16

Riga ist eine seltsame Mischung aus einer alten Stadt und einer modernen Metropole. Die Stadt gehörte zur Hanse und war ein wichtiger Handelshafen, einer der Gründe, warum Baltic gerade diese Gegend als Standort für seine Burg wählte. Es gab in ihrer Pracht erhaltene historische Gebäude, ein Schloss und wundervolle Jugendstilarchitektur, die sich elegant in das eher langweilige moderne Stadtbild einfügten. Ich war seit Jahrhunderten nicht mehr in Riga gewesen, und doch kam es mir seltsam vertraut vor, als wir aus der Stadt heraus durch den winzigen Vorort Ziema zu dem Wald fuhren, der die Ruine von Dauva beherbergte.

»Es ist wirklich erstaunlich, dass dieses Gebiet in all den Jahrhunderten nicht bebaut worden ist«, sinnierte ich, als ich von der Straße in den dichten Wald abbog. »Man sollte doch meinen, sie hätten zumindest das Holz gut gebrauchen können. Aber niemand hat es angerührt.«

»Dafür habe ich gesorgt«, sagte Baltic, als wir aus dem Mietwagen stiegen.

Ich hielt inne. »Wie denn?«

Thala, die auf den Rücksitz verbannt worden war, schniefte. Ich hatte schon halbwegs erwartet, dass sie eine boshafte Bemerkung machen würde, aber sie lächelte mich nur an. Es war ein unangenehmes Lächeln, das war mal sicher, aber es traf mich dennoch überraschend. »Du hast hier gelebt und kannst dich nicht mehr an Baltics Schutzmaßnahmen erinnern?«

Nach acht Stunden gemeinsamer Fahrt nach Lettland waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt, aber wenn sie auf einmal die Taktik änderte und die Nette spielen wollte, würde ich das eben auch tun. Es hatte mich all meine Überredungskünste gekostet, Baltic dazu zu bringen, mit nach Lettland zu kommen, da er eigentlich lieber woanders gewesen wäre. »Nein, ich kann mich an so gut wie gar nichts im Zusammenhang mit Dauva erinnern. Dank deiner Schwester und ihres Bigamisten von Ehemann wurde meine Erinnerung ausgelöscht.«

»Bigamist?« Sie zog die Augenbrauen hoch und blickte mich fragend an. »Wie meinst du das?«

»Gareth hat mich vor zwölf Jahren geheiratet, um meine Fähigkeiten, Gold zu machen, kontrollieren zu können. Allerdings war die Eheschließung nicht rechtmäßig, da er schon eine Frau hatte – Ruth.«

Sie sah mich an, als müsse sie sich das Lachen verbeißen, es gelang ihr jedoch, ernst zu bleiben. »In der Tat. Wie … schrecklich … mit einem Mann verheiratet zu sein, der bereits eine Frau hat. Aber das bedeutet ja, dass dein Kind von ihm ist?«

Ich schloss einen Moment lang die Augen. Am liebsten hätte ich sie in eine Ananas verwandelt, oder vielleicht auch in Fußpilz. »Ja, Gareth ist Broms Vater.«

»Ich bin sein Vater. Der andere ist nichts als ein Eindringling«, stellte Baltic klar. Er blickte auf den Wald, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Gareth ist sein biologischer Vater, aber er hat mittlerweile nichts mehr mit uns zu tun. Ich weiß noch nicht einmal, wo er sich zurzeit aufhält. Er und Ruth haben sich irgendwo niedergelassen, und dabei hat er auch alles mitgenommen, was Brom und mir gehörte. Aber das spielt keine Rolle. Baltic, wie hast du denn Dauva geschützt? Mit einer Art Zauber?«

»Mit Zaubersprüchen, Schutzzaubern und einigen Gesängen«, sagte er. Er ergriff meine Hand und führte mich einen schmalen Pfad entlang, der an uralten Bäumen voller Moos und Flechten vorbeilief.

»Gesänge?« Ich erschauderte, als ich einen Blick nach hinten warf. Thala ging hinter uns. Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und sie tippte etwas in ihr Handy ein. »Ach so, du meinst magische Gesänge. Aber … Drachen machen doch eigentlich keine schwarze Magie, und du kannst über einen Ort, der so groß ist wie Dauva, keinen Gesangszauber legen, ohne zuvor dunkle Mächte anzurufen. So etwas wird doch normalerweise nur von Fachleuten ausgeführt. Wer hat das denn für dich gemacht?«

»Ich habe das gemacht. Ich kann Tote beschwören«, erklärte Thala stolz, aber ich hörte auch einen warnenden Unterton aus ihren Worten heraus.

»Aber du bist doch ein halber Drache. Wie kannst du denn dann auch Totenbeschwörer sein? Drachen können doch mit dieser Art von schwarzer Magie gar nicht umgehen.«

»Doch, das können sie, wenn ihre Mutter ein Erzmagier ist«, sagte sie und schenkte mir erneut ein unheimliches Lächeln.

Oh, oh. Ich überdachte noch einmal meine Absicht, mich mit Thala wegen ihrer Eifersucht anzulegen. Ich wusste, dass sie als Nekromant einiges Ansehen genoss, da es keine leichte Aufgabe ist, einen Drachen wiederzuerwecken, wie sie es mit Baltic gemacht hatte. Aber wenn sie auch in der Lage war, Totengesänge auszuführen, die stärksten Zauber der schwarzen Magie, dann sollte ich besser in Zukunft ein bisschen vorsichtiger mit ihr umgehen.

Baltic schob einen Ast zur Seite, damit Thala und ich vorbeigehen konnten. »In den letzten Monaten hat Kostya bei seinen Versuchen, in meine Schatzkammer zu gelangen, die meisten Zauber zerstört, aber wir haben schon damit begonnen, neue Schutzschichten um Dauva zu legen. Er mag ja Dragonwood behalten, aber Dauva wird er niemals bekommen.«

Baltic liebte Dauva mehr als alles andere, und ganz bestimmt mehr als das Haus in England, das er extra für mich gebaut hatte. Ich wusste das, und deshalb hatte ich auch keinen Einwand geäußert, als er vor zwei Monaten verkündet hatte, dass der Wiederaufbau von Dauva für ihn mit das Wichtigste sei. Wenn wir erst einmal wieder im Reinen mit dem Weyr waren, würde es mir sicher gelingen, mit Kostya über die Rückgabe von Dragonwood zu verhandeln.

»Aber bitte keine Totengesänge mehr«, sagte ich schaudernd zu Baltic. »Das schafft ein böses Karma. Wir brauchen keine unschuldigen Opfer auf unserem …« Ich blieb stehen, weil mich ein Gedanke durchzuckte. »Unschuldige Opfer, ob er das wohl gemeint hat?«

Baltic wartete ungeduldig auf mich, während Thala schon vorausging. »Gefährtin?«

»Ich komme. Äh …« Ich hielt Baltic einen Moment lang zurück, bis Thala außer Hörweite war. »Hast du jemals gehört, dass Constantine Totengesänge auf irgendetwas angewendet hat? Er hat doch nicht versucht, Dauva mit Gesängen zu belegen, nachdem wir tot waren, oder?«

Er griff meine Hand fester. »Von dem, was passiert ist, nachdem er uns getötet hat, weiß ich nur das, was Pavel mir erzählt hat. Er sagte, Constantine wollte Dauva zerstören, damit es nicht als Monument für die schwarzen Drachen stehen blieb. Die Zauber, die ich während des Baus darumgelegt hatte, sorgten dafür, dass es nur für mich und sonst niemanden sichtbar blieb. Die Gesänge und Schutzzauber hielten die Sterblichen fern und verbargen es auch vor plündernden Drachen.«

»Hmm.«

Er warf mit einen seltsamen Blick zu, halb neugierig, halb verärgert, sagte jedoch nichts mehr, als wir tiefer in den Wald vordrangen. Um uns herum herrschte eine magische Atmosphäre. Geräusche von außen drangen nur gedämpft zu uns vor, da dieser Bereich seit Jahrhunderten von der Betriebsamkeit der Stadt abgeschnitten war. Vögel zwitscherten, kleine Tiere huschten durchs Unterholz, und von den bemoosten Baumriesen tropfte das Wasser. Es roch nach Erde und nach einer vom Menschen unbehinderten Vegetation. Mein Herz wurde leichter, als Erinnerungsfetzen in mir aufstiegen, wie Sonnenstrahlen, die durch das dichte Laub fielen. Ich holte tief Luft, genoss den Duft des Waldes, und am liebsten hätte ich vor Glück laut gelacht und wäre durch den Wald gerannt.

»Dauva«, sagte ich mit geschlossenen Augen. Ich streckte die Hände aus und griff blindlings nach etwas, was nicht mehr da war. »Es ist Dauva.«

»Ja.« Baltic ergriff meine Hand, und als ich die Augen öffnete, lächelte er mich an. Seine schwarzen Augen leuchteten vor Freude. Es war, als fielen Jahrhunderte von uns ab. »Willkommen in meinem Heim, Gefährtin.«

Lächelnd ließ ich mich von ihm vom Pferd heben. Ich blickte auf die grauen Steintürme, die bis in den Himmel zu ragen schienen. Die Zugbrücke, auf der wir standen, war nicht breit, aber lang, und führte über einen Graben, der zwei Drittel des Schlosses umgab. Er endete an einem Felsen, der gefährlich steil in den Abgrund abfiel. Das Schloss wirkte uneinnehmbar, so solide wie die Erde, auf der es stand. Die drei Türme aus hartem Granit ragten imposant empor. »Es ist wunderschön, Baltic.«

Und das war es auch, auf eine starke, beeindruckende Art. Für die schwarzen Drachen war es das Herz ihrer Sippe, ihr Fundament und ihre Seele, und als Baltic mich über die Zugbrücke in den äußeren Hof führte, wusste ich, dass es für alle Zeit als Testament der schwarzen Drachen stehen würde.

Das Licht veränderte sich, über den Himmel zogen Wolken, und es wurde dunkler, der Wind frischte auf und brachte eisige Winterkälte mit sich. Frierend rieb ich mir die Arme und blickte mich um. »Das ist wie in Dragonwood – die Vergangenheit hat sich unauslöschlich in die Gegenwart eingeprägt.«

»Ja.« Baltic betrachtete die lange schon verstorbenen Drachen, die an uns vorbeihuschten. Dahinter hockte Thala auf einem felsigen Hügel, der sich über das Bild des nächstliegenden Turms geschoben hatte. »Du siehst es bestimmt direkt vor der Zerstörung. Es war keine angenehme Zeit, Gefährtin.«

»Ich kann nichts daran ändern.« Ich trat beiseite, als eine kleine Gruppe von Männern auf die Zugbrücke zugeritten kam, die Hufe ihrer Pferde donnerten über die Holzplanken. »Warst du das?«

Baltic blickte zu den Reitern. »Nein, ich war in den unterirdischen Gängen und habe gegen Kostya und seine Männer gekämpft.«

Das Bild von Dauva wurde unscharf, und Schmerz durchzuckte mich. Ich blinzelte die Tränen weg. Der Schmerz, den Baltic damals bei der Zerstörung seines geliebten Schlosses empfunden haben musste, war wesentlich stärker gewesen.

»Es hätte nicht so enden dürfen«, sagte ich zu ihm und zog seine Hand an meine Wange. »Es hätte eigentlich für immer stehen müssen.«

»Nur Liebe bleibt ewig, chérie. Wir werden die Zeiten überdauern; alles andere ist vergänglich.«

»Für jemanden, der normalerweise als der Inbegriff des Schlechten und Bösen bei Drachen gilt, bist du mit Abstand der romantischste Mann, dem ich je begegnet bin«, sagte ich und schmiegte mich an ihn. »Ich liebe dich.«

»Ich weiß«, sagte er. Sein Feuer züngelte um uns herum, als seine Lippen über meine glitten.

Ich kniff ihn in den Hintern. Er versetzte mir einen Klaps, dann schlang er einen Arm um mich und wirbelte mich herum. Hinter dem teilweise durchsichtigen Bild des Schlosses wurde ein kleiner Hügel sichtbar, der mit bemoosten Felsen und riesigen Farnen bedeckt war. Ich betrachtete die graubraunen Felsen, und eine schwache Erinnerung stieg in mir auf. An einem der Felsen befand sich unten ein Streifen, auf dem verschiedene Heilige dargestellt waren. Thala war auf der anderen Seite des Hügels hinaufgeklettert und tauchte jetzt auf. Stirnrunzelnd trat sie gegen kleine Steine, bis sie schließlich zufrieden grunzte, sich hinhockte und mit den Händen Symbole in die Luft zeichnete.

»Der Eingang zur Schatzkammer?«, fragte ich und ging mit Baltic auf den Gipfel des kleinen Hügels.

»Ja. Kostya hat sie vor ein paar Monaten geplündert, aber Thala konnte sie bereits kurz danach neu schützen, sodass er nicht alles mitnehmen konnte, was noch da war.«

Ich blickte zu Thala, die die Zauber überprüfte, die sie am Eingang angebracht hatte. Warum kümmerte sie sich um den Schutz der Schatzkammer und nicht Baltic? »Hast du denn keine Wachen aufgestellt, nachdem du erfahren hattest, dass Kostya eingebrochen war?«

»Das war nicht nötig. Ich wusste ja, dass Thala sie schützen würde. Es gab andere Dinge, um die ich mich kümmern musste.«

»Wie zum Beispiel, May zu stehlen?«

Er presste die Lippen zusammen. »Ich wollte die silberne Gefährtin nicht. Ich wollte einfach nur das Drachenherz.«

»Warum?«

Er warf mir einen fragenden Blick zu. »Warum ich das Drachenherz wollte?«

»Ja. Nach dem, was Kaawa mir gesagt hat, wird es nur neu geformt, um es in andere Gefäße zu füllen oder es für unvorstellbare Macht, wie zum Beispiel die Übernahme des Weyr, zu gebrauchen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das jemals wolltest. Du magst ja vieles getan haben, was mir nicht gefallen hat, aber machtbesessen warst du noch nie, Baltic. Warum wolltest du also das Drachenherz?«

»Ich wollte es neu formen, um den Ersten Drachen zu rufen«, antwortete er.

»Du wolltest mit ihm sprechen?« Forschend blickte ich ihn an, aber wie immer war seine Miene undurchdringlich. Er war jetzt vor allem Drache, und seine Augen glitzerten in einem Licht, das nicht menschlich war. »Warum?«

»Immer fragst du warum, dabei steht die Antwort vor dir«, sagte er und schüttelte mit gespielter Empörung den Kopf. Er hob meine Hand und zog sie an seine Lippen.

»Es ging um mich«, sagte ich leise, als ich die Wahrheit tief in seinen geheimnisvollen Augen las. »Du wolltest den Ersten Drachen bitten, mich zurückzubringen. Deshalb hast du versucht, May zu entführen. Und den sárkány angegriffen. Du wolltest die Wyvern systematisch dazu zwingen, dir alle Scherben auszuhändigen. Deshalb hast du Fiat geholfen, nicht wahr? Aisling sagte, er habe zwei Scherben gehabt. Jetzt verstehe ich alles. Oh, Baltic, kein Wunder, dass sie dich alle für wahnsinnig gehalten haben. Es war aber auch ein verrückter Plan!«

»Das Versprechen, dich zurückzubekommen, war jedes Opfer wert«, sagte er.

»Nicht das Leben unschuldiger Drachen. Hättest du Fiat nicht davon abhalten können, seine eigenen Leute zu töten?«

Er schwieg einen Moment lang und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht. Ich glaubte nicht, dass er seine Pläne wirklich durchführen würde. Ich dachte …«

»Was?«, drängte ich.

Er zögerte. »Ich dachte, seine Pläne seien viel zu wahnsinnig, um Erfolg haben zu können. Das finde ich immer noch.«

Thala rief nach ihm und bat um seine Hilfe, weil sie einen schweren Felsbrocken wegschieben wollte. Er drückte meine Hand und kletterte zu ihr hinauf.

Ich dachte über das nach, was er nicht gesagt hatte – Fiats Pläne hatten natürlich keinen Erfolg haben können … nicht ohne Hilfe. Nur, wenn noch jemand anderer beteiligt war, wie zum Beispiel der Anführer einer Bande von gesetzlosen Drachen. Ich blickte auf meine Armbanduhr. In einer knappen Stunde war ich mit Maura in Riga verabredet.

»Ich schaue mich ein bisschen um«, rief ich Baltic zu. »Es ist faszinierend, Dauva so zu sehen, auch wenn es nicht real ist.«

»Dort draußen siehst du nur Constantines Armee.« Baltic kam heruntergeklettert und ergriff wieder meine Hand. Er führte mich an einem umgestürzten Baum vorbei zu einer Stelle, wo ein geisterhafter Turm aus dem Boden ragte. Das Licht waberte zwischen den Büschen, und von fern hörten wir die Rufe der Schlossbewohner, die sich auf die Belagerung vorbereiteten, die die meisten von ihnen nicht überleben würden. »Es dauert noch eine Weile, bis Thala den Zauberschutz aufgelöst hat. Wir gehen in die unterirdischen Gänge und schauen zu, wie ich gegen Kostya kämpfe.«

»Ich habe dich bereits sterben sehen, vielen Dank.« Ich entzog ihm meine Hand. »Ich will es nicht noch einmal sehen.«

»Das war doch nur das Ende. Wir haben fast einen Tag lang gegen die Verräter gekämpft, bevor Kostya mich niedergestreckt hat. Es wird dir gefallen, mich kämpfen zu sehen. Ich trug keine schwere Rüstung, nur einen Kürass, und es hat dir immer gefallen, mir beim Schwertkampf zuzuschauen.«

»Du warst sicher ungeheuer männlich mit einem Schwert, aber ich glaube, ich verzichte lieber darauf zu sehen, wie Kostya und du aufeinander einschlagt. Ich weiß ja, wie es ausgeht, und ehrlich gesagt möchte ich das nicht noch einmal miterleben.«

»Du kontrollierst die Vision, chérie, nicht ich.«

»Im Gegenteil, ich kontrolliere sie überhaupt nicht. Sie läuft wie ein Film vor mir ab.« Ein Gedanke kam mir. Wenn es die Schlacht um Dauva war, würde ich vielleicht sehen können, ob auch Constantine hier getötet worden war. Es wäre viel leichter, seinen Geist zu beschwören, wenn ich wusste, wo er war. »Ich schaue mich einfach nur ein bisschen um, wenn du nichts dagegen hast.«

»Wie du willst. Aber es wird dich nur unnötig aufregen, wenn du wieder siehst, wie Constantine dich niedergestreckt hat.«

»Ich habe nicht vor, mir das anzuschauen, aber ich hätte nichts dagegen zu sehen, wo er starb.«

»Das wäre in der Tat befriedigend. Du kannst die Stelle markieren, dann vollführe ich später einen Tanz darauf.«

Ich lachte. Seine Mundwinkel zuckten ebenfalls, sodass ich wusste, er neckte mich nur.

»Glaubst du etwa, ich meine es nicht ernst?«

»Nein, ich glaube, du ziehst mich auf. Du hast keinen Grund, auf Constantines Grab zu tanzen, vorausgesetzt, ich finde es überhaupt.«

»Ich habe sogar viele Gründe, aber damit will ich mich jetzt nicht aufhalten. Es beunruhigt mich eher, dass du so entschlossen bist, die Stelle zu finden.«

»Erinnerst du dich noch an meine kleine Aufgabe für den Ersten Drachen?«

Baltic verzog das Gesicht. »Du nimmst dir das zu sehr zu Herzen. Geh nicht über die Grenzen von Dauva hinaus. Hier bist du geschützt, aber draußen nicht.«

»Geschützt vor was?«, fragte ich und trat über einen umgestürzten Baumstamm, der von Moos und Pilzen überwuchert war.

»Vor Kostya. Wenn er erfährt, dass wir hier sind, greift er uns bestimmt an.«

Ich hielt das nicht für besonders wahrscheinlich, behielt aber meine Meinung für mich.

Die geisterhafte Szenerie flimmerte vor meinen Augen, sodass ich das Gefühl hatte, dass es sich eher um eine Erinnerung an die Landschaft als um eine Vision handelte. In meine Visionen tauchte ich immer viel stärker ein, während das hier eher schwache Bilder einer längst vergangenen Zeit waren. Als ich über die Zugbrücke auf die Straße zuging, die nach Riga führte, wirbelten blasse Schneeflocken um mich, während gleichzeitig die Vögel auf den Baumwipfeln saßen und zwitscherten.

»Das hier wäre alles schrecklich verwirrend, wenn es nicht so interessant wäre«, sagte ich zu den schneebedeckten Wachen vor Constantines Lager. Mitten in der dunklen Nacht wimmelte es von Männern und Pferden, überall brannten kleine Lagerfeuer, deren Flammen im Wind und im Schneegestöber tanzten. Zelte warfen dunkle Schatten an die Bäume, und der ganze Ort wirkte unheimlich.

»Na gut, Constantine. Dann wollen wir beide das jetzt mal klarmachen«, murmelte ich und machte mich auf die Suche durch das Geisterlager.

Er war nicht in dem großen Zelt, von dem ich annahm, dass es seines war. Ich kam an zwei Männern vorbei, die Französisch miteinander sprachen, und blieb stehen, als der eine sagte, er habe zwei Gefangene gemacht.

»Schwarze Drachen? Töte sie«, sagte der andere Mann mit einer abfälligen Handbewegung.

»Das sind keine Drachen«, erwiderte der erste und zog fröstelnd seinen pelzbesetzten Umhang enger um sich. »Wir haben sie erwischt, als sie um den Nordwall herumgeschlichen sind.«

»Menschen? Die brauchen wir hier nicht.«

»Menschen, aber keine sterblichen …«

Ich ging weiter. Fünfzehn Minuten später wollte ich beinahe schon aufgeben. Ich wollte gerade zum Schloss zurückkehren, als ich in den hohen Bäumen im Süden etwas Buntes aufblitzen sah. Ich stolperte über eine Schneewehe, die in Wirklichkeit ein Holunderbusch war, und kämpfte mich durch den Wald zu der Stelle durch, wo ich vor dreihundert Jahren Constantine angefleht hatte, Baltic in Frieden zu lassen, und von dem Mann erschlagen worden war, der behauptet hatte, mich zu lieben.

»Ich könnte wirklich den Rest meines Lebens gut damit auskommen, nicht mehr sehen zu müssen, wie ich getötet worden bin«, grummelte ich und schob einen Zweig zur Seite, der sich in meinen Haaren verfangen hatte. »Wenigstens muss ich nicht mehr sehen, wie Baltic … boa!«

Ein greller weißer Lichtblitz erhellte einen Moment lang den Hügel, und die Silhouette eines Mannes war im Schneegestöber zu erkennen. Als das Licht verblasste, sank der Mann zu Boden. Ich starrte einen Moment lang auf das Bild und fragte mich unwillkürlich, wie viele Menschen an diesem schicksalhaften Tag wohl getötet worden waren.

»Und wenn es der ist, für den ich ihn halte«, murmelte ich, während ich einen kleinen Abhang hinunterrutschte, »würde ich zu gerne wissen, wer dafür verantwortlich ist. Ich habe … Aua! Lass mich los, du verdammte Pflanze!« Ich riss mich von einer besonders anhänglichen Esche los und stolperte weiter. In meiner Erinnerung ging es bergauf, aber jetzt rutschte ich erneut einen moosigen Abhang hinunter, bis mein Sturz von einem Stein aufgehalten wurde. Mühsam rappelte ich mich auf und taumelte um ihn herum.

Vor mir stand auf einer Anhöhe der Erste Drache mit der gerade erst wiedererweckten Ysolde. Er redete einen Moment lang mit ihr, dann löste er sich in nichts auf. Sie nickte benommen und wandte sich zum Schloss. Langsam taumelte sie zur Zugbrücke.

»Verdammt!« Ich fuhr herum und kämpfte mich erneut durch den Wald in die Richtung, aus der ich gekommen war, wobei ich mich leicht links hielt, für den Fall, dass Constantine die Person war, die in dem Lichtblitz ums Leben gekommen war.

»Na, das beantwortet ja wohl gar nichts«, sagte ich ein paar Minuten später, als ich keuchend stehen blieb. Vor mir lag, fast schon vom Schnee zugedeckt, die Leiche des Mannes, der mich getötet hatte. Neben ihm lag ein Schwert, und der Schnee ringsherum war rot von Blut. »Erst hast du mich getötet, und dann kam einer vorbei und hat dich direkt danach getötet?«, fragte ich die Leiche von Constantine. »Warum? Weil du mich getötet hast? Und wer hatte die Macht dazu?«

Die Erinnerung an Schnee und Wind wirbelte um mich herum. Ich hockte mich hin und sah zu, wie der Körper immer tiefer im Schnee versank. Ab und zu trug der Wind schwache Stimmen heran, aber mit der Zeit wurden es immer weniger.

»Kein Wunder, dass dein Vater Hilfe sucht«, sagte ich zu dem Schneehügel, unter dem der tote Drache lag. »Du bist gestorben mit meinem Tod auf der Seele. Ich nehme nicht an, dass es ausreichen würde, wenn ich dir jetzt in aller Form vergebe?« Ich holte tief Luft. »Constantine Norka, Wyvern der silbernen Drachen, ich verzeihe dir, dass du mich getötet hast.«

Nichts geschah, aber ich erwartete auch gar nicht, dass die Forderung des Ersten Drachen so leicht zu erfüllen war. Bei Drachen ist nichts leicht. Seufzend stand ich auf und merkte mir die Stelle, damit ich Maura später hierherbringen konnte.

Am Eingang zur Schatzhöhle blieb ich stehen, um nachzuschauen, ob Thala schon Fortschritte gemacht hatte. Zu meiner Überraschung war niemand da. Ein fernes Knacken ließ mich herumfahren, aber es war wohl nur das Geräusch eines herabfallenden Astes gewesen.

»Der Außenhof ist erobert worden«, sagte ich traurig und beobachtete, wie ein Strom von Männern durch das Tor drängte. Sie stießen direkt zum Innenhof vor, weil jetzt, wo der Herr von Dauva tot unter dem Schloss lag, niemand mehr übrig war, um es zu verteidigen.

»Ich kann nicht zuschauen«, sagte ich. Mein Herz war voller Trauer.

»Dann sieh auch nicht hin.« Thala tauchte hinter mir auf. Sie würdigte mich kaum eines Blickes. Abrupt nickte sie zu der langen Reihe von Drachen hin, die direkt an uns vorbei in den Innenhof ritten. »Du solltest zurück in die Stadt fahren, wenn dich dieser Anblick zu sehr aufwühlt.«

Erneut überraschte sie mich. »Du kannst die Gestalten aus der Vergangenheit sehen?«

»Natürlich.« Sie beugte sich über ein glattes Stück Glas, das auf einem Stück Stoff aus blauem Samt lag. »Aber sie spielen keine Rolle. Nichts aus der Vergangenheit spielt eine Rolle. Du solltest dir eher über die Gegenwart Gedanken machen.«

Ich war anderer Meinung, aber ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu streiten. »Ich nehme an, Baltic hat sich zurückgezogen, um seinen eigenen Erinnerungen nachzuhängen?«

»Ich glaube schon.« Sie blickte nicht auf von ihrem Glas.

Ich zögerte. Zwar wollte ich ihre gute Stimmung nicht trüben, aber ich musste mir etwas von der Seele reden. »Ich weiß, dass du Baltic schon lange kennst, länger als ich, und dass du mich als eine Art Eindringling in eure Beziehung betrachtest, aber ich kann dir versichern, dass ich nicht versuche, dir seine Zuneigung zu stehlen. Er hat mir selbst gesagt, wie dankbar er dir ist, dass du ihn wiedererweckt hast, und ich weiß zwar, dass du ihn liebst …«

Ihr Kopf schnellte in die Höhe. Ungläubig blickte sie mich an. »Liebe? Kannst du eigentlich immer nur daran denken?«

Ich war fassungslos. »Du bist nicht in Baltic verliebt?«

»Nein.« Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder ihrem Glas zu.

»Warum warst du denn dann so eifersüchtig auf mich?«

»Ich bin nicht eifersüchtig. Eifersucht ist eine jämmerliche Gefühlsregung, von der nur niedere Wesen befallen werden.«

»Na ja, aber irgendetwas war mit dir. Du wolltest ja nicht einmal von mir gerettet werden.«

Verärgert machte sie eine abfällige Geste. »Ich war seit Monaten in einer schwierigen Lage. Ich hatte einfach keine Geduld mehr.«

Ich musste zugeben, dass auch ich wahrscheinlich ein bisschen gereizt reagiert hätte, wenn man mich monatelang gefangen gehalten hätte, deshalb nahm ich ihr das ab. »Es tut mir leid, dass ich angenommen habe, du seiest eifersüchtig auf meine Beziehung mit Baltic, aber du musst zugeben, dass du dich in der letzten Woche ziemlich feindselig mir gegenüber verhalten hast.«

»Wir standen kurz vor der Vollendung unserer Pläne, und Baltic ließ sich von dir immer wieder ablenken. Ich war mit Recht ärgerlich darüber, dass er jahrelange Anstrengungen einfach so beiseiteschob.«

»Die Pläne, Dauva wieder zu übernehmen?«, fragte ich, plötzlich misstrauisch.

»Und das Schwert meiner Mutter zurückzuholen«, antwortete Thala, ohne von ihrem Glas aufzublicken.

Ich fragte mich, ob das wirklich stimmte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte friedfertig, aber ich hatte das Gefühl, dass ihre Erklärung nicht aufrichtig klang. Achselzuckend sagte ich ihr, ich würde nach Ziema fahren, solange sie noch an der Auflösung der Schutzzauber arbeitete. Sie murmelte ein paar gleichgültige Worte.

Die Fahrt nach Ziema, offensichtlich das lettische Wort für Winter, dauerte nur fünf Minuten. Die gesamte Zeit über dachte ich darüber nach, wie wohl die Frau sein mochte, die möglicherweise die Anführerin einer Gruppe von Drachen war.

»Wenn sie es tatsächlich ist, ist sie sicher zu klug, um sich mit mir anzulegen«, sagte ich mir, als ich auf dem Bahnsteig auf Maura wartete. »Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie Baltic etwas antut.«

Sieben Minuten nach der verabredeten Zeit fuhr der Zug aus Riga ein. Die wenigen Männer, die mit Rucksack oder Aktentasche an mir vorbeikamen, beachtete ich nicht, musterte jedoch interessiert die Frauen. Die meisten von ihnen hatten Einkaufstüten dabei, und einige waren auch mit Kindern unterwegs. Ein paar Teenager schrieben kichernd SMS. Die letzte Person, die ausstieg, war eine vollbusige Frau, etwas größer als ich, mit Porzellanhaut und dunkelbraunen Haaren, die ihr bis zur Taille reichten. Sie glänzten in der Sonne, als sie auf dem Bahnsteig stehen blieb und sich neugierig umschaute.

Ich stand auf. »Maura?«

Sie wandte sich zu mir mit einem halben Lächeln. »Ja. Du musst Ysolde sein. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen.«

Sie reichte mir nicht die Hand, aber ich wusste, dass viele in der Anderwelt es vorzogen, nicht berührt zu werden, da die meisten Gedanken lesen konnten.

»Ich weiß nicht, ob es eine Ehre ist, mich kennenzulernen, aber danke.« Wir musterten uns gegenseitig. Ihre Augen waren hellbraun mit goldenen und schwarzen Sprenkeln und seltsamen kleinen roten Funken, die auf ihren Drachenvater hinwiesen. Sie war sehr hellhäutig, und über Nase und Wangen hatte sie ein paar Sommersprossen. Sie sah aus wie Anfang dreißig, war ein bisschen pummelig und wirkte überhaupt nicht wie jemand, der Geister beschwören kann.

Sie lachte, und einen Moment lang glaubte ich, sie habe meine Gedanken gelesen. »Ich sehe nicht so aus, wie du es dir vorgestellt hast, oder?«

»Entschuldigung.« Meine Wangen röteten sich. »Habe ich dich angestarrt? Ich wollte nicht unhöflich sein, aber irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass jemand, der Geister beschwört … na ja …«

»Düsterer aussieht?«, fragte sie lachend. »Dunkel, furchterregend und geheimnisvoll? Auf jeden Fall nicht wie Lieschen Müller, oder? Das ist der Fluch meiner mütterlichen Gene. Ich komme nach meiner Großmutter. Nanna war aus Skandinavien und so breit wie hoch. Aber ich kann dir versichern, dass ich trotz meiner äußeren Erscheinung eine voll ausgebildete Geisterbeschwörerin bin. Und da wir gerade davon reden, ich möchte dich natürlich nicht drängen, aber wir sollten besser anfangen, wenn wir Constantine Norka vor Einbruch der Nacht lokalisieren wollen. Hast du ein Auto?«

»Ja. Zur Ruine von Dauva ist es nicht weit.«

»Oh, gut. Kann ich zuerst mein Gepäck beim Hotel vorbeibringen?«

»Ja, natürlich.«

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis wir beim Hotel vorbeigefahren waren und sie sich umgezogen und die Dinge eingepackt hatte, die sie brauchte, um einen Beschwörungskreis zu ziehen. Ich blickte nervös auf die Uhr. Thala würde bestimmt bald den Schutzzauber gelöst und die Schatzkammer geöffnet haben, und dann würde Baltic nach mir suchen.

»Und bist du alleine hier?«, fragte Maura, als wir endlich auf dem Weg in den Wald waren. Zwischen unseren Sitzen stand ihr Rucksack mit den Gegenständen, die sie zur Beschwörung benötigte. »Oder ist dein Gefährte auch hier?«

»Nein«, log ich. Mir war zwar unbehaglich dabei zumute, aber ich wollte Baltic nicht irgendwelchen Gefahren aussetzen. »Aber ich bin nicht allein. Sein Stellvertreter ist bei mir.«

»Ah. Er hat vermutlich auch keine Ahnung, wo wir nach Constantines Geist suchen sollen?«

»Es ist eine Frau. Nein, ich glaube nicht, dass sie es weiß, aber das spielt keine Rolle, weil ich die Stelle gefunden habe, wo er erschlagen wurde.«

»Fein. Das erleichtert uns die Arbeit«, sagte sie mit einer Selbstsicherheit, die ich sehr beruhigend fand.

Als ich am Eingang zum Wald von der Straße abbog, fand ich, dass jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen war, um vorsichtig nach den Ouroboros-Drachen zu fragen. »Und … wie lange machst du das schon?«

Sie folgte mir in den Wald. »Etwa acht Jahre. Als Geisterbeschwörer wird man geboren, deshalb hatte ich nicht wirklich eine andere Wahl, wenn du weißt, was ich meine. Meine Mutter hat mein Talent entdeckt, und sie schickte mich dann zu einer richtigen Ausbildung.«

»Ah. Hast du denn mit der Familie deines Vaters gar nichts zu tun?«

»Nein.« Sie warf mir einen neugierigen Blick zu. »Wie ich schon sagte. Er wurde vom Wyvern getötet, nachdem sie ihn aus der Sippe geworfen hatten, deshalb habe ich nicht das Gefühl, den roten Drachen etwas zu schulden.«

Das war eine vielsagende Äußerung, aber ich konnte sie trotzdem gut verstehen.

»Dann bist du also theoretisch ouroboros. Wir auch. Ich mag es nicht besonders, dass wir vom Weyr getrennt sind. Ich fühle mich so … isoliert.«

»Aber Baltic hat doch eine neue Sippe, oder nicht?«, fragte sie, als wir um einen kleinen Teich mit schlammigem, schwarzem Wasser gingen.

Ich fragte mich, woher sie das wusste, wenn sie doch angeblich keinen Kontakt mit Drachen hatte. »Ja, aber wir gehören nicht zum Weyr.«

»Nun, das ist doch sowieso alles gleich, oder?« Sie machte eine abfällige Geste. »Seine Familie kann man sich zwar nicht aussuchen, aber wenigstens seine Freunde – so sehe ich das. Deshalb sorge ich lieber dafür, dass ich gute Freunde habe.«

»Andere Drachen, meinst du?«

Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Ich bin ouroboros, wie du eben ganz richtig bemerkt hast. Die roten Drachen wollen nichts mit mir zu tun haben.«

»Aber andere Ouroboros-Drachen doch bestimmt«, sagte ich so mitfühlend, wie ich konnte, obwohl mir nicht danach zumute war.

Sie blieb stehen und musterte mich mit einem Anflug von Feindseligkeit. »Ich habe das Gefühl, du hast etwas auf dem Herzen, willst aber nicht mit der Sprache heraus. Worum genau handelt es sich, Ysolde?«

»Ich verstehe gut, wie es ist, sich ausgestoßen und fern von allem, was man liebt, zu fühlen.« Ich wählte meine Worte mit äußerster Sorgfalt. »Ich weiß, wie schwer es ist, isoliert zu leben, und wie viel es bedeutet, Anschluss an eine Gruppe zu finden, bei der man sich aufgehoben fühlt. Ich weiß auch, wie es ist, wenn alles über einem zusammenschlägt, wenn man dabei ist zu ertrinken, ohne dass ein Lebensretter in Sicht ist. Ich will dir nur sagen, Maura, dass du nicht allein bist.«

Sie stand bewegungslos da und blickte mich forschend an. Plötzlich gab sie einen gereizten Laut von sich. »Es ist Emile, nicht wahr?«

»Emile?«

»Mein Großvater.« Energisch schulterte sie ihren Rucksack erneut und ging mit zusammengepressten Lippen weiter. »Er quält mich schon seit mindestens zehn Jahren, mich endlich niederzulassen, wie er es nennt, und jetzt hat er auch noch dich eingeschaltet. Ich fasse es nicht! Warum begreift er nicht, dass ich nicht so ein Leben führen kann, wie er es gerne hätte? Ich bin eine eigenständige Person, nicht eine Verlängerung von ihm!«

Ich beeilte mich, um mit ihr Schritt zu halten. »Es tut mir leid, wenn du das als zudringlich empfindest, aber deine Mutter und dein Großvater machen sich große Sorgen um dich.«

»Hast du mich deshalb hierheraus gelockt?«, fragte sie und blickte mich böse an. »Nur damit du mich überreden kannst, wieder nach Hause zurückzukehren?«

»Nein, keineswegs.« Ich wollte lieber nicht daran denken, dass das sehr wohl der Grund gewesen war. »Ich möchte wirklich, dass du Constantines Geist beschwörst. Ich muss über etwas Wichtiges mit ihm reden.«

Sie blickte mich einen Moment lang forschend an, dann nickte sie. »In Ordnung. Aber mein Privatleben ist tabu.«

Ich blieb kurz stehen und sah ihr hinterher, als sie weiter in den Wald ging. Ich war nicht so naiv, mich von ihrem Ablenkungsmanöver täuschen zu lassen, aber es war wohl das Beste, das Thema ruhen zu lassen, bis sie Constantines Geist beschworen hatte.

Ich blickte auf die Uhr, als wir die verschlungenen Wege entlanggingen. Hoffentlich brauchte Baltic volle zwei Stunden, um in die Schatzkammer zu gelangen. »Wie lange dauert die Beschwörung?«

»Das hängt vom Geist ab. Manche sind direkt da und können gleich gerufen werden; andere muss man erst eine Zeitlang anlocken. Sagen wir, großzügig gerechnet, eine Stunde.«

»Ah.« Ich zog mein Handy heraus. »Ich will nur rasch … äh … Thala Bescheid sagen, dass ich ein bisschen später komme.«

Maura erwiderte nichts darauf und ging einfach weiter in die Richtung, die ich ihr anzeigte. Ich folgte ihr langsam, damit der Abstand zwischen uns ein bisschen größer wurde.

»Ja«, sagte Baltic knapp, als er den Anruf entgegennahm.

»Hallo, ich bin’s. Wie läuft es mit der Öffnung der Schatzkammer?«

»Gut, denke ich. Ich beobachte gerade, wie Kostyas Männer von silbernen Drachen niedergemacht werden.«

Stirnrunzelnd blieb ich stehen. »Das ist doch grauslich, findest du nicht?«

»Nein, keineswegs. Ich möchte sehen, was Constantine getan hat, um Dauva einzunehmen, deshalb bleibe ich hier, wo die silbernen Drachen gegen Kostyas Armee kämpfen. Thala sagt mir schon Bescheid, wenn die Schatzkammer geöffnet ist. Wo bist du? Du wolltest doch sehen, was von Dauva und der Schatzkammer übrig geblieben ist.«

»Ja, das will ich auch, ich muss mich aber vorher noch um etwas anderes kümmern«, sagte ich leise. Maura gab nicht zu erkennen, dass sie von meinem Gespräch etwas mitbekam, aber ich wusste, dass Drachen ein außergewöhnlich gutes Gehör haben.

»Was denn? Hat es etwas mit Kostich zu tun?«

»Ja, so in der Art. Ich habe dir doch erzählt, dass ich herausfinden wollte, wo Constantine erschlagen wurde, damit ich seinen Geist beschwören lassen kann.«

»Und ich habe dir gesagt, dass das Wahnsinn ist. Selbst wenn du den Ort findest, so kann er dir doch nichts sagen, was dir nützen könnte. Kehre sofort zu mir zurück, Gefährtin!«

»Ja, das tue ich, sobald ich das hier erledigt habe.«

»Ysolde …«

»Es dauert höchstens eine Stunde, und dann komme ich zurück und sehe mir an, was ihr für Fortschritte gemacht habt. Tschüss.«

Zwanzig Minuten später gelangten Maura und ich an die Stelle, wo ich früher Constantine hatte niedersinken sehen. Die Erinnerung an das Schneegestöber lag immer noch unheimlich in der Luft, aber sie war jetzt kaum noch zu sehen. Maura hockte sich hin und holte ein paar Gegenstände aus ihrem Rucksack, die sie ordentlich vor sich hinlegte. Dann zeichnete sie über ihrer linken Hand und ihrem rechten Auge einen Schutzzauber. Mühsam zog sie mit einem Stück Kreide einen Kreis in die feuchte Erde.

»Funktioniert das?«, fragte ich, während ich interessiert zusah. »Das mit der Kreide, meine ich. Mit Kreide kann man eigentlich nicht auf Erde malen, und dann sind auch noch überall Steine und so im Weg.«

»Es hinterlässt keine sichtbare Spur auf dem Boden, aber man muss den Kreis nicht sehen, um zu wissen, dass er da ist. Solange ich ihn zeichne, ist er wirksam.« Sie sprenkelte graue Asche über den Kreis, schloss die Augen und murmelte leise vor sich hin. Nach ein paar Minuten hörte sie auf, schüttelte den Kopf und blickte mich an. »Nichts. Bist du sicher, dass das die Stelle ist?«

»Absolut sicher.«

»Ich kann es gerne noch einmal versuchen, aber ich spüre noch nicht einmal das kleinste Beben.«

»Ja, ich wäre dir dankbar, wenn du es noch einmal versuchst.« Ich blickte auf den schneebedeckten Hügel, unter dem Constantines Leiche lag.

Sie verrieb den Kreis und zog einen neuen mit Kreide und Asche. Dabei sagte sie: »Heilig sei der Kreis, heilig sei der Ort; tritt herein. Hier zeichne ich den ersten Kreis des Geistes; möge er sein Licht auf dich scheinen lassen. Hier zeichne ich den zweiten Kreis des Geistes; möge er dein Wesen binden. Hier zeichne ich den dritten Kreis des Geistes; möge er meiner Hand, meinem Herzen und meiner Seele die bringen, die bleiben.«

Ich wartete, aber nichts geschah.

»Es tut mir leid«, sagte sie und verrieb den Kreis wieder. »Aber da ist einfach nichts. Ich frage mich, ob meine Asche wohl das Problem ist. Es ist eine alte Flasche, über ein Jahr alt, und vielleicht ist sie nicht mehr wirksam. Ich habe frische Asche im Hotel, die ich gerade erst vor einer Woche gemacht habe. Wir könnten schnell dorthin fahren und es noch einmal versuchen, wenn du willst.«

Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass Baltic sicher bald wissen wollte, wo ich war. »Warum versuchen wir es nicht noch einmal? Aller guten Dinge sind drei, und so.«

Ihr Blick sagte mir, dass sie zwar nicht allzu viel davon hielt, aber sie murmelte nur: »Du bist der Boss.« Dann zog sie einen weiteren Kreis.

Dieses Mal beobachtete ich sie genau, und ich stellte fest, dass der Kreis zwar vollständig aussah, sich wegen ein paar Zweigen aber nicht richtig schließen konnte.

»Warte, ich räume das hier mal weg«, sagte ich. Ich kniete mich hin und schob Laub, Zweige und kleine Steine beiseite. »Ich glaube, der Boden hier ist so uneben, dass dein Kreis sich nicht richtig schließen kann. Versuch es jetzt noch einmal.«

Sie warf mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu, beugte sich aber gehorsam erneut über den Boden. Wie sie gesagt hatte, konnte man natürlich mit der Kreide nicht auf der Erde malen, aber jetzt waren wenigstens die Umrisse des Kreises zu erkennen.

»Er ist nicht ganz geschlossen«, sagte ich, als sie zur Asche griff.

»Doch, das ist er«, sagte sie und verstreute die Asche.

Lächelnd ergriff ich die Kreide und korrigierte ihren Kreis. »So. Jetzt ist er geschlossen.«

»Bitte lass die Finger von meiner Ausrüstung«, sagte sie streng und riss mir die Kreide aus der Hand.

»Entschuldigung. Ich wollte nur, dass dieses Mal alles klappt.«

»Ich kann dir versichern, dass ich das auch möchte, deshalb habe ich ja vorgeschlagen, zurück ins Hotel zu fahren, um frische Asche zu holen.«

Ich lächelte ihr ermunternd zu. Seufzend sprach sie die Beschwörungsformel noch einmal.

Dieses Mal war sofort ein Unterschied zu spüren. Hoffnung erwachte in mir, als die Luft über dem Kreis zu flimmern begann, als ob sich winzige Lichtteilchen miteinander verbinden würden. Das Flimmern breitete sich immer mehr aus und formte sich schließlich zur Gestalt eines Mannes.

Eines vertrauten Mannes.

Ich erhob mich langsam. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Constantine Norka starrte mich schockiert und überrascht an. Er öffnete seinen Mund, um zu sprechen, und gestikulierte wild mit den Händen in der Luft herum, aber man hörte seine Stimme nicht.

»Du hast es geschafft!«, keuchte ich und starrte staunend auf Constantines Geist. »Das ist wirklich großartig. Aber warum können wir ihn nicht hören?«

»Er ist nicht geerdet«, sagte sie. Zu meiner Verwunderung klang ihre Stimme gereizt.

Seufzend machte sie ein paar Handbewegungen, die aussahen wie rückwärtsgerichtete Schutzzauber. Der durchsichtige Geist wurde langsam fester.

»Constantine?«, fragte ich.

»Ysolde!« Er hob seine Hände, die immer noch in Ledergamaschen steckten, und blickte sie verwundert an. »Ich war tot. Ich weiß, dass ich tot war. Und jetzt bin ich es nicht mehr? Hast du mich wiedererwecken lassen? Diese Frau sieht gar nicht aus wie ein Nekromant.«

»Das bin ich auch nicht«, erwiderte Maura und sammelte ihre Gerätschaften ein. »Ich habe deinen Schatten gerufen, nicht dein körperliches Ich.«

»Einen Schatten?« Er blickte auf seine Brust hinunter und berührte seinen Bauch. »Ich fühle mich aber real.«

»Das liegt daran, dass du im Moment in körperlicher Gestalt bist. Wenn deine Energie zurückgeht, verblasst du wieder zu einer nicht substanziellen Gestalt.« Maura wandte sich zu mir. Ihre Miene war angespannt. Ich verstand nicht, warum es sie offensichtlich so traurig machte, dass ihre Mission ein Erfolg gewesen war. »Ich kann dich leider nicht an ihn binden. Das ist das Problem mit Drachengeistern – sie kommen als Schatten zurück, und man kann sie nur mit viel Mühe binden. Er kann sich jedoch mehr oder weniger frei bewegen. Wenn er dazu bereit ist, kann ich ihn auch erlösen.«

»Ich bin nicht tot?« Er zog sein Schwert aus der Scheide, die immer noch um seine Hüfte gegürtet war, und stach auf einen Farn ein. »Nein, ich bin nicht tot. Ich lebe.«

»Nein, du bist ein Schatten«, wiederholte Maura. »Lasst uns ins Hotel fahren, dann kann ich euch beiden das Wesen des Schattenreichs erklären.«

Er köpfte den Farn und schob mit zufriedener Miene das Schwert wieder in die Scheide. Constantine war ein gut aussehender Mann, etwas größer als ich, muskulös, mit goldbraunen Haaren und Augen, die nur einen Ton dunkler waren. »Du hast mich gerettet, Geliebte. Du bist wahrhaft meine Gefährtin. Die Geisterbeschwörerin irrt sich – ich bin an dich gebunden, Ysolde. Ich bin an dich gebunden bis ans Ende aller Zeiten.«