4

»Deine Sturheit ist wirklich lächerlich.«

»Und du scheinst jeglichen Sinn für die Realität verloren zu haben.« Baltic packte ein paar Kleidungsstücke in eine kleine Reisetasche. »Ich bin der Wyvern, Ysolde. Du bist die Gefährtin. Ich habe dir weitaus öfter nachgegeben, als mir lieb ist, aber dieses Mal werde ich hartnäckig bleiben.«

Es überraschte mich nicht, dass er sich einfach weigerte, den Fluch über die silbernen Drachen aufzuheben. Was mich jedoch erschreckte, war, dass er sich weigerte, sich mit den anderen Wyvern zu treffen.

»Wenn du nicht einwilligst, dich mit dem Weyr zu treffen, funktioniert die ganze Angelegenheit nicht.« Meine Stimme hatte einen flehenden Klang angenommen, als ich ihm zwischen Schrank und Bett hin und her folgte. »Dann bleibt Thala eine Gefangene, und wir befinden uns weiterhin im Krieg.«

»Der Krieg interessiert mich nicht, und wenn wir wieder da sind, kümmern Pavel und ich uns um Thalas Freilassung.«

»Und wie viele Drachen sollen dabei getötet werden?«, fragte ich. »Du hast doch selbst gesagt, dass sie viel stärker bewacht wird, als du dir vorgestellt hast. Ihr könnt also nicht einfach hereinschneien und sie euch schnappen – ihr müsstet kämpfen, nur ihr beide gegen Drakes riesiges Heer von Bewachern. Und sosehr ich mich manchmal auch über dich ärgere, ich will nicht, dass du getötet wirst.«

»Ich werde bestimmt nicht derjenige sein, der stirbt«, sagte er arrogant.

»Gott im Himmel! Ich will nicht, dass überhaupt jemand stirbt!«

Er stellte die Reisetasche auf einen Stuhl neben der Schlafzimmertür. »Ich habe mich entschieden, Gefährtin.«

Tränen der Enttäuschung traten mir in die Augen. Es schnürte mir die Kehle zusammen, als ich sah, wie er sein Schlüsselbund, seine Brieftasche und sein Handy ergriff. »Bitte«, stieß ich hervor.

Langsam drehte er sich zu mir um. Seine Miene war finster. »Du verlangst zu viel von mir, Ysolde.«

»Ich weiß. Aber ich muss das tun. Verstehst du denn nicht? Ich will, dass du in Sicherheit bist, aber ich will auch eine Zukunft haben. Du sagst doch ständig, ich sei ein Drache, aber du verweigerst mir die Chance, Wurzeln zu schlagen. Ich möchte mein Drachen-Ich erforschen, aber das kann ich nicht, solange wir außerhalb des Weyr sind.«

»Das eine schließt doch das andere nicht aus«, widersprach er. Er ergriff meine Hände und zog mich sanft zu sich heran.

»Doch, für mich schon. Wir haben einmal einen Krieg erlebt, Baltic, und er endete in unfassbarem Elend. Ich will das nicht noch einmal durchmachen.«

Er schloss einen Moment lang die Augen, das Gesicht vom gleichen Schmerz verzerrt, den ich tief in meinem Innern verspürte.

»Bitte«, flüsterte ich an seinem Mund und schmiegte mich an ihn. »Rede noch einmal mit dem Weyr. Zusammen mit Thala und Fiat können wir alle strittigen Punkte klären, und dann können wir endlich glücklich sein.«

»Ich habe dich. Ich bin glücklich.«

Ich schmiegte mich noch ein bisschen mehr an ihn, nahm seinen Duft in mich auf und strich mit den Händen über seinen Rücken. »Triff dich mit den Wyvern, denk ernsthaft darüber nach, ob du den Fluch nicht aufheben kannst, und ich schwöre dir, wenn du aus Dauva zurückkehrst, haben Aisling, May und ich Thala befreit.«

Er schwieg so lange, dass ich schon frustriert aufgeben wollte, aber schließlich fluchte er leise und küsste mich. »Ein einziges Mal werde ich dir noch nachgeben, Gefährtin, aber es ist das letzte Mal! Das absolut letzte Mal – hast du verstanden?«

»Habe ich«, erwiderte ich und lächelte ihn an.

Sein Blick glitt zum Bett, aber bevor ich ihn küssen konnte, seufzte er und schob mich sanft von sich. »Ich verpasse meinen Flug, wenn ich dir erlaube, dich richtig zu bedanken. Mir gefällt dein Plan, Thala zu befreien, zwar nicht, aber ich weiß, dass nicht du diejenige bist, deren Tod die Wyvern wollen, deshalb tu, was immer du willst. Aber du wirst dich auf keinen Fall in Gefahr begeben.«

»Immer derselbe Tyrann«, sagte ich. Ich gab meinem Verlangen nach und küsste ihn. »Feuer, bitte.«

Er badete mich in seinem Drachenfeuer und ließ mich seine Leidenschaft und seine Liebe spüren.

»Lebe wohl, mein Herz«, sagte ich, als er schließlich seine Tasche ergriff. »Komm gesund und wohlbehalten zu mir zurück.«

Er blieb einen Moment lang an der Tür stehen, einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. »Vor dreihundert Jahren hast du ganz genau das Gleiche zu mir gesagt.«

»Aber damals bist du ausgezogen, um gegen Constantine zu kämpfen. Das tust du dieses Mal nicht«, sagte ich und lächelte leise bei der bittersüßen Erinnerung.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte er, als er ging.

Ein paar Minuten lang starrte ich auf die Tür und überlegte, was er damit wohl gemeint haben könnte. Aber wahrscheinlich war dies nur seine Vorliebe für Geheimniskrämerei. Er liebte diese kryptischen Äußerungen und behauptete immer, er wolle damit bezwecken, dass ich mein Gedächtnis wiederfand. Ehrlich gesagt glaubte ich eher, er wollte mich damit necken, aber da auch ich ein gutes Geheimnis zu schätzen wusste, beklagte ich mich nicht.

Zwei Stunden später sah ich erst einmal zu, wie die Sonne langsam hinter den sanften Hügeln im Westen unterging, bevor ich auf den Stuhl schaute, der vor mir stand. Ich stand in der hintersten Ecke des samtgrünen Rasens, weit entfernt vom Haus und allem, was meiner nicht so ganz treffsicheren Magie möglicherweise in die Quere kommen könnte.

Der Frosch, der in einem Glas auf dem Stuhl saß, schaute mich mit glänzenden schwarzen Augen an.

»Nur für den Fall, dass etwas schiefgeht und ich dich in eine Banane verwandele, möchte ich mich jetzt schon einmal entschuldigen. Ich glaube zwar, dass alles gut geht, aber ich fühle mich doch verpflichtet, dich zu warnen, weil meine Zauberkraft durch das Verbot vielleicht nicht ganz das macht, was ich möchte. Also, falls das mit dem Verbannen klappen sollte, so denk daran, dass ich vorgesehen habe, dich zwei Kilometer von hier an einem Bach auszusetzen, wo du ein neues Zuhause finden solltest. Ich hoffe, es macht dir nichts aus umzuziehen. Bist du bereit? Gut. Ich auch.« Ich schloss die Augen einen Moment lang, um meine Gedanken zu sammeln und mich genau daran zu erinnern, was ich vor zwei Monaten gesagt hatte, als ich unabsichtlich den Ersten Drachen durch einen Bannzauber gerufen hatte.

»Genommen mit Leid, alles was von mir kommt«, sagte ich. Ich zog Stärke aus Baltics Drachenfeuer, das immer noch tief in mir war. »Verzehrt von Wut seist du gebannt.«

Ich öffnete die Augen, aber nichts geschah. Weder flimmerte die Luft noch formte sich aus dem Nichts ein Drache; noch nicht einmal der Frosch war weg. Er rülpste und fuhr mit der Zunge über seinen linken Augapfel, offensichtlich nicht im Mindesten beeindruckt.

»Vielleicht habe ich mich nicht genug konzentriert. Lass es uns noch einmal versuchen.« Erneut holte ich tief Luft, konzentrierte mich auf den Ersten Drachen und wiederholte die Zauberformel.

Alles um mich herum war still, wenn man einmal vom fernen Zwitschern der Vögel und dem Summen der Bienen an den wilden Rosen absah.

»Gut«, sagte ich zu dem Frosch, »ich sehe, was das Problem ist. Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, habe ich gar nicht versucht, den Ersten Drachen zu rufen – ich wollte jemand anderen verbannen. Also konzentriere ich mich stattdessen darauf. Bist du bereit für eine kleine Reise? Los geht’s.«

Ich wiederholte die Zauberformel. Der Frosch schlief ein.

»Verflucht noch mal!«, wütete ich und stürmte um den Stuhl herum. Ich versuchte es noch vier Mal, aber ich verbannte noch nicht einmal einen Grashalm. Schließlich befreite ich den Frosch, der mit einem ungnädigen Quaken im Garten verschwand.

Ich wollte gerade ins Haus zurückkehren, als eine Art Nebel über mich schwappte … ein kalter, beißender, vertrauter Nebel.

»Ich lasse dich nur am Leben, weil du mein Patensohn bist.« Die tiefe Stimme des Mannes durchdrang die blendende Weiße.

Fröstelnd schlang ich die Arme um mich und versuchte, durch den Wind und die Schneeflocken etwas zu erkennen.

»Ich sollte dich auf der Stelle töten«, antwortete die Stimme eines anderen Mannes, die ebenso vertraut klang wie die erste. Ich trat auf die beiden Gestalten zu, die im Schneesturm standen. »Du hast Baltic dazu getrieben, du hast ihn in den Wahnsinn getrieben, und jetzt ist er tot. Ich habe ihn vielleicht getötet, aber sein Blut klebt an deinen Händen, Constantine Norka.«

»Flieh, solange noch Zeit ist, Kostya«, antwortete Constantine. Er ließ erschöpft die Schultern hängen. »Geh weit weg und versteck dich, bis die noch verbliebenen schwarzen Drachen nicht mehr verfolgt werden.«

»Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe keine Angst vor dem Kampf.«

»Es wäre kein Kampf, es wäre ein Gemetzel. Flieh, ich sage es dir. Du bist Toldis Sohn, und ich kann dir nichts anderes raten, aber stell meine Geduld nicht länger auf die Probe. Geh jetzt, bevor wir das Schloss niederreißen.«

»Du kannst Dauva nicht zerstören lassen«, sagte Kostya, das Gesicht dunkel vor Zorn. »Um Gottes willen, ich weiß, dass du uns hasst, aber in seinen Mauern haben unschuldige Frauen und Kinder Schutz gesucht!«

Constantine schüttelte den Kopf. Die weißen Schneeflocken hoben sich von seinen honigblonden Haaren ab. »Ysolde hat sie weggeschickt. Sie hat mir selbst gesagt, dass es keinen Sinn mache anzugreifen, da nur Baltic und sie mit einer Handvoll Männer übrig geblieben seien.«

»Wo ist sie? Du wirst sie mir zurückgeben. Ich bin jetzt der Wyvern, und ich werde sie beschützen.«

Constantine hob den Kopf. »Sie ist tot.«

Kostya starrte ihn ungläubig an. »Wie?«, stieß er hervor.

»Sieh selbst«, sagte Constantine und machte ein paar Schritte. »Ich habe ihren Körper nicht angerührt.«

Kostya taumelte hinter ihm her, und beide Männer verschwanden in der Weiße, die durch mich hindurchzuschneiden schien, mir den Atem nahm und mir Schwindel verursachte.

Es dauerte eine Zeit, bis ich mich von der Vision erholte, aber auf jeden Fall hatte ich jetzt Gewissheit. »Es muss um Constantine gehen. Aber was soll ich mit ihm machen? Er ist doch tot«, sagte ich kurz darauf, als ich mit May übers Handy telefonierte.

»Ja, das ist die Frage.« Die Verbindung war schlecht, weil ich im Zug nach London saß, und so konnte ich nicht alles verstehen, was May sagte. »Erzähl mir noch einmal, was du getan hast, um den Ersten Drachen zu rufen.«

Ich setzte mich bequem hin, während der Zug mich zu meinem früheren Arbeitgeber brachte, der zufällig das mächtige Oberhaupt der Anderwelt war und einen großen Teil der unsterblichen Welt regierte. Rasch erzählte ich ihr noch einmal, was passiert war – oder vielmehr nicht passiert war –, und fragte: »Meinst du, das auf dem sárkány war nur ein Glückstreffer? Habe ich wirklich alle meine magischen Kräfte verloren? Was soll ich denn tun, wenn ich den Ersten Drachen nicht rufen kann?«

»Ich glaube nicht, dass es nur ein Glückstreffer war, und ich glaube auch nicht, dass du deine Kräfte verloren hast. Bei deinem heutigen Versuch fehlte etwas.«

»Und was?«

»Drachen«, erwiderte sie. »Ich könnte wetten, dass dir Baltics Feuer bei der Beschwörung geholfen hat, und die Anwesenheit der anderen Drachen war bestimmt ebenfalls von Nutzen.«

»Na toll.« Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe. »Jetzt muss ich bis zum nächsten sárkány warten, um den Ersten Drachen heraufzubeschwören.«

»Nicht unbedingt. Wir versuchen es morgen noch einmal, wenn Aisling und ich zu dir kommen, um nach Burleigh House zu fahren.«

»Aber ihr seid doch nur Gefährtinnen«, wandte ich ein.

»Ja, aber ich habe eine Verbindung zum Ersten Drachen. Vielleicht reicht das ja schon aus.«

»Möglich.« Seufzend ergriff ich meine Tasche, da der Zug in den Bahnhof einfuhr. »Ich mache mich jetzt auf, die Höhle des Löwen zu betreten. Halt mir die Daumen!«

»Meinst du nicht, du solltest mit deinem Besuch bei Dr. Kostich noch warten, bis du den Ersten Drachen noch einmal gerufen hast? Vielleicht ist das Verbot ja dabei von Nutzen.«

»Könnte sein, aber ich habe nicht wirklich eine Wahl – ich habe Baltic versprochen, dass wir Thala befreit haben, wenn er aus Dauva zurückkehrt, und das bedeutet, dass meine Magie funktionieren muss. Ich glaube nicht, dass Drakes Wachen sonderlich beeindruckt wären, wenn ich sie mit Bananen bedrohen würde.«

May lachte. »Nein, wahrscheinlich nicht. Na, dann viel Glück. Du könntest ihm ja schöne Grüße von mir bestellen, aber ehrlich gesagt sähe ich Dr. Kostich lieber in Abaddon.«

Vom Bahnhof zu dem Hotel, in dem Dr. Kostich üblicherweise abstieg, wenn er nach London kam, war es nicht weit. Ich trat an die Rezeption, nannte dort den falschen Namen, unter dem ich den Termin mit dem Erzmagier gemacht hatte, und wurde in die dritte Etage geschickt, wo Dr. Kostich auf mich wartete.

»Guten Abend«, sagte ich zu dem mir unbekannten jungen Mann, der die Tür öffnete.

»N’Abend. Sie müssen Uma Thurman sein.« Er musterte mich, während ich meine Unfähigkeit verfluchte, mir ein gutes Pseudonym auszudenken. Schließlich ließ er mich herein. »Hier entlang, bitte.«

Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, das ich noch gut aus meiner früheren Zeit bei Dr. Kostich kannte.

»Ihr Termin ist hier, Meister. Eine Miss Uma Thurman.«

Dr. Kostich blickte aus dem Fenster, dann drehte er sich um. Stirnrunzelnd blickte er zur Tür und sagte: »Die Schauspielerin? Was tut sie … du!«

»Hallo, Dr. Kostich. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich einen falschen Namen benutzt habe, aber ich wusste, dass Sie mich niemals empfangen würden, wenn ich mich unter meinem richtigen Namen angemeldet hätte. Ich darf mich doch setzen, oder?«

»Natürlich«, sagte eine Frauenstimme von der Tür, die zu einem der Schlafzimmer führte. Überrascht fuhr ich herum und lächelte, als ich die Frau sah, die mit ausgestreckten Händen auf mich zukam.

»Violet!«

»Tully, wie schön, dich wiederzusehen.« Sie ergriff meine Hände und küsste mich auf beide Wangen. Ihr leichter französischer Akzent war so elegant wie ihre Erscheinung. Zierlich und dunkelhaarig strahlte sie eine Anmut aus, um die ich sie insgeheim beneidete. Möglicherweise hatte es etwas mit der Tatsache zu tun, dass sie über hundert Jahre alt war, aber ich glaubte eher, dass es an ihrer Persönlichkeit lag. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Fünf oder sechs Jahre? Vater, warum hast du mir nicht gesagt, dass Tully dich besuchen kommt? Setz dich, meine Liebe, und erzähl mir, wie es dir geht. Hast du deinen entzückenden Jungen auch dabei? Und was soll das ganze Gerede, du seiest in Wirklichkeit ein Drache? Vater weigert sich, darüber zu sprechen, also muss es ja etwas Schockierendes sein.«

»Sie setzt sich nicht. Sie bleibt auch nicht. Tully Sullivan, du kennst weder Scham noch Anstand, es so auszunutzen, dass meine Tür jedem offen steht«, sagte Dr. Kostich und trat erregt auf uns zu. »Adam, schaff mir diese Person aus den Augen.«

Der junge Mann an der Tür zögerte und betrachtete mich misstrauisch.

»Oh, Vater, nein. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich Tully zuletzt gesehen habe, und sie ist genau die Richtige für unser Problem«, bat Violet. »Lass sie bleiben, bitte. Wir haben uns so viel zu erzählen.«

Dr. Kostich runzelte die Stirn nur noch mehr, und ich sah ihm an, dass er mich am liebsten hinausgeworfen hätte, aber Violet war immer schon seine Lieblingstochter gewesen, und ich wusste aus meiner Zeit als Zauberlehrling, dass sie so gut wie alles bei ihm durchsetzen konnte. »Sie ist hier nicht willkommen.«

»Doch, natürlich ist sie willkommen. Setz dich hin, Tully. Oh, ich sollte dich vermutlich jetzt Ysolde nennen. Vater hat mir gesagt, dass das dein richtiger Name sei. Und so ein hübscher noch dazu. Was führt dich zu uns?«

»Äh …« Ich warf Dr. Kostich einen Blick zu. Er blickte mich böse an, aber schließlich schnaubte er, entließ den jungen Mann an der Tür mit einer Handbewegung und setzte sich auf den Sessel uns gegenüber. »Nun … das ist eine ziemlich lange Geschichte.«

»Das sind die besten. Ich kann es kaum erwarten … Was ist das?« Violet beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, um meine Brust zu betrachten. Staunend riss sie den Mund auf. Dann wandte sie sich aufgebracht an ihren Vater. »Ein Verbot, Vater?«

Arrogant erwiderte er ihren vorwurfsvollen Blick. »Ja, ein Verbot. Sie hat mein Vertrauen missbraucht, ihrem Berserker von Wyvern erlaubt, mich beinahe umzubringen, und sie hat mit verwünschten Bananen nach mir geworfen. Jedes für sich genommen würde schon für ein Verbot ausreichen – sie kann froh sein, dass ich sie nicht nach Akasha verbannt habe.«

»Um Himmels willen …« Violet schüttelte den Kopf. »Tully würde dich niemals betrügen. Sie war die beste von allen deinen Schülern.«

»Das sagst du nur, weil ihr zwei immer allen möglichen Unsinn gemacht habt, wenn ich nicht hingesehen habe.«

Violet grinste frech. »Weißt du noch, damals in Prag, Tully, vor dreißig Jahren oder so, auf der GOTDAM-Konferenz, als Vaters anderer Lehrling – wie hieß sie noch gleich? Ich habe ihren Namen vergessen, aber sie war so ziemlich das Nervigste, was mir je untergekommen ist. Und sie war hinterhältig. Sie hat doch so angegeben, dass sie mit dem Direktor der Orakel-Gewerkschaft zusammen war, und wir haben ihr weisgemacht, er würde sie mit einer Hüterin betrügen, und deshalb hat sie ihn nackt aus ihrem Zimmer geworfen. Er ist zu Vater gegangen, um sich zu beschweren, und in dem Moment kam eine Gruppe von Wahrsagern vorbei, und sie dachten, Vater würde eine wilde Orgie veranstalten …«

»Es reicht jetzt«, unterbrach Dr. Kostich seine Tochter streng.

»Daran kann ich mich leider nicht erinnern«, sagte ich traurig zu Violet. »Mein Gatte – der Mann, den ich für meinen Gatten gehalten habe – hat mein Gedächtnis ausgelöscht. Aber es klingt, als hätten wir viel Spaß gehabt.«

»Oh ja, das hatten wir. Du warst damals noch kein Lehrling, sondern nur Schülerin, aber wir hatten wirklich eine schöne Zeit.«

Dr. Kostich schnaubte erneut und versuchte, das Gespräch an sich zu reißen. »Warum bist du hier, Tully Sullivan?«

Ich zuckte vor Schmerz zusammen, als er meinen vollen Namen aussprach. Obwohl meine Geschichte mit Dr. Kostich ein wenig ungewöhnlich war, war er doch der mächtigste lebende Magier, eine Tatsache, die er niemanden, und am wenigsten mich, jemals vergessen ließ.

»Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, das Verbot aufzuheben«, sagte ich ruhig.

»Nein.«

»Vater!«

»Nein!«, sagte er vehement und bedachte auch seine Tochter mit einem zornigen Blick. »Du weißt gar nicht, was sie getan hat, Violet.«

»Nein, aber ich kenne Tully, und sie würde nichts von dem tun, was du ihr vorwirfst.«

»Nun …« Ich schenkte ihr ein gequältes Lächeln. »Ich habe tatsächlich ein paar Energiebälle auf ihn abgeschleudert, und sie haben sich zufällig in Bananen verwandelt, aber das habe ich nur getan, weil er versucht hat, Baltic zu töten, wobei ein paar Stühle und ein Tablett mit antiken Kristallgläsern zu Bruch gingen. Und zum letzten Mal«, sagte ich und wandte mich an Dr. Kostich, »Baltic ist nicht fett! Er ist ein Drache! Und die Drachengestalt ist üppiger als die menschliche Gestalt!«

Violet blinzelte verwirrt.

»Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Baltic Ihnen das Lichtschwert freiwillig gegeben hat, obwohl er es gar nicht hätte tun müssen. Und da er das getan hat, fände ich es nur gerecht und fair, wenn Sie dafür das Verbot von mir nähmen.« Ich erwähnte nicht, dass Baltic vorhatte, das Lichtschwert von Antonia von Endres wieder zurückzuholen, wenn Thala erst einmal frei war und er mit dem Wiederaufbau von Dauva begonnen hatte.

»Das erscheint mir auch nur fair.« Violet nickte und blickte ihren Vater nachdenklich an.

»Nein. Sie muss bestraft werden, weil sie mich betrogen hat. Sie – was ist denn, Adam?«

Der junge Mann, anscheinend der Lehrling, der mich ersetzt hatte, hielt ein Telefon in der Hand. »Der Leiter der Wache ist am Telefon, Meister. Er sagt, er muss Sie wegen einer dringenden Angelegenheit in Paris sprechen.«

Seufzend stand Dr. Kostich auf und warf Violet und mir einen strengen Blick zu. »Ich verbiete dir, noch weiter darüber zu sprechen, Violet.«

Sie verdrehte die Augen und wartete, bis ihr Vater das Zimmer verlassen hatte. Dann fragte sie. »Wie hast du Vater denn betrogen?«

Ich verzog das Gesicht. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich kann doch nichts dafür, dass in mir ein Drache verborgen ist. Ich wusste es doch gar nicht. Ich dachte immer, ich sei sterblich.«

Sie musterte mich. »Selbst ich konnte sehen, dass du nicht sterblich bist, aber du siehst auf jeden Fall aus wie ein Mensch«, sagte sie. »Vater muss das Verbot unbedingt aufheben.«

»Wenn du ihn dazu überreden könntest, wäre ich dir ewig dankbar.«

»Dankbar genug, um mir zu helfen?«, fragte sie rasch.

»Du brauchst meine Hilfe? Wobei? Meine Zauberkraft ist im Moment nicht sehr ausgeprägt.«

»Nein, nein, deine Magie brauche ich nicht.«

»Und wobei soll ich dir dann helfen?«

»Bei einem Drachen. Nein, bei mehr als einem, es ist eine Gruppe von Drachen.«

»Was für eine Sippe?«

»Das weiß ich nicht. Das ist Teil des Problems. Kannst du dich noch an Maura erinnern? Obwohl, nein, das war, bevor ich dich kennenlernte.«

»Leider kenne ich den Namen nicht, aber ich kann mich erinnern, dass du eine Tochter hattest.«

»Habe ich dir jemals erzählt, dass ich vor etwa fünfundneunzig Jahren wahnsinnig verliebt war in einen roten Drachen namens Lao?«

Ich schüttelte verblüfft den Kopf. »Wie gesagt, mein Gedächtnis ist ziemlich in Mitleidenschaft gezogen.«

»Egal. Es gibt auch nicht viel zu erzählen. Wir waren ein paar Jahre zusammen, dann trennten wir uns. Aber er hinterließ mir ein Geschenk in Gestalt einer kleinen Tochter.«

Ich blickte sie amüsiert an. »Dr. Kostich hat eine Enkelin, die Halbdrache ist?« Das musste ich Baltic erzählen!

»Ja, aber er redet nicht darüber. Er setzt sich nicht gerne mit meinem ›kleinen Fehltritt‹, wie er es nennt, auseinander.« Violet lachte. »Er liebt Maura natürlich abgöttisch, weil sie wirklich ein liebes Mädchen ist. Sie ist nur ein bisschen eigensinnig, aber das hat sie von ihrem Vater geerbt.«

Der Gedanke an Dr. Kostich und seine eigensinnige Enkelin brachte mich zum Schmunzeln.

»Maura ist sehr klug, genau wie mein Vater. Da sie jedoch Halbdrache ist, hat sie natürlich seine Magierfähigkeiten nicht geerbt – nun ja, meine Geschwister und ich ja auch nicht –, aber sie erwies sich als begnadete Beschwörerin.«

»Beschwörerin?«, fragte ich. »Hat das etwas mit Geistern zu tun?«

»Ja, sie ist sehr begabt. Vor zwei Jahren hat sie in einem Sommercamp bei einer archäologischen Ausgrabung ein ganzes Türkendorf heraufbeschworen. Sie kann nicht nur Geister beschwören, sondern auch Schatten herbeirufen, und du weißt ja, wie schwierig das ist.«

»Schatten? Ich glaube nicht …« Ich durchforstete die schwarze Masse meiner Erinnerung. »Sind das nicht auch Geister?«

»Nun ja, theoretisch schon. Es gibt wohl alle möglichen Sorten von Geistwesen, aber Schatten besitzen mehr Autonomie und sind nicht an den Beschwörer gebunden, bis er sie wieder freigibt. Sie können sogar für eine gewisse Zeit in Körper schlüpfen. Maura ist einer der wenigen Beschwörer, die sie erfolgreich herbeirufen können. Sie achtet allerdings streng darauf, ihre Gabe nicht zu missbrauchen. Vater ärgert sich darüber, da er sie lieber unter der Fuchtel des Au-delà hätte als in der Akasha-Liga. Aber sie ist zufrieden mit ihrem Job … das heißt, sie war es, bis sie einigen bösen Drachen in die Hände geriet.«

»Und du weißt nicht, zu welcher Sippe sie gehören?« Ich fragte mich, ob sie wohl etwas mit den blauen Drachen zu tun hatten.

»Nein, sie gehören wohl zu gar keiner Sippe. Sie sind – wie nennt ihr sie? – Ausgestoßene.«

»Ouroboros-Drachen?« Ich schloss kurz die Augen und überlegte, ob ich ihr anvertrauen sollte, dass sowohl Baltic als auch ich in den Augen des Weyr ouroboros waren.

»Ja, genau, das ist das Wort. Die Ausgestoßenen bilden wohl keine eigene Sippe, sondern eher einen Stamm oder so etwas in der Art,« sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Und Maura steckt in Schwierigkeiten wegen dieser Ausgestoßenen, Tully. Sie ist in irgendetwas verwickelt und ist zu stur, um Hilfe zu bitten.«

»In was ist sie verwickelt?«, fragte ich. Die Vorstellung, dass der Drachenhasser Dr. Kostich einen Halbdrachen zur Enkelin hatte, verwirrte mich immer noch.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Violet. »Sie will es mir nicht sagen. Aber ich weiß, dass sie Probleme hat, und da Drachen nun mal so sind, wie sie sind, finde ich niemanden, der ihr helfen kann. Aber du bist doch jetzt ein Drache, oder?«

»Na ja … in gewisser Weise schon. Mein Drache schläft zwar noch, aber ich bin die Gefährtin eines Wyvern, und im Weyr bedeutet das offensichtlich schon was.«

»Ja, genau.« Sie nickte. »Du verfügst über Einfluss und Kräfte, und diese Drachen, die Maura hereingelegt haben, werden vor Ehrfurcht vor dir erstarren. Du bist die ideale Person, um uns zu helfen.«

»Ich sehe zwar nicht ganz wie, aber ich helfe dir natürlich gern.«

»Und ich werde dich dafür auch belohnen. Vater wird das Verbot aufheben, wenn du die arme Maura davor bewahrst, etwas zu tun, das sie für den Rest ihres Lebens bedauern würde.«

Dr. Kostich kam ins Zimmer zurück. Wütend funkelte er seine Tochter an. »Ich habe dir ausdrücklich verboten, dieses Thema vor Fremden anzusprechen.«

»Tully ist keine Fremde, Vater«, widersprach Violet.

»Sie gehört nicht mehr zu uns. Ich erkenne sie nicht als Magierin an«, widersprach er.

Ich seufzte. Warum konnte nichts in meinem Leben jemals leicht sein?

»Mir ist es egal, ob sie eine Dämonenfürstin ist!«, erklärte Violet. Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Sie hat gesagt, sie würde uns mit Maura helfen, und alles andere ist mir egal. Aber wenn du das Verbot nicht aufhebst, wird sie es nicht tun.«

»Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas in der Art zu tun. Wir brauchen ihre Hilfe nicht«, knurrte er.

Sie stritten sich zwanzig Minuten lang, bis Dr. Kostich schließlich seine Tochter, nachdem er sie mit sehr ungehörigen Ausdrücken auf Lateinisch belegt hatte, gereizt anfuhr: »Ich werde das Verbot nicht aufheben. Es wäre der reinste Wahnsinn zum jetzigen Zeitpunkt. Aber ich willige ein, es zu tun, wenn sie uns bei Maura helfen kann. Ich tue das nur, weil Maura so dumm war, sich mit Drachen einzulassen! Ich kann nur hoffen, das wird euch beiden eine Lektion sein!«

»Wenn ich gesetzlosen Drachen Angst einjagen will, muss ich doch meine Magie benutzen können«, wandte ich ein.

»Ja, das stimmt. Es mag ja unterhaltsam sein, Dinge in Bananen zu verwandeln, aber bösen Drachen wird das wohl kaum Respekt einflößen.«

Kostich knirschte mit den Zähnen. »Ich werde das Verbot nicht aufheben.«

Meine Hoffnungen zerschellten an den Felsen der Verzweiflung.

»Ich werde ihr jedoch für eine Zeitlang die Gnade der drei Weisen verleihen. Damit sollte sie in der Lage sein, Maura aus dem Griff der Ouroboros zu befreien.«

Er vollzog eine komplizierte Geste über meinem Kopf und badete mich in einem blauen Licht, das über meine Haut lief, bis es schließlich mit einem letzten Flimmern verschwand. Ich holte tief Luft. Ein wärmendes Gefühl schien mich einzuhüllen. »Ich möchte ja nicht undankbar erscheinen, aber mir wäre es lieber, Sie würden das Verbot aufheben.«

Er blickte mich finster an, und ich hatte auf einmal das ungute Gefühl, er würde mich gleich vernichten.

»Äh … nein, danke schön. Ihr Segen wird sicher ausreichen. Violet, wenn du mir bitte alle Informationen über Maura und diese Drachen geben würdest, dann füge ich sie zu der Liste der Dinge hinzu, die ich erledigen muss.«

Dr. Kostich warf mir einen Blick zu, der mich für zehn Sekunden erstarren ließ. Mein Herz blieb stehen, die Luft stockte in meinen Lungen und mein Blut floss langsamer durch meine Adern. Erst als er das Zimmer verließ, löste er seinen Griff.

Ich sank auf einen Sessel und griff mir mit zitternder Hand an den Hals. »Ich hasse es, wenn er das tut.«

»Dein Herz anhalten? Das ist reine Effekthascherei, aber ich habe ihm schon so oft gesagt, dass er nicht zu so extremen Mitteln greifen soll, um seinen Standpunkt klarzumachen.« Violet setzte sich an einen eleganten antiken Sekretär und schrieb rasch etwas auf. »Nach meinen letzten Informationen war Maura in Deutschland. Hier ist die Adresse, die ich habe, aber ich muss dich warnen – sie lässt sich nur ungern helfen. Sie glaubt, die Situation alleine lösen zu können, aber bisher ist es immer nur noch schlimmer geworden, und ich glaube, der Zeitpunkt, an dem sie ohne größere Blessuren aus der Sache herauskommen kann, ist längst verstrichen.«

Ich ergriff das Blatt Papier, das sie mir reichte, wobei ich mich fragte, ob Baltic wohl von dieser Gruppe von Drachen wusste. »Was tun sie denn, was deine Tochter so in Gefahr bringt?«

Violet erhob sich, um unser Gespräch zu beenden. »Sie haben Suffrage House angegriffen und zahlreiche Gegenstände von unermesslichem Wert aus den Schatzkammern des Au-delà gestohlen.«

»Sie haben das Hauptquartier der Anderwelt bestohlen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich? Ich dachte, die Sicherheitsvorkehrungen dort seien nicht zu überwinden.«

»Genau das will Vater wissen.« Sie blickte einen Moment lang auf ihre Hände, dann hob sie den Kopf und sah mich an. »Er hat eine Belohnung auf ihre Köpfe aussetzen lassen, auch auf Mauras. Aber das ist noch nicht das Schlimmste.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das eigentlich gar nicht wissen will, aber fahr ruhig fort – ich bin auf alles gefasst.« Langsam erhob ich mich.

»Die Artefakte, die sie gestohlen haben, sind theurgischer Natur.« Sie machte eine Pause, dann nickte sie. »Ja, offensichtlich wollen sie die Kräfte des Au-delà selbst herausfordern, und wir wissen beide, wie das aller Wahrscheinlichkeit nach ausgehen wird. Rette meine Tochter, Tully. Rette Maura vor dem Untergang. Dann wird Vater das Verbot für dich aufheben. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass du dir auch noch eine Belohnung wünschen kannst.«

Vor meinem geistigen Auge tanzte das Bild des Lichtschwertes. Ich straffte die Schultern und ergriff meine Sachen. »Ich rufe dich an, wenn ich etwas in Erfahrung gebracht habe.«

»Tully …« Violet biss sich auf die Lippe. »Maura glaubt, sie sei stärker, als sie in Wirklichkeit ist.«

Ich drückte ihr die Hand. »Lass den Mut nicht sinken. Ich mag ja keine große Magierin sein, aber Drachen sind sehr schwer zu töten, und mit dem Segen deines Vaters kann ich dir Maura bestimmt ohne allzu große Probleme wiederbringen.«

Hassen Sie es nicht auch, wenn Ihre eigenen Worte Sie verfolgen?