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»Hiermit erkläre ich die Gründungssitzung der Gefährtinnen-Union für eröffnet. Jim, musst du unbedingt mit offenem Mund kauen? Du verdirbst allen den Appetit. Danke. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, es wird offiziell festgehalten, dass wir alle anwesend sind außer Cyrene, die sich in Griechenland in einem Spa für Wasserwesen aufhält. Auf der Tagesordnung heute stehen die Forderung des Ersten Drachen an Ysolde, eine Aufgabe für ihn zu erfüllen, der Krieg des Weyr gegen die Lichtdrachen, und … Jim, Gott helfe mir, wenn du weiter Speichelbläschen durch den Strohhalm pustest, dann nehme ich dir den Milchshake weg.«

»Ich wollte nur ein Speichelporträt von Cecile an die Wand blasen«, protestierte Jim aufgebracht und riss die Augen in dem vergeblichen Versuch auf, unschuldig dreinzublicken. »Bastian hat gesagt, wir sollten uns wie zu Hause fühlen, und genau das mache ich.«

Aislings finsterer Blick wanderte von dem Dämon zur Wand gegenüber unserer Sitznische. Der Pub, hatte May mir erzählt, gehörte dem Wyvern der blauen Drachen und war eins von Mays und Aislings Lieblingslokalen.

»Wisch es sofort ab, sonst bekommst du keinen Hamburger zum Mittagessen«, drohte Aisling dem Dämon an und reichte ihm eine Serviette. »Ja, das ist ein Befehl.«

»Mann, seit du Nachwuchs hast, bist du die reinste Oberkommandora«, beschwerte sich Jim. Aber er nahm gehorsam die Serviette ins Maul.

»Hoffentlich kann ich deine Babys eines Tages einmal sehen«, sagte ich ein bisschen traurig, da ich kleine Kinder liebte.

Aisling verzog das Gesicht. »Ich würde sie euch ja schrecklich gerne zeigen, aber Drake reagiert regelrecht allergisch darauf, dass Baltic und du zu Besuch kommt. Ich weiß ja, dass alle Mütter so denken, aber sie sind wirklich entzückend, auch wenn niemand ihre Namen aussprechen kann.«

»Wie heißen sie denn?«, fragte ich.

»Ilona und Iarlaith.«

»Wie buchstabiert man das?«

May lachte.

»Das sind sehr schöne Namen, Aisling, aber ich kann verstehen, warum niemand sie aussprechen kann. Ich bin sicher, dass Brom eines Tages verkündet, er hasse seinen Namen, obwohl es ein ganz gewöhnlicher Name ist.«

»Äh …« Aisling und May wechselten einen Blick. »Die Zwillinge werden mir und Drake eines Tages sicher auch Ärger machen wegen ihrer Namen, aber im Moment sind sie einfach nur zwei süße kleine Bündel. Ich habe Fotos auf meinem Handy … oh, tut mir leid. Wir haben uns doch eigentlich aus einem anderen Grund getroffen, oder? Also, zuerst das Geschäft und dann die Babybilder.«

Ich blickte mich nervös um. »Seid ihr sicher, dass es für mich okay ist, hier zu sein? Den Drachen würde es bestimmt nicht gefallen, dass ich hier bin. Vor allem den blauen nicht.«

»Das habe ich mit Bastian vorher geklärt. Er sagte, dass wir den Pub eine Stunde vor der regulären Öffnungszeit für uns haben könnten, dann würde niemand dich angreifen. Er ist übrigens ein wirklich netter Kerl, auch wenn er Baltic die Nase gebrochen hat.«

»Er denkt aber trotzdem immer noch, dass Baltic die Drachen getötet hat«, wandte ich ein.

»Möglicherweise.« Aisling zuckte mit den Schultern. »Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich meine, Fiat ist gemein genug für zwei, und dass Fiat etwas damit zu tun hatte, weiß er ja, aber wenn du sagst, dass Baltic nicht … na ja, das ist ja auch ein Punkt auf unserer Tagesordnung. Darauf kommen wir später noch. Im Moment brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen zu machen – hier bist du sicher.«

May blickte mich nachdenklich an. »Wie hast du es eigentlich geschafft, dass Baltic dich heute hat herkommen lassen? Ich habe gedacht, es bringt ihn schon an die Grenzen seiner Toleranz, dass Brom uns besucht.«

»Oh, das ist auch so, aber er hat wohl gemeint, dass mir nicht allzu viel Gefahr von außen droht, wenn ich mit euch zusammen bin.«

»Drake würde dir nie etwas zuleide tun«, sagte Aisling leicht pikiert.

»Gabriel auch nicht.«

»Das weiß ich doch, aber Baltic … na ja, ihr müsst berücksichtigen, was er alles durchgemacht hat. Mein Tod, sein Tod, seine Wiederauferstehung … das hat alles Narben hinterlassen, und es wird wohl seine Zeit dauern, bis er endlich begreift, dass niemand mich ihm wieder wegnehmen will.«

»Weißt du«, sagte Aisling, »als ich Baltic zum ersten Mal begegnet bin, hielt ich ihn für einen Irren. Aber ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sein muss weiterzuleben, wenn dein Gefährte gestorben ist. Der Schmerz, den er empfunden haben muss … das entschuldigt zwar nicht seine Handlungsweise, aber ich kann die Gründe dafür verstehen.«

»Es gibt gewiss keine Entschuldigung dafür, dass er bei einem sárkány auf euch alle geschossen hat«, antwortete ich schniefend. »Aber ich bin froh, dass ihr mir wenigstens glaubt, dass er die blauen Drachen nicht getötet hat.«

»Irgendjemand muss es getan haben«, meinte May. »Fiat wird nichts sagen, aber so gut wie jeder ist der Meinung, dass es schon allein körperlich für ihn unmöglich war, alle Drachen zu töten. Er muss Hilfe gehabt haben – nur, wer hat ihm geholfen?«

»Ich weiß nicht, aber ich bin entschlossen, es herauszufinden. Ich will, dass dieser blöde Krieg endlich ein Ende nimmt. Ich will euch zu mir nach Hause zum Essen einladen können.«

»Essen? Oh, ich bin dabei«, sagte Jim. »Kann ich dich besuchen?«

»Jim!«, schalt Aisling ihn. »Man fragt Leute nicht, ob man sie besuchen kann. Man wartet, bis man eingeladen wird. Außerdem gehe ich im Moment sowieso nicht weg. Es besteht also kein Grund, warum du zu Ysolde solltest. Und falls ich doch verreisen muss, würde May dich bestimmt gerne aufnehmen.«

»Natürlich«, sagte May, obwohl sie nicht gerade begeistert wirkte.

»May weiß, dass ich sie liebe, nicht wahr, May? Aber bei Soldy ist das Essen besser, und außerdem ist es immer spaßig, Baltic dabei zuzusehen, wenn er ausrastet.«

»Du wirst dich auf keinen Fall selbst bei Ysolde einladen. Sie hat im Moment genug Ärger. Apropos, wir wollten doch über deine letzte Vision sprechen. May hat gesagt, etwas sei anders gewesen.«

»Oh, Klatsch und Tratsch«, sagte Jim interessiert. »Erzähl.«

Als ich mit meinem Bericht über die Vision fertig war, kam unser Essen.

»Nun«, sagte Aisling und griff zur Gabel, um sich ihrer Schweinelende mit karamellisierten Zwiebeln zu widmen, »das hört sich wirklich anders an.«

»Der Erste Drache möchte offensichtlich, dass ich irgendetwas mache, das mit Constantine zu tun hat, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was«, sagte ich und bewunderte den gebratenen Lachs und den Salat aus neuen Kartoffeln auf meinem Teller.

»Keine Fritten?« Jim blickte von seinem Mammut-Hamburger auf. »Wie soll ich denn einen Burger ohne Fritten essen?«

»Viel zu viel Fett«, erwiderte Aisling mit einem vielsagenden Blick auf seinen Bauch.

»Ich bin schließlich nicht derjenige, der zu Drake gesagt hat, er müsse immer noch seinen Babyspeck verlieren«, antwortete Jim.

»Möchtest du den Hamburger essen oder verzichtest du lieber?«, fragte Aisling mit süßlicher Stimme.

»Aaah! Ihr seid Zeugen! Dämonenfürsten-Alarm von der stinkigen Sorte!« Jim machte sich über seinen Hamburger her.

»Was deine Situation angeht, Ysolde«, fuhr Aisling fort, »weiß ich auch nicht weiter. Es sei denn, die Vision bedeutete, dass Antonia von Endres Constantine getötet hat und du seinen Tod rächen sollst.«

»Aber hat Antonia denn Constantine tatsächlich getötet?«, fragte May. »Gabriel hat lediglich gesagt, er sei um die Zeit verschwunden, als Kostya Baltic getötet hat. Und das war genau der Zeitpunkt, als Ysolde starb, wie wir wissen.«

Wir schwiegen einen Moment lang. Ich wusste, dass sie das gleiche Bild vor sich sahen wie ich – meinen Körper, der leblos im Schnee lag, und einen Mann mit einem blutverschmierten Schwert.

»Er hat mich getötet, warum soll ich dann seinen Tod rächen?«, fragte ich.

»Das kommt mir auch merkwürdig vor«, stimmte May mir zu. Sie aß gegrillten Thunfisch mit einem Salat aus Zuckererbsen und Koriander. »Aber mir fällt auch nichts anderes ein.«

»Es ist alles so vage«, sagte ich. »Ich wünschte, ich wüsste genau, was ich tun muss.«

»Du kannst den Ersten Drachen doch fragen«, sagte Jim mit vollem Mund.

Wir starrten den Dämon an.

»Was?«, fragte ich entgeistert.

»Immer wenn ich denke, dass du mir nur geschickt worden bist, um mich heimzusuchen, hast du einen genialen Geistesblitz!« Aisling umarmte ihren Dämon.

»Bedeutet das, dass ich jetzt doch Fritten haben kann?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Nein.«

»Ja, natürlich«, sagte May nachdenklich und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Ysolde kann ihn ja rufen. Wir können ihn fragen, was sie für ihn tun soll.«

»Wir könnten …« Ich überlegte. Aus irgendeinem Grund zögerte ich noch, den Vorfahren aller Drachen heraufzubeschwören, aber hatte ich eine andere Wahl?

»Sie kann ihn nicht heraufbeschwören, solange ihre Magie noch nicht funktioniert. Ich nehme nicht an, dass Dr. Kostich das Verbot aufgehoben hat, oder, Ysolde?«

»Nein. Ich habe ihm geschrieben, dass er ja wenigstens das Verbot aufheben und mich wieder in die Gilde aufnehmen könne, wo er Baltic schon das Magierschwert abgeluchst hat, aber er hat mir nur eine Rechnung über die siebenunddreißig Jahre Ausbildung geschickt, die ich als sein Lehrling bei ihm hatte. Ich glaube, ich sollte das Thema besser fallenlassen.«

»Er ist so ein Arschloch«, sagte Aisling.

»Ein Riesenarschloch«, stimmte May ihr zu.

»Ich möchte den Ersten Drachen nicht rufen, bevor ich nicht mit Sicherheit weiß, dass ich es auch kann. Ich habe es ja noch nie versucht, aber ich sehe auch keine andere Möglichkeit, wie ich erfahren könnte, was ich tun soll.« Nachdenklich trank ich einen Schluck Zitronenwasser, dann fügte ich hinzu: »Ich mache es heute Abend. Baltic will nach Burleigh House gehen, um sich den Plan anzuschauen, den Pavel ausgearbeitet hat. Dann ist er mir wenigstens nicht im Weg, wenn ich den Ersten Drachen heraufbeschwöre.«

May und Aisling schauten mich überrascht an. »Du weißt über Burleigh Bescheid?«, fragte Aisling.

»Über Drakes Haus auf dem Land in Sussex? Natürlich.«

»Zum Teufel. Das sollte doch vor euch geheim bleiben. Ich werde Drake erzählen müssen, dass Baltic weiß, wo Thala gefangen gehalten wird.«

»Apropos Thala …« Ich biss mir auf die Lippe. »Ihr beiden wollt mir wahrscheinlich nicht helfen, sie dort herauszuholen?«

Jim räusperte sich laut.

»Oh, Entschuldigung – ihr drei. Und Cyrene natürlich auch, vorausgesetzt, sie ist bis dahin aus ihrem Wasser-Spa zurück.«

»Wir sollen dir helfen, die Gefangene des Weyr zu befreien?« Die Vorstellung schien Aisling zu verblüffen.

»Ja.«

May und Aisling wechselten einen Blick. »Warte mal, ich möchte sichergehen, dass wir auch von derselben Sache reden. Wir sollen mit dir die Frau befreien, die Baltic an dem Tag, als ich die Zwillinge bekommen habe, geholfen hat, unser Haus anzugreifen?«

»Mir ist klar, dass sie in eurer Gunst nicht gerade oben steht, aber ja, ich wäre dankbar für eure Hilfe. Nein, um genau zu sein, ich brauche eure Hilfe.«

»Warum?«, fragte May.

»Warum ich eure Hilfe brauche?«

»Nein, warum willst du, dass sie freikommt?«

»Oh, na ja, aus mehreren Gründen«, sagte ich. Ich legte meine Gabel beiseite und beugte mich vor. »Vor allem aber möchte Baltic sie aus dem Gefängnis herausholen, und wenn wir das nicht auf friedliche Weise schaffen, dann wird er zum Angriff übergehen. Ich glaube nicht, dass jemand Wert darauf legt, dass noch mehr Drachen sterben – also, ich jedenfalls nicht.«

»Aber sie ist Baltics Stellvertreterin«, protestierte May. »Sie wollten uns gemeinsam vernichten.«

»Ja, aber das hat sich doch alles geändert.« Mit einer Handbewegung wischte ich die Einwände vom Tisch. »Jetzt ist doch alles anders. Und außerdem ist sie Antonia von Endres’ Tochter. Das könnte ja für die Aufgabe des Ersten Drachens auch von Bedeutung sein.«

»Ja, das ist möglich«, sagte Aisling nachdenklich.

May kaute einen Moment lang auf ihrer Unterlippe. »Gabriel würde bestimmt wütend werden, wenn er wüsste, dass ich dabei helfe, die Gefangene des Weyr zu befreien.«

»Drake würde nicht nur wütend werden«, warf Aisling mit schiefem Lächeln ein, »er würde durch die Decke gehen. Schließlich war es unser Haus, das Baltic mit Thala zerstören wollte. Darüber ist Drake immer noch nicht hinweg.«

»Na ja, ich habe gehofft, dass ihr nichts davon erzählt.«

May und Aisling sahen sich an.

»Das geht eigentlich nicht«, sagte May langsam, ein amüsiertes Funkeln in den blauen Augen. »Aber ich glaube, wir könnten einen Deal vorschlagen.«

»Was für einen Deal?«, fragte ich misstrauisch.

»Drachen lieben Deals«, erklärte Aisling. »Du würdest nicht glauben, was Drake alles für einen schönen Deal macht.«

»Ach, wie das eine Mal, als er dich durch das Haus gejagt hat, und du hattest nichts als einen goldenen Keuschheitsgürtel an?«, fragte Jim kichernd.

»Es war ein mittelalterlicher Gürtel, kein Keuschheitsgürtel, und von jetzt an werde ich nachts deine Zimmertür abschließen.«

»Du bist gemein! Ich wette, Soldy würde mich nie in meinem Zimmer einsperren, nur damit sie und Baltic ungestört einen flotten Dreier mit Pavel durchziehen können.«

»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen flotten Dreier, ob nun mit Pavel oder ohne«, sagte ich zu dem Dämon und setzte seine Serviette in Brand.

»Okay, okay! Du brauchst ja nicht gleich so heftig zu reagieren! Du hast beinahe meine Salatgarnitur angekokelt!«

Während Jim weiter an seinen Salatblättern kaute, fragte ich die beiden Frauen, die mir gegenübersaßen: »Und, was für einen Deal wollt ihr euren Männern vorschlagen?«

»Du willst doch Thala befreien«, sagte May.

»Ja.«

»Und du bist Baltics Gefährtin.«

»Jaaa«, erwiderte ich gedehnt.

»Und du willst doch, dass wir dir dabei helfen, sie zu befreien.«

»Habe ich irgendwas verpasst?«, fragte ich. »Ich verstehe nicht …«

»Ich bin ein Silberdrache«, erklärte May. »Und was haben Silberdrachen mit Baltic zu tun?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht … Oh! Der Fluch!«

»Genau.« Aisling nickte. »Wir wollten dich dabei sowieso um deine Unterstützung bitten, aber dies ist die perfekte Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. May und ich helfen dir, Thala zu befreien, und im Gegenzug hebt Baltic den Fluch auf, mit dem er die Silberdrachen belegt hat, als du gestorben bist.« Sie schwieg kurz. »Jetzt, wo du wieder am Leben bist, sollte er den silbernen Drachen ruhig Gefährtinnen gönnen.«

»Ja, das sollte man meinen«, sagte ich seufzend. »Aber er pflegt seinen Groll. Weil ein silberner Drache mich getötet hat, findet er es nur richtig, dass keiner von ihnen jemals eine eigens für sie geborene Gefährtin haben sollte.«

»Drachen können manchmal so stur sein«, stimmte Aisling mir zu. »Wo waren wir stehen geblieben? Wenn du Baltic dazu bekommst, den Fluch aufzuheben, dann können Drake und Gabriel nicht sauer sein, wenn sie herausfinden, was wir getan haben, weil es den Fluch ja nicht mehr gibt. So eine Art ›Eine Hand wäscht die andere‹, nur eben mit Drachenklauen.«

»Ich habe ihn schon ein paarmal gebeten, den Fluch aufzuheben, aber er will nichts davon hören«, sagte ich. »Ich kann es euch also nicht versprechen. Ich kann nur schwören, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, ihn dazu zu bringen.«

»Der Fluch muss aufgehoben werden«, sagte May warnend.

»Ich weiß, und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit das geschieht, aber es könnte ein bisschen dauern. Und so viel Zeit haben wir nicht. Baltic fährt für ein paar Tage nach Riga, um Anspruch auf Dauva zu erheben, und das wäre der perfekte Moment, um Thala zu befreien. Ich kann nicht garantieren, dass er in den nächsten Tagen schon den Fluch aufheben wird, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Wenn ich genug Zeit habe, werde ich ihn zur Einsicht bringen.«

May verzog skeptisch das Gesicht, aber nachdem sie erneut einen Blick mit Aisling gewechselt hatte, stimmte sie zu. »Es gefällt mir zwar nicht, aber mehr kannst du wohl wirklich nicht versprechen. Wir gehen jedenfalls davon aus, dass wir dein Wort darauf haben.«

»Danke. Ich werde noch heute anfangen, Baltic zu bearbeiten. Ich rede mit ihm, bevor er nach Lettland reist, und wenn er weg ist, rufe ich den Ersten Drachen.«

»Ich wünschte, ich könnte dabei sein«, sagte May seufzend. »Aber das würde Gabriel nie erlauben.«

»Möglicherweise verbessert das auch die Situation im Weyr«, sagte ich. »Wenn es uns gelingt, Thala zu befreien, dann wird sie wahrscheinlich sagen können, was damals in Frankreich passiert ist, als Baltic angeblich all die Drachen getötet hat.«

»Ja, aber vielleicht hat sie sie ja getötet«, wandte Aisling ein.

»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie etwas gegen Baltics Wunsch tun würde, und er hatte ja keinen Grund, die Drachen zu töten. Seine Verstrickung mit Fiat lag ja nur an seiner Situation nach der Wiederauferstehung.«

»Wir werden ihr aber Bedingungen stellen müssen«, sagte May und trank einen Schluck Weißwein. »Zum Beispiel, dass sie niemanden angreifen darf.«

»Oh, keine Angst, ich glaube, sie wird allem zustimmen, nur um aus ihrem Gefängnis herauszukommen«, sagte ich.

»Das weißt du aber nicht mit Sicherheit«, erwiderte May. »Immerhin befinden wir uns im Krieg.«

»Ja, aber sie erhält ja ihre Befehle von Baltic, und er hat nicht vor, jemanden anzugreifen, seit wir beide wieder zusammen sind. Und der Krieg ist schließlich uns erklärt worden, wie ihr wisst. Oder glaubt ihr, dass ihr die Männer dazu kriegt, ihn abzublasen?«

»Ich wünschte, das wäre so einfach.« May schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich mit Gabriel darüber rede, sagt er mir, es sei das Gesetz des Weyr und dem müsse er sich unterwerfen, ganz gleich, wie er persönlich dazu steht.«

»Drake hat mehr oder weniger das Gleiche gesagt. Ehrlich, wenn sie nicht so durch und durch sexy wären, stünde mir diese Sturheit der Drachen schon bis hier.« Aisling schob ihren Teller aus Jims Reichweite.

»Wir müssten sie alle mal an einem netten, ruhigen Ort zusammenbringen – die Wyvern, Thala und auch Fiat. Dann könnten wir bestimmt alle Vorwürfe gegen Baltic ausräumen.«

»Ich glaube nicht, dass Drake das täte«, sagte Aisling skeptisch.

»Gabriel vielleicht schon, wenn der Fluch aufgehoben würde.« Mays Miene zeigte deutlich, dass ohne diese Voraussetzung wenig Hoffnung bestünde.

»Mit Baltic wird es sicher ein bisschen schwierig«, sagte ich zögernd. »Er reißt sich zwar ein Bein aus, um mich glücklich zu machen … na ja, ehrlich gesagt tut er es hauptsächlich, weil er so dankbar ist, dass wir uns wiedergefunden haben. Aber bei manchen Dingen ist er echt schwer zu überzeugen, und der Weyr gehört definitiv dazu. Aber möglicherweise klappt es, wenn wir Thala befreien.«

»Glaubst du?«, fragte May zweifelnd. »Mir kommt es so vor, als müsse er eine Menge Konzessionen machen, und er scheint mir nicht der Mann zu sein, dem das leichtfällt.«

»Das stimmt, aber hat er eine andere Wahl?« Ich legte meine Gabel ab und zählte es ihnen an den Fingern vor. »Ihr helft mir nicht, Thala zu befreien, wenn er nicht den Fluch von den Silberdrachen nimmt. Ich kann mich euch bei der Befreiung von Thala erst anschließen, wenn er einwilligt, sich mit dem Weyr zu treffen. Und Gabriel wird einem Weyr-Treffen erst zustimmen, wenn der Fluch aufgehoben ist. Deshalb wird ihm gar nichts anderes übrigbleiben, als sich mit dem Weyr zu treffen und den Fluch aufzuheben. So einfach ist das.«

Aisling lachte. »Ich bezweifle, dass er das so sieht.«

Ich hatte selber meine Zweifel, behielt das aber für mich.

»Und wie sollen wir Thala freibekommen, vorausgesetzt, alles läuft nach Plan?«, fragte May. »Der Weyr ist bestimmt nicht davon zu überzeugen, sie freizulassen, nur weil der Fluch aufgehoben worden ist. Das ist schließlich nur für silberne Drachen von Bedeutung.«

»Nein, für mich auch«, sagte Aisling. »Und für Ysolde.«

»Ja, weil ihr Frauen mit Verstand seid und keine sturen Wyvern.« May verzog das Gesicht. »Drake wäre wahrscheinlich einverstanden, weil er und Gabriel Freunde sind, aber Bastian und Jian haben keinen Grund, Thala freizulassen, und auch bei Kostya habe ich meine Zweifel, ob er ihrer Freilassung zustimmen würde.«

»Wir müssen sie eben einfach selbst herausholen«, erklärte Aisling munter.

»Oh Mann, doch nicht schon wieder einer deiner Pläne aus Abaddon?«, grummelte Jim, der die Speisekarte ein weiteres Mal studierte. »Gibt es Nachtisch? Ich hätte Appetit auf Tiramisu.«

»Sei still, dämonische Nervensäge. Ich bin schließlich nicht umsonst professionelle Hüterin. Ich habe ja auch Drake und Kostya aus diesem Gefängnis oben auf dem Berg befreit, also wird es ja wohl nicht so schwer sein, Thala zu befreien.«

May verzog skeptisch das Gesicht.

»Ja, du und deine professionellen Hüterinnen-Fähigkeiten haben das geschafft … und Gabriel, Maata, Tipene und ich. Aber wir sind ja nur der Staub unter deinen erhabenen Füßen, was?«, murrte Jim.

Aisling warf ihm einen bösen Blick zu.

Ich überlegte einen Moment lang, dann sagte ich: »Ich muss einfach ein bisschen Magie einsetzen. Mit meiner Magie und Aislings Hüterinnen-Fähigkeiten und Mays … äh …«

»Sie ist eine Meisterdiebin«, sagte Aisling und lächelte May zu. »Sie ist sogar noch besser als Drake.«

»Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie begeistert ich über das Lob bin«, antwortete May und verzog das Gesicht. »Aber Aisling hat recht – ich kann ungesehen überall hineingelangen, und angesichts der Vereinbarung, die wir getroffen haben, helfe ich gerne bei der Befreiung von Thala.«

»Aber deine magischen Fähigkeiten sind ein bisschen beeinträchtigt aufgrund des Verbots«, sagte Aisling zu mir.

Ich seufzte. »Ja, das stimmt, also muss ich wohl zu Dr. Kostich gehen und darauf bestehen, dass er das Verbot aufhebt. Ich habe ihn bisher deswegen noch nicht aufgesucht, aber ich glaube, jetzt sollte ich langsam mal die Glacéhandschuhe ausziehen und ihn dazu zwingen.«

»Oooh«, hauchte Jim andächtig. »Kann ich zuschauen, wenn er dich in eine Schmalzpfütze verwandelt?«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Aisling und warf ihre Serviette nach dem Dämon. »Ich habe Vertrauen in dich, Ysolde.«

Ein paar Minuten lang blieb es still, als wir alle überlegten, was wir als Nächstes tun mussten.

»Es hat keinen Zweck, es hinauszuzögern«, sagte Aisling schließlich. »Je eher wir uns an die Arbeit machen, desto besser. Ich rede heute Abend mit Drake über einen großen sárkány mit Fiat und Thala und dir und Baltic.«

»Und ich werde Gabriel alles erklären«, stimmte May zu.

»Ich mache mich heute Abend auch an Baltic heran.«

»Ja, aber redest du auch mit ihm?«, fragte Jim und zwinkerte mir lasziv zu. »Hast du bei all dem Anmachen überhaupt noch Zeit zum Reden?«

»Ehrlich, ich kann dich nirgendwohin mitnehmen. Sei gefälligst nicht so ungezogen.« Aisling lächelte May und mich an. »Also, sind wir uns einig?«

»Sind wir«, sagte ich und nickte.

»Ausgezeichnet. Mmm, diese Schweinelende ist wirklich hervorragend. Möchte jemand mal probieren?«

Jim hob hoffnungsvoll den Kopf. »Ja, ich …«

»Möchte jemand Menschliches mal probieren?«, korrigierte sich Aisling mit einem vielsagenden Blick auf Jim.

May schürzte die Lippen.

»Oh, Entschuldigung. Ich habe ganz vergessen, dass du ja … tut mir leid. Ysolde, möchtest du … nein, du bist ja auch nicht menschlich. Äh … lassen wir das. Ich glaube, wir haben alles besprochen, und wenn keine anderen Themen mehr anstehen, erkläre ich hiermit diese Sitzung offiziell für beendet.«

Lächelnd hob ich mein Weinglas. »Auf die erfolgreiche Vollendung dessen, was der Erste Drache von mir erwartet – was auch immer es sein mag.«

»Auf die Aufhebung des Fluchs über die silbernen Drachen«, sagte May und hob ebenfalls ihr Glas.

»Auf Frieden unter den Drachen«, sagte Aisling und stieß mit uns an. »Auf sexy kleine Corgis mit den wuscheligsten Hinterteilen, die man sich vorstellen kann«, fügte Jim hinzu und schlürfte laut aus seinem Wassernapf.