2

»Ysolde. Brom.« Fünf Sekunden vergingen. »Baltic.«

»Hallo, Gabriel.« Ich lächelte die kleine Gruppe an, die vor einem Haus in einer vornehmen Wohngegend von London stand. »May, ist der Catsuit aus Leder? Ich wollte schon immer einen haben, aber ich habe einfach nicht die Figur dafür. Du siehst fabelhaft darin aus. Hallo, Maata. Ich hoffe, du bereust nicht schon inzwischen dein Angebot, mit Brom schon wieder ins British Museum zu gehen. Ich dachte, er hat dich schon beim letzten Mal fertiggemacht. Oh, Gabriel, ich habe eben mit deiner Mutter gesprochen – anscheinend ist eine meiner Visionen bis in ihre Traumwelt vorgedrungen, und sie wollte nachfragen, wie es mir geht. Sie lässt euch beide grüßen. Sie ist ja so was von lieb. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich ihr bin, dass sie sich so um mich sorgt. Um uns. Kommt sie bald wieder zu Besuch? Dann würde ich sie schrecklich gerne wiedersehen. Vielleicht könnten wir ja ein heimliches Abendessen oder so vereinbaren. Der Weyr braucht ja nichts davon zu erfahren. Ich habe ein neues Rezept für gefüllte Pilze, das ich unbedingt ausprobieren möchte.«

Neben mir stieß Baltic einen leisen Seufzer aus. »Gefährtin …«, protestierte er.

»Man nennt das Small Talk, Baltic. May und ich werden jetzt damit weitermachen, deshalb hörst du am besten auf, dich darüber aufzuregen.« Ich lächelte May und Gabriel zu, die mein Lächeln amüsiert erwiderten. Gabriels Elite-Wachen Maata und Tipene standen direkt hinter ihnen. Maatas Lippen zuckten, aber ihre Miene blieb ebenso unbewegt wie die Tipenes.

Wir waren schon eine merkwürdige Truppe, die da auf dem Bürgersteig stand.

Baltic, Brom und ich standen mit Pavel den silbernen Drachen gegenüber. May hatte uns zwar ins Haus gebeten, aber Baltic und Gabriel hatten darauf bestanden, dass Brom draußen vor der Tür übergeben werden müsse.

»Du hattest wieder eine Vision?«, fragte May und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, eine sehr interessante.« Ich warf Baltic, der Gabriel finster musterte, einen Blick zu. Ich hatte keine Zeit mehr gehabt, ihm von der Vision zu erzählen, aber ich wollte es bei der nächsten Gelegenheit nachholen. »Ich glaube, es hing mit der Aufgabe zusammen, die der Erste Drache mir gestellt hat.«

»Wirklich?« Ihre blauen Augen blitzten interessiert auf, und zum Entsetzen ihres Wyvern löste sie sich aus der Gruppe, ergriff mich am Arm und zog mich zum Tor, das in den winzigen Garten hinter dem Haus führte. »Erzähl mir davon.«

»May!«, sagte Gabriel mit ungläubiger Stimme.

»Ysolde, das ist gegen das Protokoll«, fuhr Baltic mich an. »Du verletzt die Bedingungen, die der silberne Wyvern und ich ausgehandelt haben. Komm sofort her und stell dich neben mich, wie es deine Pflicht ist.«

»Oh, Mann, sie werden immer so unleidlich, wenn man ihre Pläne durchkreuzt«, sagte ich zu May.

»Ich würde nicht so weit gehen und Gabriel als unleidlich bezeichnen, aber er kann wirklich ein bisschen unflexibel sein, wenn es um Baltic geht«, stimmte sie mir zu.

»Mayling!«, wies ihr Gefährte sie zurecht.

Grinsend blies sie ihm einen Kuss zu.

»Ich komme gleich wieder. Du kannst ja in der Zwischenzeit einen Latte oder so trinken gehen«, sagte ich zu Baltic und folgte May hinter das Haus.

»Ich will keinen Latte! Gefährtin! Komm sofort wieder neben mich!«

»Oh, wie ich das liebe, wenn du so bestimmend und gebieterisch wirst«, rief ich ihm über die Schulter zu. »Soll ich dich jetzt schon Drake nennen oder erst später?«

May kicherte.

Das Wort, das Baltic daraufhin hervorstieß, war nicht gerade nett, aber da er es in Zilant von sich gab, der jahrhundertealten Drachensprache, bevor Englisch das Standardkommunikationsmittel wurde, ließ ich es ihm kichernd durchgehen und winkte Brom zu, der bereits mit Maata im Haus verschwand.

»Wir haben höchstens fünf Minuten Zeit, bevor Baltic Gabriel so sehr beleidigt, dass es in eine Prügelei ausartet«, sagte ich zu May, als ich mich auf den Gartenstuhl setzte, den sie mir zuwies. »Wir sollten uns beeilen.«

»Ich bin ganz Ohr.« Schweigend saß sie mir gegenüber, als ich ihr von dem Erlebnis erzählte, das ich früher am Tag gehabt hatte. Keine von uns dachte sich etwas dabei, dass ich ihr so etwas Persönliches wie meine Vision erzählte – durch das Stück Drachenherz, das wir beide einmal in uns gehabt hatten, gab es eine Verbindung zwischen uns: das Band zum Ersten Drachen. Es war keine Frage, dass sie von der Vision, die er mir gegeben hatte, erfahren musste. Sie unterbrach mich nicht, als ich ihr die Szene beschrieb, aber ich wusste, dass Constantines Äußerung über Baltic sie genauso erschreckte wie mich.

»Und, was meinst du?«, fragte ich, als ich fertig war.

Sie schwieg einen Moment lang. »Ich glaube, wir brauchen Aisling.«

»Oh, warum denn? Es war ja nicht von einem Dämon oder so die Rede. Wozu sollten wir eine Hüterin brauchen?«

»Drei Köpfe sind immer besser als zwei, und sie kann Drake auf jeden Fall Informationen entlocken, die nützlich sein könnten. Wenn Baltic nichts zu Constantines Äußerungen sagen will, dann wette ich mit dir, dass Aisling es von Drake erfahren kann.«

»Ja, da hast du recht.«

Sie zog ihr Handy heraus und tippte eine Nummer ein. »Außerdem ist sie ja auch in das Ganze verwickelt. Kostya ist Drakes Bruder, und da Baltic und Kostya Freunde waren – bevor Kostya ihn tötete, natürlich –, hängt sie auch da irgendwie mit drin, wenn du so willst. Hallo, Aisling! Ich bin es, May. Hast du in den nächsten Tagen Zeit, dich mit Ysolde und mir zu treffen? Sie hatte wieder eine Vision, und ich denke, das wird dich interessieren. Warte mal, ich schalte auf Lautsprecher, damit Ysolde mithören kann.«

Sie drückte einen Knopf und hielt das Telefon zwischen uns.

»Ich würde mich gerne mit euch beiden treffen, aber ihr seid euch doch im Klaren darüber, dass das den Jungs nicht gefallen wird.«

»Ja, sicher«, sagte ich ins Handy.

»Okay, ich wollte es nur erwähnen. Drake hat mir sogar verboten, dich zu sehen, Ysolde. Er schien zu glauben, dass May und ich noch ein Ass im Ärmel hätten, um diesen blöden Krieg zu beenden. Drachen! Also ehrlich! Immer misstrauisch!«

Das Lachen in ihrer Stimme brachte May und mich zum Lächeln. »Wartet mal, ich sehe in meinem Terminkalender nach, wann ich hier einmal wegkomme, ohne dass Drake etwas erfährt …«

Es dauerte genau fünf Minuten, da hörten wir Geschrei von der Straße her. Als wir vors Haus rannten, standen sich die beiden Wyvern Nase an Nase gegenüber und schrien sich auf Zilant an.

»Verstehst du, was sie sagen?«, fragte May mich.

Ich hörte ein bisschen zu. »Nicht viel, aber ich glaube, Gabriel hat gerade zu Baltic gesagt, seine Mutter sei ein Arschloch. Oder vielleicht auch ein Stachelschwein. Und ich glaube, er hat Gabriel aufgefordert, einen anatomisch unmöglichen Akt durchzuführen.«

Baltic warf mir einen finsteren Blick zu. Gabriel machte nicht ganz so ein böses Gesicht, aber man sah keins seiner Grübchen, als er die Hand nach May ausstreckte.

»Seid ihr fertig?«, fragte Baltic säuerlich. Er streckte nicht die Hand nach mir aus, aber ich trat trotzdem neben ihn, da er angeschlagen aussah.

»Ja, wir sind fertig. Danke für deine Geduld.« Ich schmiegte mich an ihn und lächelte Gabriel an. »Bitte sagt uns Bescheid, wenn Brom es mit seinen Besuchen im British Museum übertreiben will. Und danke, dass ihr ihn trotz der angespannten Situation aufnehmt. Wir holen ihn am Sonntagabend ab. Es war schön, euch wiederzusehen.«

Baltic fand offenbar, dass jetzt genug Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, und drängte mich zum Auto, das ein paar Meter weiter im Parkverbot stand. »Es reicht jetzt, Ysolde. Als das hier geplant wurde, hast du nichts davon gesagt, dass wir die silbernen Drachen besuchen wollen.«

»Hättest du denn dann zugestimmt?«, fragte ich ihn neugierig.

»Nein.« Er stieg neben mir ein und sagte Pavel, er solle losfahren. »Sie haben uns den Krieg erklärt. Sie sind diejenigen, die zu uns kommen müssen, nicht umgekehrt.«

»Wann bist du eigentlich wiederauferstanden?«

Der plötzliche Themenwechsel erregte seine Neugier. »1971. Warum?«

»Weil du dich für einen vierzigjährigen Mann benimmst, als seiest du im Mittelalter aufgewachsen.«

»Das bin ich ja auch.«

»Das sollte sarkastisch sein, Baltic.«

»Das weiß ich, aber ich habe es bewusst ignoriert«, antwortete er und ergriff meine Hand. Ich musste unwillkürlich lächeln. Wenn es um andere Drachen ging, war er so widerborstig, aber ich wusste ja, wie sehr er über all die Jahre gelitten hatte. Da durfte er ab und zu auch ein wenig Dampf ablassen.

»Apropos Thala, wie sieht denn euer neuester Plan aus, sie zu befreien?«

Pavel lachte, während Baltic antwortete: »Wir haben sie in einem Haus in West Sussex ausfindig gemacht. Pavel wird es dieses Wochenende auskundschaften, und dann greifen wir an.«

Ich seufzte. »Willst du nicht lieber versuchen, sie ohne Gewaltanwendung zu befreien?«

»Das hat doch nicht funktioniert, wie du wissen solltest, seit du dich mit Drake Vireo über das Thema unterhalten hast.«

Ich ging nicht auf seinen bitteren Tonfall ein. »Es lohnt sich, mit Drake und den anderen noch einmal zu verhandeln. Schließlich hat sich Gabriel zumindest bemüht, höflich zu sein, indem er Brom zu sich eingeladen hat. Vielleicht halten die Wyvern dir ja einen Olivenzweig hin.«

»Das bezweifle ich.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Ich weiß, du willst diesen Krieg nicht, aber wir haben ihn nicht angezettelt. Wir haben kein Mitglied des Weyr angegriffen.«

»Sie uns auch nicht. Na ja, wenn man einmal davon absieht, dass Kostya dir letzte Woche schon wieder die Nase gebrochen hat, aber das lag vor allem wohl daran, dass du ihn als ›diebischen, hinterhältigen, verräterischen Hurensohn‹ beschimpft hast.«

Baltic rieb sich die Nase. »Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie den Krieg abblasen und den ersten Schritt auf uns zumachen müssen.«

Ich schwieg, aber mein Herz weinte.

Baltic, der meine Stimmungen immer spürte, legte die Hand auf mein Bein und drückte es beruhigend. »Wenn ich dir verspreche, dass wir so wenig Drachen wie möglich töten werden, um Thala zu befreien, bist du dann beruhigt?«

»Oh, ich weiß, dass du trotz deines Rufs als entfesselter Irrer keineswegs einfach nur so aus Spaß an der Freude jemanden tötest, aber darum geht es mir gar nicht. Ich will nicht, dass überhaupt jemand stirbt, Baltic. Und das betrifft auch die Soldaten, die Drake zu Thalas Bewachung abgestellt hat.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte er aufgebracht.

»Na ja …« Ein Gedanke durchfuhr mich. Damit konnte ich mein Gewissen erleichtern, weil ich Heimlichkeiten vor Baltic hatte, und trotzdem würde alles zu einem guten Ende kommen. »Wenn du nicht mehr mit Drake und den anderen Wyvern über Thalas Freilassung reden willst, dann kann ich das ja übernehmen. Oder vielleicht kann ich ja mit May und Aisling reden. Und Cyrene natürlich, obwohl … kam es dir auch so vor, als ob die Beziehung zwischen Kostya und Cyrene ein bisschen angespannt war, als wir ihnen letzte Woche begegnet sind?«

»Bei Kostya ist definitiv alles Mögliche angespannt«, grollte er.

Ich tätschelte sein Knie. »Mal abgesehen von persönlichen Animositäten, hatte ich das Gefühl, wir hätten sie bei einem Streit unterbrochen. Ich frage mich … nein, das spielt jetzt wirklich keine Rolle. Was habe ich gerade gesagt? Oh, wenn ich mit Aisling und May über Thala rede, dann werden sie sicher Vernunft zeigen. Sie wollen den Krieg genauso wenig wie wir – Kriege sind gefährlich, und sie wollen ihre Liebsten nicht in Gefahr bringen. Ich könnte wetten, dass sie ihre Wyvern wesentlich besser dazu überreden könnten, Thala freizulassen, als du. Schließlich war der Weyr doch hinter dir her, und da sie jetzt wissen, dass du keineswegs der Irre bist, für den sie dich gehalten haben, haben sie doch eigentlich keinen Grund mehr, Thala festzuhalten.«

»Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst«, sagte er steif.

»Bei May und Aisling?«, erwiderte ich.

Er schnaubte. »Ich gebe ja zu, dass keine der Gefährtinnen dir etwas antun wird, aber den Wyvern traue ich nicht.«

»Immerhin hast du Brom Gabriel anvertraut«, sagte ich.

»Ja, aber kein Wyvern würde einem Kind etwas zuleide tun. Mein Sohn ist bei dem silbernen Wyvern sicher. Aber mit meiner Gefährtin ist das etwas anderes.«

»Ich will ja auch nicht Gabriel besuchen, sondern mich nur ein bisschen mit May und Aisling unterhalten. Ich denke, wenn wir zu Hause sind, rufe ich sie an und verabrede mich mit ihnen zum Mittagessen.« Ich versuchte, so nonchalant wie möglich zu klingen, aber ich bin eine schlechte Schauspielerin. Meine Stimme klang gekünstelt, da ich ja wusste, dass wir den Termin bereits festgelegt hatten. Zum Glück überlegte Baltic immer noch, wie er seine Stellvertreterin Thala am besten befreien sollte.

»Es gefällt mir zwar nicht, aber wenn du unbedingt willst, werde ich dich nicht daran hindern«, sagte er und begann mit Pavel ein Gespräch darüber, wie sie am besten in das Haus eindringen könnten, in dem man Thala gefangen hielt.

Erst am Abend war ich endlich mit ihm alleine.

»Wo ist Pavel?«, fragte ich und stellte köstlich duftendes Bœuf bourguignon vor ihn hin.

»Er kommt nicht zum Abendessen. Er besucht einen Freund«, antwortete Baltic und zog mir einen Stuhl hervor.

Ich machte Anstalten, mich zu setzen, hielt aber inne. »Einen Freund? Einen romantischen Freund? Einen Liebhaber?«

Baltic blickte mich stirnrunzelnd an und setzte sich. »Nein, eine Frau. Ich habe dir doch gesagt, er zieht kein bestimmtes Geschlecht vor.«

»Oh, eine Freundin also. Schade. Und du kannst aufhören, mich so anzusehen. Ich sage dir jetzt schon seit zwei Monaten, dass ich keineswegs bizarre sexuelle Gelüste habe, und ich habe auch kein Interesse an einem flotten Dreier, weder mit Pavel noch mit sonst jemandem.«

»Freut mich zu hören, denn ich habe beschlossen, dir nicht zu erlauben dabei zuzuschauen, wenn Pavel mit einem männlichen Partner zusammen ist. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, und er war auch dazu bereit, aber ich bin der Meinung, dass meine Gefährtin der Anblick eines Mannes, der mit einem anderen Mann zusammen ist, nicht erregen sollte.«

»Ich habe dir doch wiederholt erklärt, dass mich das höchstens am Rande interessiert.« Ich knallte den Löffel auf den Tisch, mit dem ich ihm gerade das Essen auftun wollte. »Himmel, Baltic, ich bin keine sexbesessene Perverse!«

»Das habe ich auch nie behauptet.«

»Nein, aber du unterstellst einer Frau, pervers zu sein, nur weil sie ab und zu ein bisschen Pfeffer braucht. Aber das stimmt einfach nicht. Ich bin mit unserem Sexleben mehr als zufrieden.«

Sein irritierter Blick wich einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »Ja, ich weiß. Letzte Nacht hast du deine Lust so laut herausgeschrien, dass ich beinahe einen Hörschaden davongetragen hätte.«

»Oh, das ist nicht wahr. Jetzt übertreib aber nicht«, sagte ich und füllte unsere Teller. Aber ich wurde doch rot, als ich an die Ereignisse der vergangenen Nacht dachte. »Ich muss allerdings sagen, dass der Einsatz von Federn mir sehr zusagt. Das war sehr einfallsreich.«

Er verzog die Mundwinkel zu einem zufriedenen Lächeln. »Das habe ich in einem Buch gelesen. Ich hatte es schon ausprobieren wollen, bevor dieser Bastard Constantine dich getötet hat, aber ich konnte damals keine geeigneten Federn auftreiben.«

»Da wir gerade von Constantine sprechen«, sagte ich langsam und aß einen Bissen Bœuf bourguignon.

»Wir haben doch gar nicht von ihm gesprochen.«

»Doch, du hast ihn doch erwähnt.«

»Das ist nicht das Gleiche, wie von jemandem zu sprechen. Ich möchte nicht, dass mir das Essen auf den Magen schlägt, nur weil ich mich über diesen mörderischen Verräter unterhalten muss.«

»Nun, das Risiko müssen wir leider eingehen, denn ich möchte durchaus jetzt über ihn sprechen.«

Baltic legte die Gabel hin und warf mir einen durchdringenden Blick zu. »Warum möchtest du das? Bist du so fasziniert von ihm? Bedauerst du es, dass ich dich von Constantine weggeholt habe? Wäre es dir lieber, ich wäre er?«

»Um Himmels willen, Baltic! Hör endlich auf! Nein, ich bedauere nichts. Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich bedauere, ihn verletzt zu haben, als du mich als Gefährtin beansprucht hast, aber daran war er zum Teil auch selber schuld. Und selbst wenn ich bedauern würde, dass du mich ihm weggenommen hast, was ich absolut nicht tue, würde es keine Rolle spielen, weil er tot ist.« Ich schwieg einen Moment. »Er ist doch tot, oder?«

Baltic kniff die Augen zusammen. »Ich habe ihn nicht getötet, wenn du das meinst.«

»Nein, das meine ich gar nicht. Hör endlich auf, mir Drachen-Antworten zu geben.«

»Ich bin ein Drache. Und deshalb antworte ich …«

»Grrr!«, schrie ich und schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Das machst du doch extra, oder? Du versuchst, mich wütend zu machen, damit ich nicht mehr auf das Thema zu sprechen komme, aber das wird nicht funktionieren, Baltic. Unter anderen Umständen könntest du mich ja vielleicht ablenken, aber jetzt nicht. Dazu ist es zu wichtig.«

Er blickte mich empört an. »Warum ist Constantine denn so wichtig für dich? Ich sollte der Einzige sein, der in deinem Leben von Bedeutung ist. Abgesehen von Brom natürlich, der auch sehr wichtig ist. Aber außer ihm …«

»Ich habe keine Zeit zu warten, bis du deine Zweifel endlich abgelegt hast«, brüllte ich.

»Ich habe keine Zweifel! Ich möchte nur wissen, warum es meine Gefährtin nach anderen Wyvern gelüstet!«, schrie er zurück.

Einen Moment lang kam mir ein Bild in den Sinn: ein Mann, der vor lauter Trauer bei der Erinnerung an seine Geliebte auf die Knie gesunken war. Sofort war mein Zorn wie weggeblasen. Ich setzte mich auf seinen Schoß, drückte ihn an mich und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Mein Geliebter, mein einziger Geliebter, mich hat es nie nach jemand anderem gelüstet als nach dir. Nicht in der Vergangenheit, nicht in meinen Träumen, noch nicht einmal in diesen Fantasien, die du für so überspannt hältst. Ich habe dich in meinem anderen Leben gewählt, und ich wähle dich auch in diesem.«

Er ließ sich von mir trösten. Dabei sagte er kein Wort, sondern hielt mich nur fest. Ich hatte zwar Brom gegenüber das Thema heruntergespielt, aber in Wahrheit waren Baltics emotionale Narben so tief, dass ich mich zu fragen begann, ob sie wohl jemals heilen würden.

Das Abendessen war vergessen, als ich tat, was ich konnte, um seinen Herzschmerz zu lindern. Erst nachdem er mir erlaubt hatte, ihn zu lieben, hatte ich das Gefühl, das Thema noch einmal anschneiden zu können.

»Baltic, schlaf jetzt nicht, ich will mit dir reden«, sagte ich und richtete mich auf.

Er öffnete ein Auge und betrachtete mich verärgert. »Ich habe dir gerade Lust bereitet, und jetzt willst du reden? Meine Ysolde …«

»Ja, ich weiß, deine kostbare alte Ysolde hätte dich zu so einem Zeitpunkt niemals belästigt, aber da ich nicht so perfekt bin wie sie, musst du dich eben damit abfinden.«

Er überraschte mich, indem er leise lachte, mich in den Hintern kniff und zur Seite rückte, damit ich mich bequemer an ihn kuscheln konnte. Müßig strich ich über seine starken Brustmuskeln und fuhr mit dem Finger über das Sippen-Symbol, das er über dem Herzen trug.

»Du warst keineswegs perfekt, meine Liebe. Du wolltest auch damals schon nach der Liebe immer reden, obwohl ich dir für gewöhnlich kaum zu antworten brauchte.«

»Wahrscheinlich wusste ich, dass ich sowieso keine Antwort bekommen würde. Ich meine mich erinnern zu können, dass du nach dem Akt meistens sofort eingeschlafen bist«, sagte ich und küsste sein Schlüsselbein.

Mit einem Seufzer schloss er die Augen.

»Ich möchte über Constantine und dich reden«, sagte ich und stützte mein Kinn auf meine gefalteten Hände.

Er riss die Augen auf und blickte mich finster an. Wahrscheinlich hätte er wieder irgendeine empörte Erklärung abgegeben, aber ich kam ihm zuvor, indem ich fortfuhr: »Ich möchte wissen, warum Constantine sich mit Antonia von Endres getroffen hat, und, was noch wichtiger ist, warum der Erste Drache dich aus deiner Sippe geworfen hat.«

Er lag ganz still da, und ein paar Sekunden atmete er noch nicht einmal. Dann blinzelte er. »Woher weißt du von Constantine und Antonia?«

»Ach, du willst erst dieses Thema klären? Okay. Ich hatte heute eine Vision. Nicht wie die Visionen vorher, sondern eine aus einer Zeit, in der ich noch nicht einmal geboren war.« Ich berichtete ihm kurz, was ich gesehen hatte.

Er verzog das Gesicht. »Warum solltest du eine solche Vision haben? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Weder dieser Bastard Constantine noch Antonia hatten etwas mit dir zu tun.«

»Es ergibt einen Sinn, wenn der Erste Drache möchte, dass ich eine Aufgabe erledige, die mit den beiden zu tun hat.«

Er schwieg wieder, dann sagte er schließlich: »Ich wusste gar nicht, dass sie sich tatsächlich getroffen hatten, obwohl ich es eigentlich vermutet habe. Antonia war sehr ehrgeizig, und sie erwartete von mir das Gleiche.«

»In welcher Hinsicht ehrgeizig? Dass du Wyvern wirst oder wie?«

»Nein, darum kämpfte ich bereits«, sagte er und streichelte mir träge über den Rücken. »Ich sollte mehr sein als nur der Wyvern der schwarzen Drachen. Sie wollte, dass ich den gesamten Weyr kontrolliere, damit wir gemeinsam über die Anderwelt herrschten.«

»Du liebe Güte. Und sie glaubte, das würde sie erreichen, indem sie die Konkurrenz ausschaltet?«

Baltic zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihr gesagt, es wäre Wahnsinn. Ich wollte Constantine um die Position des Erben herausfordern und diese rechtmäßig erwerben, aber sie war nicht gerade berühmt für ihre Geduld.«

»Und was ist dann passiert? Warum bist du aus der Sippe ausgestoßen worden?«

»Durch einen komplizierten Umstand, der nichts mit deiner Vision zu tun hat«, antwortete er nach einer langen Pause.

»Ich will ja nicht in dich dringen, wenn du es nicht erzählen willst«, sagte ich und fuhr mit dem Finger die starken Muskeln auf seiner Brust entlang. »Aber wenn ich wüsste, was passiert ist, dann könnte mir das vielleicht einen Hinweis darauf geben, was ich im Hinblick auf Constantine tun soll.«

»Ich versichere dir, dass die Situation nichts mit dem Verräter zu tun hatte.«

Ich blickte in das Gesicht, das ich so sehr liebte, und sah an seinen fest zusammengepressten Lippen und dem entschlossenen Glitzern seiner Augen, dass er mir nicht mehr sagen würde. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, eine letzte Frage zu stellen. »Deshalb kannte dich der Erste Drache auch, oder? Du hast etwas getan, was ihm nicht gefallen hat, und er hat deinen Wyvern aufgefordert, dich hinauszuwerfen. Warum hat das nie jemand erwähnt? Auf dem sárkány vor zwei Monaten schienen Drake und die anderen überrascht zu sein, dass der Erste Drache dich kannte.«

»Niemand, abgesehen von Alexei, Constantine und ein paar anderen, kennt die Umstände«, sagte er zögernd. »Bis auf einen sind alle tot.«

»Hast du nicht gesagt, was du getan hast, hätte nichts mit Constantine zu tun gehabt?«

»Ich habe gesagt, es ging ihn nichts an. Das ist nicht das Gleiche«, erklärte er mit typischer Drachenlogik.

»Wirst du mir eines Tages erzählen, was geschehen ist?«, fragte ich, als er sich an mich schmiegte und die Augen schloss.

Erneut kniff er mir ins Hinterteil. Er zog mich ein wenig zu sich hoch, um mich zu küssen. »Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ja.«

Unwillkürlich fragte ich mich, wie viele Jahrhunderte ich darauf wohl warten musste.