzaubers auf.

»Danke …« Als Thala sich zu Aisling umdrehte, fiel ihr Blick auf mich. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, aber dann stieg eine Wut ohnegleichen in ihnen auf. »Ysolde!«, zischte sie.

Angesichts solch unverhohlener Feindseligkeit wich ich einen Schritt zurück. »Hallo. Ich kann mich leider nicht erinnern, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Du lebst? Wie das? Du bist doch enthauptet worden! Wie hast du das überlebt?« Sie packte mich am Arm und schüttelte mich.

Ich riss mich los und rieb über die schmerzenden Druckstellen. »Ich habe das nicht überlebt. Ich wurde wiedergeboren.«

Ihre Wut schien nur noch größer zu werden. »Wer hat dich wiedergeboren?«, schrie sie.

Aisling und May brachten sie zum Schweigen, wobei sie nervös den Flur entlangblickten.

»Das kann warten. Wir müssen hier raus, und zwar jetzt!«, sagte May gebieterisch. »Wir nehmen den gleichen Weg, den wir hereingekommen sind.«

»Mit ihr gehe ich nirgendwohin«, erklärte Thala. Einen Moment lang dachte ich, sie würde mich anspucken.

»Sie hat deine Befreiung organisiert«, sagte Aisling.

»Warum bist du so wütend auf mich? Haben wir einander gekannt?«, fragte ich verwirrt und verletzt über ihre Reaktion. »Hat es etwas mit Baltic zu tun?«

»Wir haben jetzt wirklich keine Zeit dafür«, sagte May. Sie lauschte auf Geräusche aus dem Treppenhaus. »Da sind mehr Drachen, als mir lieb ist. Wir müssen uns beeilen.«

»Hier entlang«, sagte Aisling und zeigte auf den Flur hinter Thala.

Sie verschränkte die Arme und warf mir einen Blick zu, der mir deutlich zu verstehen gab, dass sie mich am liebsten wieder ohne Kopf sehen würde. »Nein, mit ihr gehe ich nicht.«

»Ich verstehe nicht, warum …«, begann ich, aber Cyrene verdrehte die Augen und drückte der Frau ihren Taser in den Nacken. Thala zuckte noch ein paarmal, dann sank sie bewusstlos zu Boden.

»Ich liebe dieses Ding«, kommentierte Cyrene zufrieden und musterte das Ergebnis ihrer Arbeit. »Ich werde es von jetzt an immer bei mir tragen.«

»Danke, Cy«, sagte May. »Kommt, lasst uns verschwinden.«

»Warum ist sie so sauer auf mich?«, fragte ich. »Was habe ich ihr getan?«

»Keine Ahnung, aber wir haben jetzt sowieso keine Zeit, darüber zu spekulieren.« Aisling trat neben mich, um Thalas Beine zu ergreifen. »Es würde zu lange dauern, sie so zu tragen. Jim, solange du in menschlicher Gestalt bist, kannst du sie nehmen.«

»Ich!«, protestierte Jim. »Ich bin ein Neufundländer, kein Packesel!«

»Du bist stärker als wir alle zusammen, und wir kommen schneller voran, wenn du dir Thala über die Schulter wirfst und sie trägst. Und jetzt mach voran! Wir müssen hier raus, bevor Drakes Flugzeug landet.«

»Ich habe es ja immer schon gesagt – bei einer menschlichen Gestalt kommt nichts Gutes heraus«, beklagte sich Jim, als er sich über die bewusstlose Frau beugte.

»Grundgütiger!«, kreischte Cyrene und schlug die Hand vor die Augen.

May erschauderte und glitt in die Schattenwelt.

Ich drehte mich um, sodass ich dem grauenvollen Anblick den Rücken zuwandte. »Aisling, sosehr ich deine Hilfe schätze, aber kannst du beim nächsten Mal nicht wenigstens dafür sorgen, dass Jim eine Unterhose trägt?«

»Entschuldigung«, sagte sie und verzog mitfühlend das Gesicht.

»Hey! Das ist auch für mich kein Vergnügen«, grunzte Jim. Er warf sich Thala über die Schulter. »Ich glaube, ich habe mir gerade ein oder zwei Rippen gebrochen.«

»Ich sehe mal nach, wie viele Drachen da sind«, meldete sich May aus der Schattenwelt. Ihre Stimme klang gedämpft, wie aus weiter Ferne.

»Hoffentlich sind es noch nicht allzu viele«, meinte Aisling, als wir den Flur entlangeilten.

»Und hoffentlich bricht meine Wirbelsäule nicht zusammen«, grummelte Jim, der uns folgte. Ich zuckte zusammen, als Thalas Kopf gegen eine Wandkonsole schlug, weil Jim zu dicht daran vorbeiging.

»Ich kann welche auszappen«, bot Cyrene an und schwenkte fröhlich ihre Taser-Waffe. »Ich kann bestimmt mindestens ein gutes Dutzend Drachen erledigen, bevor die Batterie alle ist.«

»Es sind zu viele«, sagte May und trat aus dem Nichts. »Draußen sind mindestens zwölf und suchen nach Spuren dafür, ob jemand eingedrungen ist. Gott sei Dank haben wir den Fensterschutz wieder aktiviert, nachdem wir drin waren. Sie konzentrieren ihre Suche auf draußen, nicht auf das Haus.«

»Und wie sollen wir herauskommen?«, fragte ich.

Jim stöhnte und lehnte sich an die Wand, wobei er Thala einquetschte. »Entscheidet euch besser schnell, ich glaube, meine Niere ist kollabiert.«

»Ich muss sie ablenken«, sagte May. »Ich werde durch ein Fenster hinten im Haus schlüpfen und sie vom Auto weglocken.«

»Das sind Drakes Männer … Sie erkennen dich vielleicht nicht, May, und Gabriel würde außer sich vor Wut sein, wenn sie dir etwas tun würden. Aber mich kennen sie natürlich, deshalb gehe ich hinaus und mache den Lockvogel«, bot sich Aisling an.

»Und wenn wir beide gehen?«, schlug May vor.

»Ich kann auch gehen«, sagte Cyrene. »Ich kann sie zappen, wenn sie uns zu nahe kommen.«

»Du bleibst bei Jim und Ysolde«, ordnete May an. Als Cyrene die Stirn runzelte, fügte sie rasch hinzu: »Du bist verantwortlich für ihre Sicherheit!«

»Oh! Gute Idee! Ich zappe einfach die, die hinter uns herkommen.«

Jim stöhnte wieder. »Können wir einfach weitergehen, bevor mein Rücken zusammenbricht? Ich mag mir gar nicht ausmalen, was das mit meiner fabelhaften Neufundländer-Gestalt anstellt.«

»Ysolde de Bouchier«, sagte Aisling und ergriff meine Hand, um einen Schutzzauber in meine Handfläche zu zeichnen. »Dir verleihe ich meine Macht über meine Untergebenen. Jim, bleib bei Ysolde, bis ich dich wieder zurücknehmen kann, und hör auf dich zu beklagen. Wir wissen alle, dass du lieber in Hundegestalt wärst, und wir finden sicher heraus, wie wir das bewerkstelligen, aber bis dahin tust du einfach, was Ysolde sagt, und ziehst dir sobald wie möglich eine Hose an.«

Wir trennten uns oben an der Treppe. Aisling und May versprachen, ihr Möglichstes zu tun, um die Aufmerksamkeit der Drachen von der Nordseite des Hauses abzulenken.

»Ich rufe dich morgen an«, sagte Aisling. Dann hielt sie inne und blickte auf ihre Uhr. »Nein, heute noch, um Vorkehrungen für Jim zu treffen. Viel Glück, alle zusammen.«

Wir brauchten eine Weile, bis wir im Erdgeschoss waren, weil Jim darauf beharrte, dass sich seine Schulter nach innen wölbte. Ständig musste er Thalas Position verändern. Zu allem Unglück ließ er sie dabei auch noch fallen, aber niemand schien den lauten Krach zu hören, als sie die letzten Stufen herunterkullerte.

»Wenn du mit ihr fertig bist, wird sie überall blaue Flecken haben«, sagte ich, als Jim sie durch das Fenster schob, durch das wir ins Haus hineingekommen waren.

»Und wenn schon«, sagte Jim und ließ Thalas Beine los, sodass sie durch das Fenster zu Boden glitt. »Falls du dich nicht mehr erinnern solltest, sie ist nicht gerade die netteste Person auf Erden. Sie hat versucht, Kostya und Savian zu töten. Der ist zwar vielleicht nicht wichtig, aber ich mag Savian. Wenn ich bei May bin, und er kommt zu Besuch, dann steckt er mir immer Gebäck zu.«

»Entschuldigung.« Cyrenes Stimme drang durch das Fenster. »Hätte ich Thala auffangen sollen? Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört, und wollte nur nachsehen, ob ich meinen Taser einsetzen könnte. Kommt ihr beiden jetzt?«

Die folgenden zehn Minuten wirkten eher wie eine Szene aus einem Monty-Python-Film, aber May und Aisling stellten sich als die perfekten Lockvögel heraus. Als Jim mit Thala über der Schulter vom Haus wegtaumelte, hörte ich das Knistern von Funkgeräten und Alarmrufe, die sich zu meiner großen Erleichterung immer weiter entfernten. Zu Cyrenes Enttäuschung trafen wir auf unserem Weg zum Auto nicht auf einen einzigen Drachen. Ich hatte sowieso darauf bestanden, dass wir uns versteckten, falls ein Drache vorbeilaufen sollte, aber das war ihr gar nicht recht.

»Wozu habe ich denn einen Taser, wenn ich keine Drachen damit zappen kann?«, beschwerte sie sich.

»Du kannst ihn bestimmt noch ein anderes Mal einsetzen«, sagte ich zu ihr und blieb stehen, um die Straße entlangzusehen, wo wir das Auto geparkt hatten.

»Vielleicht benimmt Kostya sich ja daneben, und ich kann ihn damit bewusstlos machen«, überlegte sie.

Ich warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Läuft es nicht gut in eurer Beziehung?«

»Oh, das ist es nicht«, sagte sie achselzuckend. »Es ist nur, dass … na ja … es geht immer nur um diese ganze Wyvern-Geschichte. Kostya verlangt von mir, dass ich das Wohlergehen der schwarzen Drachen an erste Stelle setze, und das kann ich einfach nicht. Ich bin eine Najade! Ned sagt, genau das sei der Grund, warum gemischte Beziehungen nicht funktionieren.«

»Ned?« Ich holte meine Autoschlüssel aus der Tasche und schloss den Wagen auf.

»Das ist nur ein Freund«, antwortete sie kokett.

»Mann, du hast eine Affäre mit Neptun? Kostya geht bestimmt hoch wie eine Rakete, wenn er das herausfindet.« Jim ließ Thala auf den Rücksitz fallen. »Kann ich dabei sein, wenn du es ihm erzählst?«

Ich bedachte Cyrene mit einem langen Blick, bevor ich ins Auto stieg. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und warf Jim, der Thalas Beine beiseiteschob und sich neben die schlafende Schönheit setzte, einen erbosten Blick zu.

»Ich habe keine Affäre mit Ned. Ich bin ihm nur zufällig ein paarmal begegnet. Wir waren vielleicht zweimal essen, aber mehr auch nicht. Kostya lässt mich viel zu oft allein, weil alles andere ja immer viel wichtiger ist als ich. Es ist doch nichts dabei, wenn ich mich mit dem Oberhaupt der Wasserwesen treffe. Schließlich bin ich ja nicht wie wahnsinnig in ihn verliebt, auch wenn er wirklich sensibel und verständnisvoll auf alles reagiert, was ich mit meiner Quelle mache. Er weiß wenigstens die Arbeit zu würdigen, die ich mir mache, damit alle meine Seen und Flüsse in einem Tipptopp-Zustand sind, wohingegen Kostya mir immer nur sagt, das sei Zeitverschwendung! Ha!«

Daher wehte also der Wind. Es war interessant, aber eigentlich ging es mich nichts an. Im Geiste vermerkte ich mir jedoch, Baltic davon zu erzählen. Es würde ihn sicher interessieren, dass Kostyas Quasi-Gefährtin offensichtlich ihre rosa Brille im Hinblick auf Kostya verloren hatte.

»Wird Drake sehr sauer auf Aisling sein?«, fragte ich Jim, als wir durch die Nacht zum Bahnhof fuhren, wo ich Cyrene absetzen wollte.

»Ja, aber sie wickelt ihn um den kleinen Finger«, erwiderte er. Er zögerte kurz, dann fuhr er fort: »Meistens jedenfalls. Eine Zeitlang wird er bestimmt sauer sein, aber sie besänftigt ihn schon wieder.«

»Ich hoffe, die beiden bekommen keinen Ärger.« Ich fragte mich, wie böse Baltic wohl werden würde, wenn er entdeckte, dass ich entgegen seinen Wünschen gehandelt hatte. Einige der Erinnerungen, die ich an unsere letzten Jahrhunderte hatte, gingen mir durch den Kopf. Es konnte schlimm werden. »Nun, dieses Mal kann er sich wenigstens über nichts beklagen«, murmelte ich und bog auf die Hauptstraße ab.

Manchmal wäre ich dankbar, wenn ich solche Äußerungen einfach nicht machen würde. Sie scheinen das Schicksal geradezu herauszufordern.

Anderthalb Stunden später blickte ich auf und fragte: »Hast du sie ins Bett gebracht?«

Jim kam die Treppe heruntergestampft. Er hatte gerade Thala in eins der Gästezimmer gebracht. »Wenn du damit meinst, dass ich sie aufs Bett geworfen und sie mit den Handschellen, die du noch gefunden hast, gefesselt habe, dann ist das korrekt. Darf ich erwähnen, wie pervers ich es finde, dass du Handschellen besitzt? Fesselst du Baltic damit? Oder er dich?«

»Weder noch. Sie gehören Pavel«, sagte ich und vermied es, den Dämon anzusehen. Ich checkte mein Handy. Baltic hatte auf die SMS, in der ich ihm mitgeteilt hatte, dass wir Thala erfolgreich befreit hatten, noch nicht geantwortet.

»Ernsthaft? Mann, und dabei sieht er so normal aus. Hast du schon zugeschaut …«

»Nein«, unterbrach ich ihn rasch. Der Dämon wand sich unbehaglich, und ich musterte ihn stirnrunzelnd. »Was ist los mit dir?«, wollte ich wissen.

»Dem großen Jim und den Zwillingen gefällt es hier drin nicht«, antwortete er und zupfte am Schritt der Jeans, die ich ihm geliehen hatte.

»Du liebe Güte – du bist genauso groß wie Baltic, und deine Genitalien sind bestimmt nicht so gewaltig, dass sie nicht in eine Jeans passen.«

»Ja, aber ohne Unterhose ist es wirklich unbequem.«

»Du hättest dir ja eine aus dem Schrank nehmen können. Ich habe dir doch gesagt, du kannst dir nehmen, was du brauchst.«

»Ich trage doch nicht die Unterwäsche von einem anderen Kerl!«, antwortete er entsetzt. »Außerdem würde es Baltic bestimmt nicht gefallen, wenn er wüsste, dass ich Sachen von ihm anhabe.«

»Es wäre ihm bestimmt lieber, als dass du mit einem behelfsmäßigen Sarong aus zwei Pullovern herumläufst. Jetzt hör auf, an dir herumzufummeln, und setz dich. Ich will mit dir reden.«

»Oh, oh«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Du machst so ein strenges Gesicht. Worüber willst du mit mir reden?«

»Über Ouroboros-Drachen.«

Jim blinzelte. »Du könntest mir wenigstens vorher etwas zu essen geben.«

»Es ist zwei Uhr morgens, Jim. Du brauchst jetzt nichts zu essen.«

»Doch, klar. Es hat mich viel Energie gekostet, Thala durch die Gegend zu schleppen. Sie ist nicht gerade ein Leichtgewicht.«

Ich wollte widersprechen, entschied dann jedoch, dass ich Jim besser etwas zu essen gab, statt endlos mit ihm zu diskutieren. »In Ordnung. Ich mache dir einen Burger mit Schimmelkäse, aber dafür erzählst du mir auch alles über die gesetzlosen Drachen, was du weißt.«

»Abgemacht. Ich weiß allerdings nicht viel, nur das, was ich bei Ash und Drake aufgeschnappt habe.«

Als ich die Burger für uns beide zubereitet hatte, hatte Jim sich an das Tragen von Kleidung gewöhnt und saß zahm am Küchentisch.

»Baltic hat gesagt, Fiat und einige seiner Gefolgsleute seien vor Kurzem zu ouroboros erklärt worden«, sagte ich und setzte mich ebenfalls an den Tisch. »Diese Drachen werden also als Gesetzlose betrachtet, aber was ist mit den anderen?«

»Was für andere?«, fragte Jim mit vollem Mund.

»Es muss doch auch andere Drachen geben, die zu irgendeinem Zeitpunkt aus der Sippe ausgeschlossen worden sind. Oder handelt es sich nur um die blauen Drachen?«

Jim zuckte mit den Schultern. »Ich kenne keinen von ihnen persönlich, aber in Kostyas Adlerhorst waren welche. Das hat Gabriel jedenfalls gesagt, und warum sollte er lügen, wenn nicht gerade Silberdrachen Kostya gefangen gehalten haben?«

»Kostya«, sagte ich langsam. »Ich hatte ganz vergessen, dass er ja so lange in einem Adlerhorst festgehalten wurde. Wer hat ihn gefangen gehalten?«

»Keine Ahnung. Drake hat es immer noch nicht herausgefunden. Er redet zwar die ganze Zeit davon, dass er eigentlich noch einmal in den Adlerhorst müsste, aber er ist ja viel zu beschäftigt damit, sich um Aisling und den Nachwuchs zu kümmern, um noch einmal nach Nepal zu reisen.«

»Was hat Drake damit zu tun?«

»Er hat Kostya gerettet und wurde dabei selbst entführt. Ash und ich haben eine Truppe zusammengestellt, um ihn zu retten. Ich habe dabei ein paar Zehen verloren, habe sie aber mit meiner fabelhaften neuen Gestalt wiedergewonnen.« Jim blickte trübsinnig an sich herunter. »Meine frühere fabelhafte neue Gestalt. Wann willst du mich eigentlich wieder zurückverwandeln?«

»Ich weiß nicht, wie ich das machen soll oder ob ich es überhaupt kann. Drake war also auch in dem Adlerhorst? Das bedeutet, dass er die Ouroboros-Drachen auch gesehen haben muss. Hmm. Ich muss wohl mit Kostya reden. Drake wird bestimmt wütend auf mich sein und mir nicht sagen, was ich wissen will.«

Jim zog eine Augenbraue hoch und leckte sich ein wenig Senf von der Oberlippe. »Und du glaubst, Kostya erzählt es dir?«

»Ja«, erwiderte ich nach kurzem Nachdenken. »Mal abgesehen von seinen Animositäten Baltic gegenüber, kann ich ihn ganz bestimmt dazu bringen, dass er sich öffnet. Die gesetzlosen Drachen haben Kostya ja gefangen gehalten, bevor Fiat und seine Leute zu ouroboros erklärt worden sind. Das bedeutet, dass es zwei getrennte Stämme geben muss. Aber wer ist die zweite Gruppe? Und warum sollten sie Kostya gefangen halten? Warum sollten sie Dinge aus dem Au-delà stehlen?«

»Keine Ahnung. Isst du deine Hälfte noch?«, fragte Jim und nickte zu meinem Teller hin.

»Nein, du kannst sie haben, aber komm mir nicht heute Nacht angekrochen und jammere, dass du Bauchweh hast.« Ich schob ihm den Teller über den Tisch hinweg zu und stand auf. »Ich brauche jetzt ein paar Stunden Schlaf. Kannst du bitte Thala im Auge behalten, bis ich aufgestanden bin?«

»Oh Mann! Warum muss gerade ich Wache halten?«

»Weil sonst keiner hier ist, und du bist ein Dämon, der theoretisch keinen Schlaf braucht, wohingegen ich ein Mensch bin. Äh … eine Art Mensch. Und ich brauche Schlaf.«

»Du hast ja keine Ahnung. Dämonen brauchen ihren Schlaf genauso wie jedes andere Wesen«, grummelte Jim.

»Es sind ja nur ein paar Stunden.« Ich räumte rasch den Tisch ab und wandte mich zum Gehen.

»Kann ich wenigstens eine Pistole oder so einen Taser haben?«

Ich blieb an der Treppe stehen und blickte den Dämon an. Er wirkte aufrichtig besorgt. »Du willst wirklich nicht in Thalas Nähe sein, oder?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Sie ist nicht nett«, sagte er und verzog das Gesicht.

»Nicht nett im Sinne von gemein zu Dämonen?«, fragte ich neugierig.

»Sie hat viel Macht«, sagte Jim zögernd. »Sie ist ein halber Drache.«

»Ich weiß, aber sie ist auch ein Nekromant, und das hat doch auf Dämonen gar keinen Einfluss. Es gibt also gar keinen Grund für dich, Angst vor ihr zu haben.«

Jim sagte nichts, aber ich merkte deutlich, dass noch mehr dahintersteckte. Einen Moment lang dachte ich daran, das Privileg eines Dämonenfürsten zu nutzen, um ihn zum Sprechen zu bringen, aber dann fand ich es nicht so wichtig. »Nimm dir ein Messer, wenn du Angst hast, aber verletz sie nur, wenn du keine andere Wahl hast.«

»Was soll ich tun, wenn sie zur Toilette muss?«, fragte er kläglich, als ich die Treppe hinaufging.

»Nimm ihr die Handschellen ab und lass sie zur Toilette gehen, Dummchen.«

»Sie wird mich zusammenschlagen.«

Ich unterdrückte den Drang, ihm zu erwidern, dann solle er zurückschlagen. »Da sie mir feindselig gesonnen ist, möchte ich nicht, dass sie das Haus verlässt, bis Baltic zurückkommt und mit ihr reden kann. Wir müssen nur diese paar Stunden überbrücken. Also gib dir Mühe, okay? Weck mich um sechs, dann übernehme ich die Wache.«

Jims Brummeln folgte mir die Treppe hinauf. Während ich mich auszog, betrachtete ich das große Bett, das normalerweise das Zimmer dominierte. Zumindest tat es das, wenn Baltic da war, aber jetzt wirkte es nur kalt und einsam.

Du fehlst mir, schrieb ich, als ich in dem leeren Bett lag. Ich hoffe, in Dauva ist alles okay. Ruf mich an, wenn du kannst. Oh, und ich liebe dich über alles und wünsche mir, du wärst jetzt hier, damit ich dich überall berühren könnte.

Lächelnd schickte ich die SMS ab. Darauf würde er bestimmt sofort reagieren. Dann legte ich mich hin. Allerdings erwartete ich nicht, besonders viel Schlaf zu bekommen, denn wenn Baltic nicht da war, um mich in den Armen zu halten, schlief ich nie gut. Doch dann übermannte mich die Erschöpfung, und ich schlief ein, das Handy fest umklammert.