11

»Akasha-Liga, Großbritannien. Mit wem darf ich Sie verbinden?«

»Ich möchte gerne die Dienste eines Beschwörers in Anspruch nehmen. Er muss sich mit Drachen auskennen.«

Ich saß in der Morgensonne auf der Ostterrasse. Brom marschierte mit einer Schaufel und einer Plastiktüte bewaffnet an mir vorbei und verschwand im Gebüsch.

»Äh …« Die Frau am anderen Ende der Leitung war über mein Ansinnen merklich entsetzt. »Drachen?«

»Ja. Haben Sie jemanden, der einen Drachengeist beschwören kann?«

»Ich … ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass jemals ein Beschwörer mit Drachenerfahrung verlangt wurde. Nein, das ist mit Sicherheit noch nicht vorgekommen. Vielleicht verbinde ich sie am besten mit der Buchungsabteilung.«

Brom eilte zurück ins Haus.

Ungeduldig lauschte ich der klassischen Musik in der Leitung der Akasha-Liga. Schließlich ertönte eine Männerstimme. »Buchungsabteilung.«

»Ich möchte gerne einen Beschwörer engagieren, einen, der Erfahrung mit Drachen hat«, sagte ich. »Können Sie mich mit einem verbinden? Ich wohne in der Nähe von London, aber ich bin bereit, durch ganz Europa zu reisen, um mit ihr zu sprechen.«

Brom kam wieder vorbei, dieses Mal mit einem großen Eimer. Erneut verschwand er im Gebüsch.

»Mit ihr?«, fragte der Mann misstrauisch.

»Oder ihm«, fügte ich rasch hinzu. »Ich mache das nicht vom Geschlecht abhängig, solange der Beschwörer Erfahrung mit Drachengeistern hat.«

»Drachengeister?«, wiederholte der Mann. Seine Stimme nahm einen erschöpften Tonfall an. »Madame, Ihnen ist doch sicherlich bewusst, dass es unterschiedliche Typen von Geistern gibt, nicht wahr?«

»Eigentlich nicht. Ich meine, ein Geist ist ein Geist, oder?«

»Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Es gibt gebundene und ungebundene, erlöste und nicht erlöste Geister. Es gibt Alastoren und Ghouls, Schatten, Wiedergänger und Zombies. Jede dieser Formen kann von einem Mitglied der Akasha-Liga heraufbeschworen werden. Wann ist der Drache, um den es geht, gestorben?«

Nico, der grüne Drachen-Tutor, den Baltic widerstrebend für Broms Ausbildung engagiert hatte, lächelte mich an, als er mit einem großen, abgedeckten Tablett und einer kleinen Sichel an mir vorbeiging.

»Oh. Äh, ich weiß es nicht genau.«

Der Mann seufzte schwer. »Ihre Chance, den Geist oder die Wesenheit zu beschwören, hängt davon ab, wie viel Informationen Sie der Person geben können, die Ihnen helfen soll.«

Ich verzog das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich versuche, weitere Informationen zu beschaffen, aber ich halte es wirklich für das Beste, zuerst mit der Person zu sprechen, die den Geist beschwören wird.«

Pavel, bewaffnet mit einem Seil, einer kleinen Kettensäge und einem Teller mit pastellfarbenen Cupcakes, ging mit entschlossenem Gesichtsausdruck an mir vorbei und verschwand im Gebüsch.

»Nun …« Ich hörte, wie die Tastatur betätigt wurde. »Zufällig haben wir eine Beschwörerin, die Drachen als Spezialgebiet aufführt. Möchten Sie ihre Dienste buchen?«

Ich bejahte die Frage, machte dem Mann die nötigen Angaben und bekam endlich den Namen und die Telefonnummer, die ich wollte.

»Ihre Dienste werden nicht billig sein«, warnte der Mann, bevor ich auflegte. »Und sie geht auch nicht gerade freundlich mit Kunden um, die ihre Zeit verschwenden.«

»Oh, darüber müssen wir uns wohl keine Gedanken machen«, erwiderte ich. Ich erhob mich, um nachzusehen, was eigentlich im Gebüsch los war, während ich gleichzeitig überlegte, was ich zu Dr. Kostich sagen sollte.

Nachdem ich die neue archäologische Ausgrabungsstätte bewundert hatte (Nico fasste Geschichte, Botanik, Biologie und ein bisschen Physik auf eine Art und Weise zusammen, die Broms Interesse geweckt hielt), kehrte ich ins Haus zurück, um Maura Lo anzurufen. Sie ging nicht ans Telefon, deshalb hinterließ ich eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, in der ich ihr mitteilte, dass ich an ihren Diensten bei der Beschwörung eines Drachengeistes interessiert sei.

»Es nützt wahrscheinlich nichts, wenn ich dich bitte, deine Pläne noch einmal zu überdenken.«

Ich blickte den Mann an, der mit mürrischem Gesicht in der Tür stand. Mein Herz machte einen Satz bei seinem Anblick, und ich fragte mich, ob ich ihn wohl jemals anschauen könnte ohne dieses kleine Gefühl von Glück. Ich hoffte nicht. »Ich möchte, dass das aufhört, Baltic.«

Kopfschüttelnd trat er ins Wohnzimmer und nahm mich in den Arm. »Es ist zwecklos, Gefährtin. Der Weyr glaubt nur, was er glauben will.«

»Nur weil sie zu stur sind, um die Wahrheit zu sehen. Aber wir können sie auf den richtigen Weg bringen.«

Er seufzte. »Ich wünschte, ich könnte deinen Wunsch, Teil des Weyr zu sein, verstehen.«

Ich schmiegte mich an ihn und atmete seinen wundervollen Duft ein, der mich immer wieder berauschte. »Mir wäre es auch lieber, wenn du es verstehen könntest. Aber da du es nicht kannst, wirst du eben akzeptieren müssen, dass dies für mich wichtig ist. Für uns. Ich will nicht, dass Brom oder ein anderes unserer Kinder im Krieg aufwächst.«

Lächelnd zog er mich enger an sich. »Wir könnten unsere Zeit besser nutzen, indem wir an diesen Kindern arbeiten.«

»Verlockender Gedanke, aber der Frieden im Weyr steht für mich an erster Stelle, also kannst du aufhören, mich zum Liebesspiel verführen zu wollen. Ich hole nur schnell meine Sachen, und dann bin ich fertig. Wo ist deine Freundin?«

Er blickte mich stirnrunzelnd an.

»Thala.«

»Ich weiß einfach nicht, ob ich deine Eifersucht amüsant oder ärgerlich finden soll«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht beides.«

»Ich bin nicht … ach, ist ja egal. Ist sie hier?«

»Nein.« Plötzlich mied er meinen Blick.

»Wo ist sie?«

»Sie ist gestern Abend nach Italien gefahren, nachdem du mich mit der Karamellsoße weggelockt hast. Mein Sohn wird nicht zum Treffen mit den Wyvern mitkommen. Ich möchte ihn nicht in Gefahr bringen.«

»Ich hatte nicht vor, ihn mitzunehmen, obwohl ich nicht glaube, dass ihm dort Gefahr droht. Nico macht im Garten mit ihm eine Ausgrabung. Brom hofft, auf einen Wikingerschatz zu stoßen, deshalb würde er wahrscheinlich sowieso nicht mitkommen wollen.«

»Gut. Es wäre wirklich nicht sicher für ihn.«

»Sei nicht albern«, sagte ich und ging ins Schlafzimmer, um mir etwas Passenderes für ein Treffen mit Wyvern anzuziehen. Ich schlüpfte gerade in ein weißes Mantelkleid aus Spitzenjacquard, zu dem ich den gravierten silbernen Liebesanhänger trug, den Baltic mir vor fünfhundert Jahren geschenkt hatte, als mir klar wurde, dass er mich schon wieder abgelenkt hatte, um meine Fragen nicht beantworten zu müssen.

»Man sollte doch meinen, dass er es mittlerweile begriffen hat«, sagte ich zu mir, als ich über die Hintertreppe wieder hinunterging. Rasch probierte ich noch die Zitronen-Knoblauch-Marinade und gab sie über das Hühnchen, und dann ging ich nach draußen, um Baltic zu suchen.

»Ach, da bist du ja. Hör mal, ich weiß, dass du mir nicht sagen willst …« Mir verschlug es die Sprache, als die Liebe meines Lebens auf mich zukam. Er trug einen wadenlangen schwarzen Gehrock, eine schwarze Hose und eine lange schwarze Tunika, die bei jeder Bewegung im Licht schimmerte. »Beim Kreuz, Baltic! Du siehst großartig aus. Ist das Hemd mit Perlen bestickt?« Ich betrachtete die Tunika mit einem forschenden Blick.

»Sehe ich aus wie ein Mann, der perlenbestickte Kleidungsstücke trägt?«, fragte er, aber sein erfreuter Gesichtsausdruck über mein Kompliment strafte seinen strengen Tonfall Lügen. »Das ist Drachengewebe. Ich habe auch für dich etwas anfertigen lassen, aber es ist in Riga. Ich lasse es herbringen, wenn du willst.«

»Es ist ein wundervoller Stoff«, sagte ich und berührte die Tunika. »Es sieht so aus, als sei er mit Tausenden von Kristallen bedeckt, aber es ist nur der Stoff, oder?«

»Du kannst dir ein Kleid daraus nähen lassen, damit du es vor den anderen Drachen tragen kannst. Ich hatte nicht gedacht, dass wir den Stoff überhaupt brauchen würden, aber ich habe mich anscheinend geirrt.«

»Wow. Es ist einfach … und du siehst … ich könnte mich auf dich stürzen«, stammelte ich und ging um ihn herum.

»Ich würde meine Zeit lieber damit verbringen, mit dir Liebe zu machen, als bei einer Sitzung mit den Wyvern«, bot er höflich an.

Lachend gab ich ihm einen Kuss, dann ergriff ich seine Hand und zog ihn zur Tür. »Netter Versuch. Mit deinem Outfit hast du es beinahe geschafft, aber es ist wirklich wichtiger, dass wir uns um den Weyr kümmern. Oh, Pavel, ich wusste nicht, dass du mit uns kommst. Das freut mich aber. Du kannst Baltic davon abhalten, die Geduld mit den anderen zu verlieren.«

Pavel kam aus seinem Zimmer neben der Küche. Er trug ebenfalls eine schwarze Hose und eine schwarze Tunika, deren Stoff jedoch nicht so schimmerte wie Baltics. Anscheinend durfte nur der Wyvern die wirklich spektakuläre Version des Stoffs tragen, und die nächsten zehn Minuten war ich damit beschäftigt, mir vorzustellen, wie wohl das Kleid aussehen mochte, das Baltic mir hatte schneidern lassen.

Mein zweiter Versuch herauszufinden, was Thala in Italien tat, brachte mir einen so strengen Blick ein, dass ich beschloss, es vor Pavel nicht mehr zu erwähnen. Er war zwar Baltics engster Freund, aber offensichtlich sollte er aus diesem Thema herausgehalten werden. Ich begnügte mich also damit, Baltic zu verstehen zu geben, dass das letzte Wort zu dem Thema noch nicht gesprochen war, und konzentrierte mich darauf, uns sicher zu dem Haus zu fahren, das er vor mehreren Hundert Jahren für mich hatte bauen lassen.

»Wir müssen unbedingt mit Kostya reden, dass er uns Dragonwood zurückgibt«, sagte ich, als ich an dem Halbmond aus Weiden und Linden hielt, der das Haus von der langen Auffahrt abschirmte.

Baltic betrachtete die rote Backsteinvilla im Tudorstil und nickte zustimmend. »Abgesehen von Dauva ist dies wirklich das beste unserer Häuser.«

Seufzend stimmte ich ihm zu. Es war tatsächlich perfekt, von der Lage oben auf dem Hügel, über den viereckigen Turm in der Mitte bis zu den Zinnen, die hoch in den Himmel ragten. Auch das Grundstück war ausnehmend schön, mit einem Garten, den ich selbst entworfen hatte, einem kristallklaren Teich und samtgrünen Rasenflächen.

»Baltic …« Ich brachte keinen Ton mehr heraus. Der Anblick schnürte mir die Kehle zu.

Er ergriff meine Hand und küsste meine Finger. »Es wird wieder dir gehören, mein Liebling. Das schwöre ich dir.«

»Es will uns zurückhaben«, sagte ich. Meine Augen schwammen in Tränen der Sehnsucht. Die Aura des Hauses schien sich um mich zu legen, diese Essenz, die voller glücklicher Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit war. »Es braucht uns.«

Baltic schwieg einen Moment, dann wischte er mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange und sagte leise: »Wir holen es uns zurück.«

Ich nahm mich zusammen und unterdrückte den Schmerz. Es würde noch ein langer Weg sein, ehe wir mit Kostya um die Rückgabe des Hauses verhandeln konnten. »Ein Schritt nach dem anderen. Vorerst ist es wichtiger, diesen dummen Krieg zu beenden.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Pavel, als wir aus dem Auto stiegen. »Brom besucht die silbernen Drachen und hat einen grünen Drachen zum Lehrer. Und du triffst dich doch auch mit den Gefährtinnen … Spielt es wirklich eine Rolle, ob der Krieg weitergeht?«

»Ja, es spielt eine Rolle. Dass wir im Moment freundschaftlich miteinander umgehen, heißt ja nicht zwangsläufig, dass es auch so bleibt. Wir sollten schon Teil des Weyr sein, um seinen Schutz genießen zu können.«

Baltic seufzte, aber er ergriff meine Hand und geleitete mich die Treppe hinauf. Oben standen zwei kräftige Gestalten.

»Guten Morgen, Maata. Tipene. Hat man euch nach draußen verbannt, oder sind Gabriel und May noch nicht hier?«, fragte ich.

Beide Silberwachen begrüßten mich und nickten Baltic zu. »Es wurde beschlossen, dass während der Sitzung alle Wachen draußen bleiben müssen.« Maata schien ein Lächeln zu unterdrücken, blieb aber ernst. »Wir wollten ein wenig im Garten spazieren gehen, den du entworfen hast. Vielleicht möchte Pavel ja gerne mitkommen?«

»Oh, das hört sich wundervoll an. Ich hoffe, uns bleibt noch Zeit, später nachzukommen. Ich würde so gerne die Blumen wiedersehen …«

Baltic schubste mich in Richtung der Flügeltüren.

»In den Garten. Wie entzückend«, sagte Pavel, der den Eindruck machte, er würde sich lieber die Fingernägel einzeln ausreißen lassen.

»Es wird schon nicht wehtun«, sagte ich zu ihm. Lachend beobachtete ich, wie er den beiden silbernen Drachen folgte.

»Komm. Lass es uns hinter uns bringen«, sagte Baltic und stieß eine der Türen auf. Zögernd blieb ich auf der Schwelle stehen. Als ich sie das letzte Mal überqueren wollte, war ich ins Jenseits gezogen worden, in die Schattenwelt parallel zu unserer Realität, wo ich beobachtet hatte, wie Baltic traurig einer bittersüßen Vision unserer Vergangenheit zugeschaut hatte.

Er sah mich an. Ich lächelte und erwiderte voller Liebe seinen Blick. Dann betrat ich das Haus.

»Ich hätte wissen müssen, dass das passiert«, sagte ich einen Augenblick später, als eine Eiseskälte in mein Bewusstsein drang. Die Welt verschob sich und verlor an Farbe. Sie löste sich in eine graue Szenerie auf, was daran lag, dass das Gebäude aus Stein und Metall bestand. Ich rieb mir die Arme und blickte mich neugierig in der Empfangshalle um, in der ich mich anscheinend befand. »Brr. Wo bin ich hier?«

»Ich weiß nicht, aber es gefällt mir nicht.«

Ich fuhr herum. Baltic stand direkt hinter mir. »Du wirst immer mehr in meine Visionen mit hineingezogen. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich glaube, wir sind im Adlerhorst.«

»Was für ein Adlerhorst?« Mit undurchdringlichem Blick schaute er sich um. Dann verzog er das Gesicht. »Ah ja. Der, der Kostya gehört. Beende die Vision, Gefährtin.«

»Wie soll ich das denn machen? Welche Drachen leben in Nepal? Rote?«

Hinter mir ertönten Geräusche. Ich drehte mich um und betrachtete die beiden Gestalten, die auf der anderen Seite der Halle auftauchten.

»Nein«, sagte Baltic. Er packte mich und zog mich zurück, als habe er Angst, gesehen zu werden.

»Sie können uns nicht sehen«, beruhigte ich ihn. Ich riss mich los. Wer mochten diese Drachen sein? Ich trat wieder in die Halle, blieb aber stehen, als ein vierter Mann direkt durch Baltic hindurch auf die Gruppe zuging.

»Ist es geschehen?«, fragte der vierte Mann die anderen.

Einer der drei nickte. »Ja. Wir haben den Horst unter Kontrolle.«

»Was ist mit Kostya?«

»Er ist in einem Lagerraum eingesperrt, bis seine Zelle fertig ist.«

»Gut. Ich gebe es dem Chef weiter.«

»Wir haben recht gehabt – dorthin ist Kostya nach der Zerstörung von Dauva geflohen«, sagte ich zu Baltic. »Ich kann mich erinnern, dass Aisling gesagt hat, er wurde gefangen gehalten. Aber wer sind diese Drachen? Zu welcher Sippe gehören sie?«

»Zu keiner. Sie sind Ouroboros. Komm, Gefährtin, wir haben uns schon viel zu lange aufgehalten. Die anderen Wyvern warten auf uns.«

Das Wort »ouroboros« hallte in meinem Kopf nach. »Ich will das unbedingt sehen, Baltic. Ich glaube, es ist irgendwie wichtig.«

»Ist es nicht.«

»Woher willst du das wissen?« Plötzlich durchzuckte mich ein schrecklicher Gedanke. »Allmächtiger! Sind das etwa deine Drachen? Hast du Kostya eingesperrt? Ja, nicht wahr? Weil ihr einmal befreundet wart, konntest du ihn nicht töten, aber du wolltest ihn aus dem Weg schaffen, deshalb hast du ihn dort oben in seinem Schlupfloch eingesperrt!«

»Ich bin dafür nicht verantwortlich, nein«, sagte er und presste die Lippen zusammen.

Ich trat näher an die Gruppe der Drachen heran. »Aber du weißt, wer es war.«

»… wie lange müssen wir denn hierbleiben?«, fragte einer der Männer den Anführer. »Es ist verdammt kalt.«

»So lange, wie es sein muss. Ihr könnt auch einmal nachschauen, ob es etwas zu essen gibt. Der Chef kommt jeden Moment, und ich möchte ihr gerne sagen können, dass wir uns um alles gekümmert haben.«

»Ihr?«, fragte ich niemand Speziellen.

Baltic blickte mich nur gelangweilt an und antwortete nicht.

»Ich finde ja immer noch, dass es ein Fehler war, ihr die Verantwortung zu übergeben«, sagte einer der Männer. »Sie ist ja noch nicht einmal wirklich eine von uns.«

»Sei nicht so ein Snob. Ihr Vater war ein hohes Tier in der Sippe, und es heißt, der Wyvern würde auf sie hören.«

Der Mann schnaubte. »Rote Drachen. Sie wollen doch immer nur Krieg.«

»Was für uns von Vorteil ist«, bemerkte der Anführer. Er legte den Kopf schief, als höre er jemanden kommen.

»Über wen reden sie da?«, fragte ich Baltic. In mir stieg ein Verdacht auf.

Sein Gesichtsausdruck gab nichts preis. »Willst du den ganzen Tag hierbleiben, oder sollen wir mit den Wyvern sprechen?«

»Eine typische Nicht-Antwort. Wer … oh!«

Ein Mann tauchte aus dem Nichts auf. Anscheinend ging er direkt durch die Wand auf die kleine Gruppe zu. Ich starrte ihn an, wobei mir auffiel, dass seine Kleidung vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu stammen schien.

»Ist das ein Geist?«, fragte ich Baltic flüsternd.

Er seufzte. »Gefährtin, wir müssen jetzt gehen.«

»Ja?«

»In gewisser Weise. Es ist ein Schatten. Deine Zeit ist um, Ysolde. Beende diese Vision.«

»Meine Herrin kommt«, informierte der geisterhafte Mann die anderen, und über dem Heulen des Windes hörte ich, wie ein Helikopter sich näherte.

»Ich gehe jetzt«, sagte Baltic. Er ließ meine Hand los, die er im vergeblichen Versuch, mich mit sich zu ziehen, ergriffen hatte. »Ob mit dir oder ohne dich – aber erwarte nicht, dass ich einem weiteren Treffen mit den Wyvern zustimme.«

»Nur noch eine Sekunde. Ich will es sehen – Baltic!« Ich rannte hinter ihm her, als er einen schwach beleuchteten Gang entlangging, der von der Halle wegführte. Ich warf einen Blick über die Schulter. »Ich will doch sehen, wer da kommt. Du weißt es, nicht wahr? Du weißt, wer hinter Kostyas Gefangennahme steckt, oder? Und auch, wer diese Drachen sind.«

»Sie sind Ouroboros«, wiederholte er und blieb stehen, damit ich ihn einholen konnte.

»Ich frage mich, ob sie zur gleichen Gruppe gehören wie die, nach denen ich suche.«

»Du solltest besser nicht nach Ouroboros-Drachen suchen«, teilte er mir hochmütig mit.

»Ach nein? Und warum nicht?«

»Es sind gesetzlose Mörder, gefährlich und ohne jede Achtung vor dem Leben. Sie sind die größte Gefahr für die Sterblichen, die dir so viel bedeuten.« Er öffnete eine schwere Metalltür und schob mich nach draußen in eine sonnige, aber windige Schneelandschaft. Sofort verschob sich die Welt, und ich befand mich in der Kühle eines Hauses, das mich in eine so vertraute Umarmung zog, dass ich am liebsten auf die Knie gesunken wäre und bittere Tränen über die Ungerechtigkeit des Lebens vergossen hätte.

»Da bist du ja. Ich wollte schon in der Schattenwelt nach dir suchen. Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen, Ysolde.«

»Das habe ich auch.« Ich blinzelte verwirrt. May blickte besorgt drein. »Es tut mir leid. Wir wurden in eine Vision gezogen …« Ich verstummte, als Kostya eintrat.

»Ich erzähle dir später davon«, flüsterte ich ihr rasch zu.

May zog die Augenbrauen hoch. Gabriel, der mit dem Handy telefonierte, beendete das Gespräch und kam zu uns herüber. »Drake und Aisling haben sich verspätet, aber sie sind in ein paar Minuten da. Ich begrüße dich, Ysolde.« Ein Muskel an seinem Kinn zuckte. »Baltic.«

»Es tut mir leid, aber anscheinend überkommen mich in diesem Haus ständig Visionen«, sagte ich lächelnd zu Gabriel. »Danke, dass du gekommen bist. Du hast bestimmt Besseres zu tun, aber wir wissen es zu schätzen. Nicht wahr, Baltic?«

»Ja, sicher«, erwiderte er freundlich, aber daran, wie er Kostya beobachtete, merkte ich, dass er angespannt war.

Gabriel entspannte sich. Er zeigte seine Grübchen und legte einen Arm um May. »Schön zu wissen, dass du wieder zu alter Form aufläufst, Baltic. Ich wüsste gar nicht, was ich machen sollte, wenn du immer nur feindselig und mürrisch wärst.«

»Willkommen in meinem Haus, Ysolde«, sagte Kostya. Er ergriff meine Hände und küsste sie, bevor er sich Baltic zuwandte. »Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von deinem Gefährten sagen.«

»Bei allen guten Geistern, Kostya«, sagte ich und schlug ihn leicht auf den Arm. »Musst du Baltic jedes Mal ärgern.«

»Nein, aber es hilft mir gegen meine schlechte Laune.«

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, bis er hervorstieß: »Na gut. Auch dein Gefährte ist hier willkommen.«

Ich lächelte und legte Baltic beschwichtigend die Hand auf den Arm. Seine Muskeln waren angespannt. »Danke. Wir wissen das zu schätzen, auch wenn es in Wirklichkeit unser Haus ist.«

»Ach ja?« Er verzog höhnisch das Gesicht. »Soviel ich weiß, gehört es dem Wyvern der schwarzen Drachen, und das bin ich.«

»Nur so lange, wie ich es dir erlaube«, grollte Baltic.

Kostya kniff die Augen zusammen, und ein dünner Rauchfaden entwich aus seiner Nase. »Möchtest du mich um die Sippe herausfordern?«

»Das brauche ich nicht. Wenn ich wollte, würde ich sie mir nehmen«, erwiderte Baltic.

»Oh, du lieber Gott, ihr Jungs wollt euch doch nicht etwa schon wieder die Nasen brechen?« Ich seufzte schwer.

Beide Männer blickten mich finster an. »Jungs!«, schnaubte Kostya. »Wir sind Wyvern.«

»Das mag sein, aber ihr benehmt euch wie aufgeregte Schwachköpfe mit aufgestellten Nackenhaaren.«

»Schwachköpfe!«, wiederholte Baltic aufgebracht.

»Nackenhaare! Wir haben keine Nackenhaare!« Kostya war ebenfalls außer sich. »Hunde haben Nackenhaare. Wir Drachen nicht!«

»Dann hört auf, euch so zu benehmen«, sagte ich zu ihm mit einem Blick, den ich bei Brom nur bei den schwersten Vergehen anwendete. Ich wandte mich zu Baltic und drückte erneut seinen Arm. »Und du kannst aufhören, leise vor dich hin zu fluchen. Wir können es alle hören, und auch wenn du Zilant sprichst, kann ich mir schon denken, was es bedeutet.«

Wieder warf er mir einen aufgebrachten Blick zu, hörte aber tatsächlich auf zu fluchen.

Kostya verzog gequält das Gesicht. »Du redest zu viel, Ysolde, aber das überrascht mich nicht. Eher erkaltet die Hölle, als dass ich einer Gefährtin begegne, die einem Wyvern Respekt erweist.«

Ich warf Baltic einen Blick zu, weil ich erwartete, dass er auf diese Beleidigung reagierte, aber er sagte nichts, sondern verzog nur finster das Gesicht. Ich warf meine guten Absichten über Bord. »Willst du ihm das etwa durchgehen lassen?«

»Dass er die Wahrheit spricht?« Baltic zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Gefährten des roten Wyvern seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen, aber soweit ich mich erinnere, war er der einzige von den Gefährten, der sich zu benehmen wusste.«

»Übrigens, da wir gerade von fehlgeleiteten Gefährten sprechen, wo ist eigentlich Cyrene?«, warf May ein.

Kostya, dessen Miene ebenso finster war wie Baltics, blickte sie böse an. »Das ist eine gute Frage. Sie ist gegangen, mehr weiß ich auch nicht.«

»Gegangen? Wohin?«, fragte May, die nicht im Geringsten überrascht wirkte.

»Das hat sie mir nicht mitgeteilt. Sie hat mich lediglich auf alle möglichen Arten beschimpft, ihre Sachen gepackt – auch einige, die ihr gar nicht gehören – und ist hinausgestürmt, nachdem sie mir jede Menge wässerige Drohungen an den Kopf geschleudert hatte für den Fall, dass ich versuchen sollte, ihr zu folgen. Ich sollte zur Kenntnis nehmen, dass sie mich für einen Gott verlassen hätte, der wüsste, wie man eine Najade behandelt.«

»Oh, nein, sie hat doch nicht … doch nicht etwa Neptun?«, fragte May stöhnend. »Ein Gott, der weiß, wie er sie behandeln muss? Er hat ihr ihren Bach abgenommen, bis ich ihr geholfen habe, ihn wiederzubekommen. Sie ist absolut … Es tut mir leid, Kostya, es tut mir wirklich leid. Es gibt keine Entschuldigung für das, was sie dir angetan hat.«

»Sie hat behauptet, sie liebt mich! Sie hat mich gezwungen, sie vor dem Weyr als Gefährtin anzuerkennen!«

»Ich weiß, und es tut mir leid.« May legte Kostya den Arm um die Schultern und drückte ihn leicht an sich. »Sie hat geschworen, dieses Mal sei es anders, und ich habe ihr geglaubt. Ich dachte, sie würde dich wirklich lieben.«

Er schaute sie gequält an. »Ich hätte wissen müssen, dass sie mir nur Probleme bereitet. Sie wollte sich ständig in die Angelegenheiten der Sippe einmischen. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht die Aufgabe einer Gefährtin sei, aber sie hat nicht auf mich gehört. Meine Mutter hat immer gesagt, das würde ein böses Ende nehmen, aber ich habe nicht auf sie gehört.«

»Nun ja, Catalina ist ja auch nicht unbedingt jemand, den man bei Beziehungsproblemen zurate ziehen würde«, sagte May lächelnd und trat wieder neben Gabriel. »Geht sie immer noch mit Magoth aus?«

»Nein, zum Glück nicht.« Kostya lächelte trübsinnig. »Ihr früherer Dämonenfürst hat sie für irgendein Hollywood-Starlet sitzenlassen. Jetzt hat sich Mutter drei Bodybuilder in Rio angelacht, und sie kommt nur zu Besuch, wenn ihr mal wieder einfällt, dass Drake Kinder hat.«

»Das klingt ja wirklich entzückend«, sagte ich trocken. Baltic wirkte gelangweilt und blickte auf seine Uhr. Ich schätzte, dass es höchstens noch zehn Minuten dauern würde, bis er verlangte, dass wir entweder mit der Sitzung beginnen oder nach Hause fahren sollten. »Vielleicht können wir ja ohne Drake und Aisling schon einmal anfangen?«

»Mir wäre es lieber, wir würden warten, aber da dein Gefährte anscheinend unbedingt gehen möchte, können wir auch schon mit der Diskussion beginnen. Kostya?«

»Ja, von mir aus. Es kommt sowieso nichts Gutes dabei heraus, egal, ob wir früher oder später beginnen«, erwiderte er düster und wies auf eine Tür.

Ich blickte auf die Tür, warf Baltic einen Blick zu und drehte mich auf dem Absatz um, um in die entgegengesetzte Richtung zu marschieren. Schwungvoll riss ich die Flügeltüren auf, die in einen Raum mit hohen Bücherschränken führten. Durch die Fenster drang goldenes Sonnenlicht. »Unsere Bibliothek«, seufzte ich glücklich. Die Möbel waren natürlich nicht mehr dieselben wie früher, aber die gemütliche Atmosphäre weckte in mir die schönsten Erinnerungen.

»Jetzt wohl eher meine Bibliothek«, merkte Kostya an, wobei er das besitzanzeigende Fürwort unnötig betonte. »Ich erlaube euch, die Sitzung hier abzuhalten, da ihr es offenbar so wünscht.« Sein Blick glitt zu Baltic. »Es ist eine Gunst, die ich gerne auch dir gewähre, Ysolde, trotz der Tatsache, dass du und dein mörderischer Gefährte euch im Krieg mit dem Weyr befindet.«

»In Gottes Namen … hörst du jetzt bitte auf, Baltic zu reizen?«, fuhr ich ihn an. Ich war dieses alberne Getue der Wyvern langsam leid. »Er ist nicht so unbeherrscht, dass er darauf hereinfällt.«

Baltic sprang ihn an wie der Blitz. Die beiden Männer fielen auf den Parkettboden, und als sie gegen zwei Beistelltische krachten, klirrte Glas. Ich hätte sie am liebsten mit den Köpfen aneinandergeschlagen, hielt mich aber zurück.

»Du machst es mir nicht gerade leicht, die anderen davon zu überzeugen, dass du nicht der Barbar bist, für den sie dich halten«, sagte ich zu Baltic, als er Kostya einen Schlag ins Gesicht verpasste, während er mit der anderen Hand versuchte, ihn zu erdrosseln.

Kostya verwandelte sich in Drachengestalt, und Baltic folgte seinem Beispiel.

Ein weiterer Beistelltisch, achteckig und mit Intarsien aus Rosenholz, krachte gegen die Wand. »Keine Drachengestalt!«, schrie ich und betrachtete entsetzt die Überreste des Tischs. »Nur menschliche Gestalt, und wenn ihr etwas Schönes zerbrecht, dann könnt ihr was erleben!«

»Willst du sie kämpfen lassen?«, fragte May und sprang zur Seite, als die beiden Männer, jetzt wieder in Menschengestalt, sich auf dem Boden wälzten. »Ist das klug? Meinst du nicht, die Sache läuft aus dem Ruder?«

»Ich glaube nicht. Es wird wahrscheinlich eher ein bisschen die Luft reinigen.«

May sah so aus, als ob sie etwas sagen wollte, aber zu meiner Überraschung kam Gabriel ihr zuvor. »Es tut mir leid, Mayling. Ich würde ja gerne behaupten, dass ich über solchen Dingen stehe, aber diese Gelegenheit möchte ich mir um keinen Preis entgehen lassen.«

Sie blickte ihn erstaunt an, aber dann lächelte sie schief und wies auf die Kämpfenden. »Wenn es sein muss.«

»Das muss es«, erwiderte er, gab ihr einen Kuss und stürzte sich ebenfalls ins Getümmel. May und ich zogen uns an die Tür zurück, um uns von den drei Männern fernzuhalten, deren Kampf von Flüchen, Knurren, Schmerzenslauten und einer Sprache begleitet wurde, die einen Seemann zum Erröten gebracht hätte.

»Die Drachen scheinen sich am liebsten zu prügeln, wenn Baltic in der Nähe ist«, stellte May fest. Sie zuckte mitfühlend zusammen, als Baltics Faust auf Gabriels Kinn landete.

»Er ist ein sehr urwüchsiger Drache«, sagte ich und beobachtete emotionslos und nur im Stillen jubelnd, wie Kostya zu Boden ging. »Nicht alle beide gleichzeitig auf Baltic«, sagte ich scharf, als Kostya und Gabriel, die einander sonst nicht gerade freundlich gesinnt waren, Anstalten machten, sich gegen Baltic zu verbünden.

»Was um alles in der Welt … kämpfen sie etwa schon wieder?«

May und ich drehten uns um, als die Türen hinter uns aufgingen. Aisling und Drake standen staunend auf der Schwelle.

»Es scheint ihnen zu gefallen«, sagte ich. »Wahrscheinlich baut es aufgestaute Emotionen ab. Aber da ihr jetzt endlich hier seid, werde ich ihnen Einhalt gebieten.«

»Noch nicht«, sagte Drake. Er zog sein Jackett aus und reichte es Aisling. Seine grünen Augen glitzerten wie bei einer Katze.

Wir alle sahen erstaunt zu, wie Drake mit einem Kampfschrei, der einem Krieger zur Ehre gereicht hätte, über die Couch auf Baltics Rücken sprang.

»Ach, du liebe Güte … habt ihr so etwas schon einmal erlebt?« Aisling stemmte die Hände in die Hüften. »Aua! Das hat bestimmt wehgetan. Oh nein, jetzt ist Blut auf Drakes schönem Hemd. Unsere Haushälterin wird mir den Kopf abreißen, wenn sie das sieht!«

»Du musst zugeben, kämpfende Männer haben etwas – oh, guter Schlag, Baltic! – seltsam Attraktives. Hey! Ich habe doch gesagt, nicht alle zusammen auf Baltic! Ich sehe das, Kostya und Drake! Wenn ihr Jungs nicht fair kämpfen könnt, kommt ihr gleich auf den Flur.«

Aisling kicherte. »Du bist wahrscheinlich die einzige Person auf der ganzen Welt, die so etwas ungestraft sagen darf, Ysolde. Nun, meine Damen, es sieht so aus, als ob unsere Männer mit der Zurschaustellung ihrer Männlichkeit beschäftigt wären. Sollen wir irgendwo hingehen, wo die Luft weniger testosterongeladen ist?«

Ich warf einen prüfenden Blick auf die Kämpfenden. Baltics linkes Auge schwoll zu, und aus seiner Nase tropfte Blut, aber er schien immer noch in guter Verfassung zu sein. Den anderen drei Wyvern schien es ähnlich zu gehen, und zu meiner Überraschung begriffen sie anscheinend alle, dass ihrem Kampf Grenzen gesetzt waren. Niemand versuchte, zu Waffen zu greifen, sondern sie beschränkten sich alle auf ihre Fäuste.

»Ja, warum nicht? Wenn sie es leid sind, aufeinander einzuschlagen, kommen sie sowieso angelaufen, damit wir ihre Wunden versorgen. Kommt, wir gehen in den Wintergarten.«

Ich führte sie die Treppe hinauf zu einem Raum, der über der Bibliothek, also auch nach Südwesten lag. Jetzt war er wahrlich scheußlich eingerichtet, aber ich tat mein Bestes, um die kitschigen Teerosen, die auf sämtlichen Möbelstücken prangten, zu ignorieren, und stellte mir lieber vor, wie schön der Raum wäre, wenn ich ihn gestalten könnte.

Wir plauderten einige Minuten lang über allgemeine Dinge, und May erklärte Aisling, was mit ihrem Zwilling los war.

»Oh Mann. Cyrene hat ihm den Laufpass gegeben?« Aisling schüttelte den Kopf. »Er wird ja wohl kaum noch zu ertragen sein.«

»Ich würde ja gerne behaupten, dass diese Phase vorübergeht, aber … na ja, du kennst ja Cy. Sie war immer schon launisch, wenn es um Herzensangelegenheiten geht«, erwiderte May.

»Die Frage ist …« Aisling schwieg nachdenklich, dann fuhr sie fort: »Welche Auswirkung wird das wohl auf den Weyr haben?«

»Wie meinst du das? Warum sollte sich das auswirken?«, fragte ich.

»Das war, bevor du aufgewacht bist, Ysolde – oder vielmehr, bevor du die Fugue hattest. Kostya hat Cyrene vor dem Weyr zu seiner Gefährtin ernannt.«

»Ja, das hat er gesagt. Aber wo ist das Problem? Kann er das nicht einfach wieder rückgängig machen?«

»Das glaube ich nicht, nein. Drachen bleiben ein Leben lang zusammen, weißt du. Alle, außer Vogtdrachen, aber davon gibt es nur wenige, und sie sind weit verstreut.« Sie musste meine Verwirrung bemerkt haben, denn sie fuhr fort: »Vogtdrachen sind spezielle Drachen. Sie sind von besonders reiner Abstammung, und sie sind die einzigen, die sich mehr als einmal paaren können. Wenn ein Vogtdrache also einen Gefährten hat und dieser stirbt, dann lebt der Vogtdrache weiter und kann sich einen neuen Gefährten nehmen. Drakes Großmutter war ein Vogtdrache. Sie hatte zwei Gefährten, einen schwarzen Drachen und einen grünen Drachen. Deshalb ist Drake ein grüner Drache und Kostya ein schwarzer. Aber wir haben gerade über Cyrene geredet.«

»Es muss doch eine Regelung geben, die Ernennung eines Gefährten rückgängig machen zu können«, sagte May.

»Das glaube ich nicht. Drake hat so etwas noch nie erwähnt, und das hätte er bestimmt getan, als Kostya Cyrene ernannt hat.« Sie setzte sich in einen Sessel, während May und ich auf dem Zweiersofa daneben Platz nahmen. »Ich glaube nicht, dass es jemals zuvor schon einmal eine solche Situation gegeben hat. Es könnte Ärger im Weyr geben, wenn alle anderen Gefährten anwesend sind.«

»Warum denn? Gefährten spielen dabei doch gar keine Rolle, oder?«, fragte ich und dachte an den sárkány, auf dem ich vor ein paar Monaten anwesend war. »Sind sie nicht nur zur Unterstützung dabei?«

»Ja, aber ihre Unterstützung ist von großer Bedeutung. Weyr-Terminen dürfen Gefährten nur aus wenigen Gründen fernbleiben – wegen einer Entbindung, wenn man krank ist oder körperlich nicht in der Verfassung. Gefährten können einen sárkány auch anstelle des Wyvern besuchen.«

May riss die Augen auf.

»Genau.« Aisling nickte. »Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn Kostya aus irgendeinem Grund fernbleiben müsste und Cyrene das Recht hätte, seinen Platz einzunehmen?«

»Agathos daimon«, murmelte May und fuhr mit der Hand über ihre Augen. »Ich möchte mir lieber nicht …«

Sie wurde unterbrochen, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Baltic stand auf der Schwelle. Aus seiner Nase und von seiner Augenbraue tropfte Blut.

»Gefährtin! Du bist einfach gegangen!«

»Natürlich sind wir gegangen«, sagte ich ruhig und musterte ihn auf weitere Anzeichen von Verletzungen hin. Er hielt sich leicht nach links gekrümmt, anscheinend schmerzte seine rechte Seite. »Ihr habt euch ja benommen wie die Idioten. Ihr habt doch nicht im Ernst erwartet, dass wir da stehen bleiben und zugucken, wie ihr euch gegenseitig die Rübe einschlagt, oder?«

»Eine richtige Gefährtin weiß, dass ihr Platz immer an der Seite ihres Wyvern ist«, fuhr Drake mir über den Mund und drängte sich an Baltic vorbei durch die Tür. Er humpelte ein wenig, und anscheinend fehlte ihm auch ein Zahn.

Aisling schnalzte mit der Zunge und lief zu ihm, um ihm das Blut vom Mund zu wischen.

May zog die Augenbrauen hoch, als Gabriel, der ebenfalls humpelte, hinter Drake zur Tür hereinkam. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm, als er sich auf den Platz setzte, von dem ich mich gerade erhoben hatte. »Der Ausspruch ›Arzt, heil dich selbst‹ erhält hiermit eine ganz eigene Bedeutung, aber das willst du nicht hören, oder?«

»Nein«, sagte er und zuckte zusammen, als er die Finger der einen Hand beugte.

Als Letzter taumelte Kostya herein. Er baute sich gerade einmal drei Sekunden lang im Türrahmen auf, bevor er auf dem Boden zusammenbrach.

Ich blickte wieder zu Baltic. »Ich nehme an, du bist auch noch stolz auf dich.«

»Ich habe keinen Grund, mich zu schämen, wenn du das damit sagen willst.« Er nickte zu Aisling und May, die leise murmelnd die Wunden ihrer Männer versorgten. »Willst du dich nicht auch mit mir befassen?«

»Ich glaube nicht, dass du es verdient hast. Du warst immerhin derjenige, der angefangen hat, indem du dich auf Kostya gestürzt hast.«

Vom Fußboden kam ein Stöhnen. »Es war alles nur seine Schuld. Oh Gott, ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Baltic blickte mich aus seinem guten Auge an. Sein Blick war so traurig, dass ich schließlich doch ein Taschentuch hervorzog und das Blut von seiner Nase tupfte. »Setz dich«, sagte ich und drückte ihn in den dick gepolsterten Sessel, in dem Aisling gesessen hatte.

»Vorsichtig«, warnte er mich und ließ sich langsam in den Sessel sinken. »Ich habe bestimmt ein paar gebrochene Rippen.«

»Ach ja?« Plötzlich wurde ich wütend. Ich fuhr herum. »Wer von euch hat Baltic die Rippen gebrochen?«

Drake und Gabriel zeigten auf den Boden.

»Er hat mir die Schulter ausgerenkt und das Schlüsselbein gebrochen«, erklärte Kostya mit gequälter Stimme.

»Wir zwei sprechen uns noch, Konstantin Fekete«, sagte ich und warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Wenn ich überlebe, kannst du es gerne versuchen«, erwiderte er stöhnend.

Es dauerte eine Weile, bis wir alle Männer zusammengeflickt hatten. Alle vier mussten Drachenblut trinken, einen besonders starken, würzigen Wein, den nur Drachen und ihre Gefährten trinken konnten, damit sie wieder zu Kräften kamen und die schlimmsten Wunden verheilen konnten.

»Vielleicht können wir ja jetzt zum geschäftlichen Teil übergehen und über diesen lächerlichen Krieg reden«, sagte ich, als alle sich bequem niedergelassen hatten. »Ich möchte über den Tod der blauen Drachen sprechen. Es ist zweifelhaft, ob es überhaupt einen Beweis dafür gibt, dass Baltic sie auf dem Gewissen hat.«

Drakes Handy klingelte. Halb fluchend, halb stöhnend erhob er sich und ging steifbeinig ans andere Ende des Zimmers, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Der Beweis wurde auf dem letzten sárkány erbracht«, sagte Gabriel erschöpft und trank noch einen Schluck Wein. »Baltic war zum Zeitpunkt der Morde in der Gegend. Er wurde von einem der Überlebenden gesehen. Es ist bekannt, dass er mit Fiat zusammengearbeitet hat, von dem wir wissen, dass er auch etwas mit den Morden zu tun hatte.«

»Wirklich? Warum wurde dann über seinen Kopf ebenso wie über meinen nicht die Todesstrafe verhängt?«, fragte ich aufgebracht. Der Gedanke daran, wie der gesamte Weyr falsche Schlussfolgerungen gezogen hatte, machte mich wütend.

»Fiat ist …« Gabriel blickte zu Drake.

»Geisteskrank«, beendete Aisling den Satz. »Er hat völlig den Verstand verloren, sagen jedenfalls Drake und Bastian. Jim würde sagen, er hat einen Sprung in der Schüssel, und da stimme ich ausnahmsweise einmal mit ihm überein. Letzten Monat hat Drake versucht, mit ihm zu reden, aber er hat die ganze Zeit nur darüber gequasselt, dass eine Frau seinen Untergang plant. Sie habe arrangiert, dass er getötet werden soll, nachdem sie ihn für ihre eigenen Zwecke missbraucht hat.«

»Chuan Ren? Ich kann verstehen, dass sie ihn töten wollte, nachdem er ihre Sippe gestohlen hat, aber wie soll sie ihn für ihre Zwecke benutzt haben? Er muss wirklich wahnsinnig sein, wenn er solche paranoiden Behauptungen aufstellt. Aber vielleicht ist er nicht so durchgeknallt, dass wir nicht doch mit ihm reden können. Vielleicht sollten wir es noch einmal versuchen«, schlug ich vor. »Möglicherweise dringt ja jemand zu ihm durch.«

»Das bezweifle ich«, sagte Drake, der zu uns zurückgekehrt war. Er humpelte nur noch ganz leicht.

»Glaubst du, er ist so verrückt?«, fragte ich ihn.

»Nein.« Er blieb vor Baltic stehen und bedachte ihn mit einem langen, kalten Blick. »Du kannst Fiat nicht befragen, weil er nicht mehr da ist.«

Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe.

»Ist er tot?«, fragte Gabriel.

»Nein. Verschwunden. Bastian war am Telefon. Er hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass Fiat aus dem Gefängnis entwichen ist.«

»Nicht schon wieder«, stöhnte Aisling. »Wollen wir wetten, dass Chuan Ren ihn entführt hat, damit sie ein paar Löcher in ihn stechen kann?«

»Wenn das so ist, kann sie mehr, als wir angenommen haben. Chuan Ren ist tot. Fiat hat sie vor zwei Stunden umgebracht.«

Trotz der Wärme im Zimmer wurde es mir eiskalt. Überrascht starrten wir Drake an. Alle außer Baltic, der nur mäßiges Interesse zeigte.

Drake musterte ihn. »Bastian sagt, Baltic ist derjenige, der Fiat befreit hat.«