12

»Du Bastard«, sagte ich zu Drake. Alle im Raum schauten mich erstaunt an. Meine plötzliche Wut überraschte mich selbst am meisten, zumal Flammen um Drakes Beine züngelten.

Er zog die Augenbrauen hoch und blickte auf seine Füße.

»Du hasst Baltic so sehr, dass du alles tun würdest, um ihn vom Weyr fernzuhalten, nicht wahr?«, sagte ich heiser. Am liebsten hätte ich auf ihn eingeschlagen.

»Gefährtin …«, sagte Baltic und sprang auf.

»Jetzt aber!«, unterbrach Aisling uns und trat zwischen mich und Drake. »So etwas würde Drake nie tun.«

Finster blickte ich ihn über ihre Schulter hinweg an, die Fäuste geballt. Er presste die Lippen zusammen, und in seinen Augen zuckten grüne Blitze, als ich knurrte: »Du jämmerlicher kleiner Wurm. Glaubst du, nur weil ich mich an den größten Teil der Vergangenheit nicht mehr erinnere, weiß ich nichts von dem Verrat, den du an Baltic begehen wolltest?«

Heiß und schnell stieg die Erinnerung in mir auf, und ich hüllte uns alle damit ein.

Ich hörte May keuchen, als das Sonnenlicht im Zimmer flirrte und sich in den Schein flackernder Kerzen verwandelte, die einen langen Steinkorridor erhellten. Drake stand vor uns, aber es war der Drake der Vergangenheit, gekleidet in ein Kettenhemd. Er richtete ein Schwert gegen eine Frau, die ihn anschrie.

»Heiliger Bimbam! Sind wir schon wieder in einer Vision? Ja, tatsächlich. Ist das Drake? Oh mein Gott! Was machst du mit ihm, Ysolde?«

Wir standen als Schatten in der Erinnerung dieses vergangenen Augenblicks und beobachteten die Szene, die sich tief in meine Seele eingegraben hatte.

»Warum hältst du diesen Wahnsinn nicht auf?«, wollte die vergangene Ysolde von Drake wissen. »Er ist doch dein Bruder! Möchtest du ihn so unbedingt als Wyvern sehen, dass du dich dazu auch an Baltics Tod beteiligen würdest?«

»Ich bin nicht derjenige, der wahnsinnig ist«, grollte Drake. »Dein Gefährte hat sich sein Ende selber zuzuschreiben.«

»Dein Bruder und dein Blutsbruder haben geschworen, Baltic zu töten, und du behauptest, du seiest nicht beteiligt? Wer hat die silbernen Drachen denn unterstützt, als sie Hilfe brauchten? Wer hat Kostya Waffen und Männer gegeben, als er Dauva angreifen wollte? Wer verriet Baltic und mich in Petersburg? Wenn Baltic stirbt, befleckt sein Blut deine Seele, Drake Fekete, denn du bist genauso für seinen Tod verantwortlich, wie sie es sind.«

»Geh mir aus dem Weg, Lady Ysolde«, sagte Drake mit leiser, gemeiner Stimme. »Ich will dir nichts Böses, aber wenn du mich nicht in Frieden lässt, werde ich zuschlagen.«

»Bevor ich zulasse, dass du Baltic etwas antust, werde ich dich eher in der Hölle schmoren sehen!«, schrie sie. Sie stürzte sich auf ihn. In ihrer Hand blitzte etwas Silbernes auf.

»Drake! Oh mein Gott!«, schrie Aisling, als Ysolde angriff. Das Messer hatte kaum die Haut an seinem Hals geritzt, als Drake sie auch schon gegen die Wand schleuderte. Mit einem dumpfen Geräusch prallte sie dagegen, dann glitt sie bewusstlos zu Boden.

»Bruder! Wo … Gott steh mir bei, ist das Ysolde? Was hast du mit ihr gemacht?« Kostya tauchte aus dem dunklen Gang auf, der zu den Kellerräumen führte. Seine Rüstung und sein Schwert waren voller Blut.

Drake kniete sich neben Ysolde. »Sie ist nur bewusstlos. Sie hat versucht, mich zu töten.«

»Geh, Drake. Dieser Kampf geht dich nichts an«, sagte Kostya und schob sein Schwert in die Scheide, um meine bewusstlose Gestalt in die Arme zu nehmen. »Ich bringe sie nach oben.«

»Du bist mein Bruder. Ich habe dir Unterstützung versprochen, und jetzt, wo du mich brauchst, werde ich mich nicht zurückziehen.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht. Hörst du die Schlachtgeräusche nicht? Constantine steht vor den Toren. Ich tue nur, was getan werden muss, aber du hast deine Zukunft um meinetwillen schon genug aufs Spiel gesetzt. Ich erwarte nichts mehr von dir. Kehr nach Buda zu den grünen Drachen zurück.«

Drake zögerte. »Ich möchte gerne bis zum Ende dabeibleiben, Kostya.«

»Das dauert sowieso nicht mehr lange. Geh, Drake. Kämpfe meinetwegen mit Constantines Truppen, aber Fodor soll nicht sagen, dass du am Tod eines Wyvern beteiligt warst. Baltic ist allein meine Sache.«

»Er ist dein Fluch, meinst du wohl eher«, sagte Drake. Als Kostya mich den Gang entlangtrug, rief er hinter ihm her: »Wenn du es jetzt nicht zu Ende bringst, werde ich es tun!«

Ich schlug Drake mit der Faust ins Gesicht, und das klatschende Geräusch riss uns alle aus der Vision. »Ich … ich habe es nicht … vergessen«, sagte ich zu ihm und rieb meine schmerzende Hand.

»Okay, das geht jetzt zu weit«, sagte Aisling und schob mich beiseite. »Niemand schlägt Drake! Mir ist klar, dass in der Vergangenheit einige Dinge passiert sind, auf die niemand stolz ist, aber das ist noch lange kein Grund, ihn jetzt zu schlagen! Ist alles in Ordnung, mein Schatz?«

Baltic schüttelte den Kopf und zog mich sanft in die Arme. »Du hast immer schon mit deinem Herzen und nicht mit deinem Kopf gedacht. Ysolde, Ysolde … und da behaupten die Leute, ich sei gewalttätig.«

»Er hat es verdient«, sagte ich zu meiner Rechtfertigung. »Aber es tut mir leid, dass ich dir aufs Auge geboxt habe, Drake. Ich habe mich von meinen Gefühlen hinreißen lassen, und das war nicht gut. Ich finde es jedoch trotzdem nicht richtig, dass du Lügen über Baltic in die Welt setzt.«

Drake erstarrte. Sanft schob er Aisling zur Seite und blickte mich finster an. »Ich lüge nicht!«

»Baltic hat Fiat nicht freigelassen!«, sagte ich laut.

»Aber seine Stellvertreterin.«

»Er war ja noch nicht einmal in Italien. Er war zuerst in Riga und dann hier«, sagte ich.

»Es stimmt, Gefährtin.«

»Und ich bin es endgültig leid, dass ihr Typen immer nur das Schlimmste von Baltic annehmt. Warum könnt ihr uns denn nicht wenigstens ein einziges Mal glauben? Warum könnt ihr …« Ich brach ab und drehte mich zu Baltic um. »Was?«

»Thala hat Fiat befreit.«

Mir blieb der Mund offen stehen. Mindestens fünf Sekunden lang. »Ach ja?«

»Ja.«

Ich stieß ihn an, als er weiter nichts sagte. »Und warum hat sie das getan?«

»Hast du sie dazu aufgefordert, Fiat zu befreien?«, fragte Aisling im selben Moment.

»Wenn ich gewollt hätte, dass Fiat freikommt, dann hätte ich mich selber darum gekümmert«, erwiderte Baltic von oben herab.

»Und warum hat Thala ihn dann befreit?«, fragte ich noch einmal.

»Ich weiß nicht. In der letzten Zeit sagt sie nicht mehr viel. Sie meinte nur, es würde uns bei der Erreichung unserer Ziele von Nutzen sein.«

»Du hast sie nicht aufgehalten«, stellte Gabriel fest. Seine Körpersprache vermittelte deutlich, wie wütend er war, obwohl man seiner Miene nichts anmerkte. »Sollen wir dir etwa glauben, dass du keinen Nutzen daraus ziehst, wenn Fiat dir Dankbarkeit erweist?«

Baltic seufzte. »Nein, ich erwarte nicht, dass ihr mir das glaubt, aber das liegt vor allem daran, dass ihr mir nur allzu gern die schlimmsten Motive unterstellt. Und dabei ist die Wahrheit, dass Fiat gedroht hat, Ysolde und Brom zu töten. Ich war froh darüber, dass die blauen Drachen ihn gefangen genommen hatten, und ich wollte nicht, dass er freikam.«

»Er hat gedroht, uns zu töten?« Meine Stimme kippte über. »Warum?«

Baltic verzog keine Miene.

»Warum?«, fragte ich noch einmal und berührte seinen Arm.

Er runzelte die Stirn. »Das erzähle ich dir später, wenn wir alleine sind.«

»Genau diese Haltung macht dich verdächtig. Warum sollte Fiat Brom und mir den Tod wünschen?«

»Es gibt Zeiten«, antwortete Baltic seufzend, »in denen ich mich nach meiner alten Ysolde sehne.«

»Oh, auch damals hätte ich dich so lange gequält, bis du mir geantwortet hättest.«

Zu meiner Überraschung grinste er. »Ja, das stimmt. Du hättest mich auch damals gezwungen, vor den anderen Wyvern meine Seele zu entblößen, so wie jetzt.«

»Genau. Immer schön demütig bleiben«, stimmte ich zu und wartete.

Er warf einen Blick auf die anderen Männer, die ihn nicht ohne Mitgefühl ansahen. »Fiat hat mir die Schuld an seiner jetzigen Situation gegeben. Er wusste, dass es für mich das Schlimmste wäre, wenn du mir genommen würdest, deshalb plante er mit einer Gruppe von Gefolgsleuten, dich und Brom entführen und töten zu lassen.«

Mir stockte das Blut in den Adern. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Was hätte das denn genützt? Ich würde niemals zulassen, dass jemand dir oder meinem Sohn etwas zuleide tut, deshalb ging es dich nichts an. Fiat war in sicherem Gewahrsam bei den blauen Drachen, und ich wusste, dass sein Einfluss nicht bis zu dir reichte.«

Ich schlug ihm auf die Brust. »Über den Austausch wichtiger Informationen unterhalten wir uns später noch einmal, Baltic.«

Ein gequälter Ausdruck trat in seine Augen. »Ich zweifle nicht daran, dass du das vorhast, aber es gibt Wichtigeres zu besprechen.«

»Du warst gar nicht in Riga, oder? Du warst in Italien, um dich zu vergewissern, dass Fiat gut bewacht wird.«

»Ja. Mir war nicht wohl, als ich hörte, dass in der Gegend Ouroboros-Drachen gesehen worden waren.«

»Warum hast du denn Thala nicht aufgehalten, als du da warst?«, fragte ich.

Er presste die Lippen zusammen. »Sie war zu der Zeit nicht in Italien, und ich wusste auch gar nicht, dass sie vorhatte, Fiat zu befreien.«

»Bei aller Liebe … Hast du eigentlich eine Ahnung, wie schwer es ist, den Leuten klarzumachen, dass du unschuldig bist, wenn solche Dinge passieren?«

Er blickte mich nur an.

Ich seufzte. »In Ordnung, ich kann dir nicht vorwerfen, dass Thala ohne deine Anweisung gehandelt hat, aber das entschuldigt nicht die Tatsache, dass du mir nicht gesagt hast, dass Fiat Drohungen gegen Brom ausstößt.«

»Ich bin ein Wyvern«, sagte er schlicht. »Dich zu beschützen ist mein Recht und meine Pflicht.«

Die anderen Männer nickten zustimmend.

»Nun, dank dir muss ich mich jetzt bei diesem Bast… bei Drake entschuldigen.« Ich drehte mich zu Drake um. »Anscheinend habe ich mich schon wieder geirrt, Drake. Es tut mir leid, dass ich so garstige Worte zu dir gesagt habe, weil ich glaubte, du würdest Baltics guten Namen in den Schmutz ziehen. Wenn du jedoch immer noch denkst, dass er für die Morde an den anderen blauen Drachen verantwortlich ist, muss ich dich leider noch einmal schlagen.«

»Wenn du das tust, bekommst du es mit mir zu tun«, sagte Aisling so drohend, dass wir sie alle überrascht anblickten.

»Gefährtin, du brauchst mich nicht zu beschützen«, sagte Drake empört.

»Sie hat dich geschlagen.«

»Ich habe es ja zugelassen. Glaubst du im Ernst, ich könnte eine Frau nicht davon abhalten, mir wehzutun?«

»Du hast es zugelassen, dass ich dich geschlagen habe?«, fragte ich ihn. »Warum?«

»Weil deine Vision mir klargemacht hat, dass ich dich in der Vergangenheit nicht so respektvoll behandelt habe, wie ich es hätte tun sollen.«

Aisling verzog das Gesicht. »Das stimmt. In Ordnung, ich vergebe dir, dass du ihn geschlagen hast, Ysolde. Diesen Schlag hat er verdient. Aber weitere nicht mehr, okay?«

Ich blickte Drake an. »Was hat der Weyr mit Fiat vor, nachdem er Chuan Ren getötet hat? Ihr wollt doch nicht etwa Baltic für Thalas Tat zur Verantwortung ziehen?«

»Wir sind nicht mehr im Weyr, Ysolde«, sagte Baltic und zog mich wieder an sich. »Sie haben uns bereits den Krieg erklärt. Was sie denken, spielt für unsere Sippe keine Rolle.«

Drake schwieg einen Moment lang. Er blickte Kostya und Gabriel an, dann wandte er sich wieder uns zu. »In diesem Punkt hat Baltic recht. Bastian hat gesagt, dass sich Fiats und Thalas Wege direkt nach seiner Befreiung getrennt haben. Warum sie ihn befreien wollte, ist unklar – vielleicht kann dein Gefährte dazu etwas sagen. Bastian hat bestätigt, dass Fiat direkt nach Hongkong geflogen ist und Chuan Ren umgebracht hat. Ich bedauere, dass ein Wyvern zu Tode gekommen ist, aber diese Tragödie hat vor allem klargemacht, dass Fiats Wahnsinn tiefer geht, als wir vermutet haben.«

»Es überrascht mich, dass er sie überwältigen konnte«, sagte Aisling. May nickte. »Chuan Ren war eine starke Frau.«

»Mich überrascht es auch«, erklärte Drake düster. »Wahrscheinlich hat er die Tat nicht allein begangen.«

»Mit Thala?«, fragte ich.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Drake mit einem Blick auf Baltic.

»Wer würde denn Fiat sonst noch helfen?«, fragte Aisling.

Drake zuckte elegant mit den Schultern.

Ich hängte mich bei Baltic ein. »Was ist mit dem Mord an den blauen Drachen? Ihr könnt nicht immer noch glauben, dass Baltic etwas damit zu tun hatte.«

Drake setzte sich und zog Aisling neben sich. Er wirkte erschöpft. »Wir sind hier, um über diese Situation zu sprechen, und genau das werden wir jetzt tun. Habt ihr neue Beweise?«

»Nein, nicht wirklich«, sagte ich und ließ mich auf Baltics Armlehne nieder. »Aber ich bin sicher …«

»Dann steht euer Wort immer noch gegen das der Überlebenden«, unterbrach Gabriel mich. »Ich war dabei, Ysolde. Ich habe sie selbst gesehen und gehört, wie ein Mann sagte, Baltic sei am Tatort gewesen. Wenn ihr keine neuen Beweise für seine Unschuld habt, weiß ich nicht, was wir noch tun können.«

Ich blickte Baltic an. Er erwiderte meinen Blick.

»Nun?«, sagte ich und stieß ihn an.

»Nun, was?«

»Warum sagst du nicht etwas, damit sie dir glauben?«

»Ich habe gesagt, dass ich die Drachen nicht getötet habe. Sie wollten mir nicht glauben. Mehr kann ich nicht tun.«

»Doch. Du kannst ihnen sagen, was du dort gemacht hast, wenn du die blauen Drachen nicht getötet hast.«

Er schwieg einen Moment lang und blickte mich abschätzend an. Mich durchzuckte der Gedanke, dass es eine Person gab, die zur Klärung beitragen konnte. »Thala!«

»Was hat sie denn jetzt wieder gemacht?«, fragte May.

»Sie war mit dir dort, oder?«, fragte ich Baltic. »Sie ist sein Alibi! Thala kann euch sagen, dass Baltic niemanden getötet hat.«

Seine Hand, die auf meinem Bein lag, verkrampfte sich kurz.

»Ich glaube, Thala ist im Weyr nicht so besonders angesehen im Moment«, sagte Aisling leise.

»Wir haben sie über den fraglichen Abend befragt«, warf Drake ein. »Sie sagte, sie wisse nichts.«

»Natürlich sagt sie das. Hat sie euch überhaupt irgendetwas gesagt, was ihr wissen wolltet? Ich könnte wetten, dass sie keinen Ton von sich gegeben hat. Sie ist die sturste, eigensinnigste … na ja, das gehört nicht hierher. Es würde mich wirklich wundern, wenn sie euch irgendwelche Informationen gegeben hätte.«

»Nein, das hat sie nicht«, gab Gabriel zu. »Wir haben sie alle verhört, aber wir haben nichts aus ihr herausbekommen.«

»Das liegt nur daran, dass ihr mich nicht in ihre Nähe gelassen habt«, sagte Kostya und ließ seine Knöchel knacken.

»Na klar doch. Sie hätte dich zum Frühstück verspeist und wieder ausgespuckt«, sagte ich.

Er verzog wütend das Gesicht.

»Ich wollte damit doch nur sagen, dass du nie eine Frau schlagen könntest, und ich bezweifle, dass sich das über die Jahrhunderte geändert hat. Nein, nur Baltic kann Thala zum Reden bringen, deshalb müssen wir es so versuchen.«

»Es muss sein, oder?«, fragte die Liebe meines Lebens.

»Ja.« Ich blickte ihn an. »Es ist wichtig, Baltic.«

Er sah so aus, als wolle er widersprechen, schüttelte aber dann nur resigniert den Kopf.

»Dann ist ja alles klar. Thala wird Baltic ein Alibi geben, und der Weyr kann den Krieg gegen uns beenden.«

May mied meinen Blick. Aisling hustete und blickte Drake an. Als er nichts sagte, stupste sie ihn an.

»Was ist?«, fragte ich sie. »Warum seht ihr mich so komisch an?«

»Du bist zu aufrichtig«, sagte Baltic und zog mich eng an sich. »Dir kommt es gar nicht erst in den Sinn, dass Thalas Wort nicht als Wahrheit akzeptiert werden würde.«

Würde Thala denn lügen? Ich überlegte kurz. Ja, sicher, wenn es ihren Zwecken diente, würde sie auch lügen. »Wenn du ihr sagst, sie solle die Wahrheit sagen, dann würde sie das doch tun, oder?«, fragte ich Baltic.

Er zögerte einen Moment lang, aber das genügte Kostya schon.

»Noch nicht einmal er kann seine Stellvertreterin kontrollieren«, höhnte er. »Warum sollten wir ihr denn mehr glauben als einem Augenzeugen?«

Das machte meine Hoffnung auf Frieden endgültig zunichte, und alle Frustration und Wut, die sich in den letzten beiden Monaten aufgestaut hatten, stiegen so gewaltig in mir auf, dass ich weit die Arme ausbreitete und schrie: »Es reicht mir jetzt! Beim Kreuz, entweder glaubt der Weyr uns, wenn wir sagen, dass Baltic unschuldig ist am Tod dieser Drachen, oder ihr werdet es alle bereuen, dass ihr jemals an uns gezweifelt habt!«

»Sie spricht einen Zauber aus«, sagte May erschrocken.

»So sicher wie der abnehmende Mond vergeht«, brüllte ich, entschlossen ihnen ein für alle Mal die Wahrheit zu zeigen.

»Ysolde«, sagte Baltic gequält, »hast du es immer noch nicht begriffen? Sie lassen sich nicht umstimmen.«

»Gewähre Kenntnis von Vergangenem!« Licht bildete sich in meinen Händen, das blauweiße Licht weißer Magie, gekrönt von Drachenfeuer.

Sofort traten Drake und Gabriel in Aktion. Sie brachten ihre Gefährtinnen hinter Möbelstücken in Sicherheit, obwohl die Frauen heftig protestierten.

Kostya blickte sich einen Moment lang um, stellte fest, dass er niemanden zu beschützen hatte, und kam mit einem verärgerten Laut auf mich zu, um meinen Zauber zu stoppen.

Baltic stürzte sich auf ihn, und die beiden Männer gingen zu Boden.

»Bring Weisheit statt Furcht …«

Drake und Gabriel kamen auf mich zugestürmt. Aisling schrie etwas über einen Bann, während May sich in nichts auflöste.

Das Licht von meinen Händen breitete sich aus, bis es mich einhüllte und mit der Wärme des Drachenfeuers und der Kraft der weißen Magie umgab.

»… Toleranz, wo jetzt nur Hass ist …«

Drake und Gabriel griffen nach mir, aber das Licht hielt sie zurück. Baltic rammte Kostya gegen die Glastür eines Bücherschranks, die natürlich sofort in tausend Stücke zerbrach, wobei das Klirren der Glasscherben meine Worte untermalte. »Niemand berührt meine Gefährtin!«, knurrte er.

»May!«, schrie Gabriel. »Fass sie nicht an! Sie wird dich vernichten!«

Hinter mir flackerte ein Schatten auf, aber ich ignorierte ihn und konzentrierte mich auf den Zauberspruch.

»… Gelassenheit, wo Zorn wohnt.«

»Ich belege sie mit einem Bann. Effrijim, ich rufe dich.«

»Ja, klar, jetzt rufst du mich – hey, was ist denn hier los?« Die menschliche Gestalt von Jim kam einen Moment lang in mein Blickfeld, verschwand aber gleich wieder, weil Drake sowohl den Dämon als auch Aisling wieder hinter die breite Ledercouch zog. »Warum leuchtet Ysolde wie ein Weihnachtsbaum? Oh Mann, sie schickt uns mit ihrem Zauber alle nach Abaddon, was? Ihre Haare stehen ja zu Berge!«

Ich klatschte so laut in die Hände, dass die Fensterscheiben erbebten. »Bei meiner Gnade, dies beschwöre ich!«

Zwei Sekunden lang erstarrten alle. Niemand gab einen Laut von sich, weil alle gespannt warteten, was passieren würde. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir anders erging. Auch ich betete, dass ich meine Magie endlich wieder im Griff hatte.

Das Licht breitete sich im gesamten Zimmer aus, zog sich dann mit einem Peitschenknall zusammen und formte sich zu einer kleinen, runden, extrem überraschten Schildkröte. Sie fiel auf den Tisch neben mir und blinzelte uns erstaunt an.

Einen Augenblick lang musterte ich das Ergebnis meiner Bemühungen finster, dann trat ich gegen den Stuhl neben mir. »Na, das ist ja wohl so ziemlich das Enttäuschendste, was ich je erlebt habe! Eine Schildkröte! Wirklich! Ich habe alles in diesen Zauber hineingegeben, und was bekomme ich dafür? Eine Schildkröte! Ich könnte schreien!«

May kam hinter mir zum Vorschein und streckte die Hand aus, um die Schildkröte zu berühren. »Sie ist echt«, sagte sie und musterte mich prüfend. »Darf ich fragen, was du mit uns vorhattest?«

Ich sank auf einen Stuhl. »Ich habe versucht, einen Klarheitszauber auszusprechen, um euch Weisheit und Erleuchtung zu bringen, damit ihr endlich begreift, dass wir die Wahrheit sagen. Eine Schildkröte. Ich habe eine Schildkröte gezaubert. Verfluchte Hölle.«

»Abaddon«, korrigierte Jim mich und zog ein Handy hervor, um ein Foto von der Schildkröte zu machen.

»Schildkröten sind doch weise, oder?«, fragte Aisling Drake. »Vielleicht hast du eine weise Schildkröte gezaubert, statt uns Weisheit zu bringen.«

»Ich dachte, Eulen wären weise«, sagte May, als Drake mit einem vielsagenden Blick auf seine Gefährtin einige Möbelstücke wieder aufrichtete, die umgefallen waren.

»Könnte schlimmer sein, Soldy«, sagte Jim.

»Ich wüsste nicht, wie«, erwiderte ich und rieb mir die Stirn.

»Es könnte ein Elefant sein. Also, was ist hier los? Warum hat Baltic Kostya am Kragen gepackt? Hey, Drake hat ja einen Zahn verloren. Mann, die guten Sitzungen verpasse ich immer.«