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»Lady.«

Ich blinzelte, als ich plötzlich eine männliche Stimme vernahm, und drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer da redete. Dabei stiegen mir die giftigen Dämpfe in die Nase, die mich umwaberten. Ich schien mich in einer Art dunkler, unbefestigter Gasse zwischen zwei Reihen hoher, schmaler Häuser zu befinden, deren Vorsprünge jeden Sonnenstrahl abblockten, der es vielleicht versucht hatte, auf den Boden zu treffen. Nicht, dass überhaupt etwas von der Sonne zu sehen gewesen wäre, da es Nacht war, aber ich hätte wetten können, dass diese Gasse selbst am heißesten Tag des Jahres dunkel und ungemütlich war.

An einer groben Holztür neben mir informierte ein fast unleserliches Schild arglose Besucher, dass ein gewisser Master Bertram gegen eine kleine Gebühr Farben mischte.

»Ein Malergeschäft«, murmelte ich bei mir und rümpfte die Nase über den Geruch. Ich war an den Duft der Dinge gewöhnt, aus denen man normalerweise Farbe machte – Pflanzen, Erz und so etwas –, aber dieser Gestank hier stammte von Menschen und Tieren. Meine Augen begannen zu brennen, als ich ein offenes Fass neben mir näher beäugte. Zweifellos enthielt es Urin, aus dem Farbe gemacht werden sollte. »Ich habe aber auch immer ein Glück – seit einem Monat habe ich keine Vision mehr gehabt, und dann muss es ausgerechnet ein Fass mit Pisse sein.«

»Drache.«

Die Frauenstimme lenkte mich von meinen Bemühungen ab, nicht in irgendeinen Unrat zu treten, der überall auf dem Boden lag. Ich ging um das Urinfass herum und trat auf die dunklen Gestalten zu, die im tiefen Schatten der Gebäude und im schwachen flackernden Schein zweier Fackeln kaum zu sehen waren.

Von ferne drang Gesang an meine Ohren, als vor mir zwei Gestalten aufeinander zutraten.

»Warum hast du mich nach Rothenburg gerufen?«, wollte der Mann mit einer arroganten, irgendwie vertrauten Stimme wissen.

Ich trat ein paar Schritte näher, bis ich das Gesicht des Mannes im Schein einer Laterne, die schräg in einer eisernen Halterung steckte, erkennen konnte.

Die weibliche Gestalt bewegte sich und versperrte mir einen Moment lang die Sicht, bevor sie wieder zur Seite trat. »Du hast die Warnungen ignoriert. Man hat dir doch gesagt, was passieren würde, wenn du weitermachst. Jetzt musst du dafür bezahlen.«

Erschrocken riss ich die Augen auf. Constantine Norka, einst ein schwarzer Drache und Erbe des Wyvern dieser Sippe, lachte die Frau und auch die beiden Männer, die aus der Dunkelheit hinter ihm auftauchten, aus. »Glaubst du, du kannst mir Angst einjagen? Ich habe vor keinem lebenden Drachen Angst, und ganz bestimmt nicht vor dir und deinen Freunden.«

Die Frau presste die Lippen zusammen. Die beiden Typen hinter Constantine kamen näher, hielten jedoch immer noch respektvollen Abstand zu ihm.

»Es wird uns ein Vergnügen sein, dich zu lehren, wie sehr du dich geirrt hast«, sagte sie mit einem ganz und gar unangenehmen Lächeln. »Dachtest du wirklich, ich habe das, was ich gesagt habe, nicht ernst gemeint? Dann bist du auch noch dumm.«

Constantine lachte wieder und schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Kopf, als die Frau begann, mit den Händen ein kompliziertes Muster in die Luft zu zeichnen, das ihn mit einem üblen Zauber belegen würde. »Ich nehme an, du willst mich bestrafen? Ich bin aber gar nicht derjenige, der dumm ist. Hast du nicht gehört, dass dein kostbarer Baltic nicht mehr in der Sippe der schwarzen Drachen ist?«

Was sollte das denn? War Constantine wahnsinnig oder ich? Manchmal wusste ich das nicht so ganz genau, weil meine Erinnerung an die letzten fünfhundert Jahre mehr oder weniger ausgelöscht war. Allerdings war einiges davon wiedergekommen, seit ich Baltic vor zwei Monaten gefunden hatte; an diese Nachricht, die bei mir einschlug wie eine Bombe, konnte ich mich aber so gar nicht erinnern.

Die Frau runzelte die Stirn und sagte: »Was ist das denn für ein Unsinn?«

»Es ist die Wahrheit.« Constantine lehnte sich lässig an eine ramponierte Holztür. »Er wurde auf Befehl des Ersten Drachen zu ouroboros erklärt, weil er Verbrechen gegen die Drachen begangen hat. Jetzt kannst noch nicht einmal du, die Baltic in der Tasche hat, die Tatsache verhindern, dass ich zum Wyvern ernannt werde.«

Die Frau blickte ihn fassungslos an. Sie blinzelte, als sie die Information verdaute. Ich wusste ganz genau, wie sie sich fühlte – wenn das stimmte, was Constantine gesagt hatte, wann war das passiert? Und warum um alles in der Welt hatte weder Baltic noch sonst jemand mir etwas davon gesagt?

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie mit leicht schwankender Stimme. »Baltic würde nie … Was für ein Verbrechen hat er denn begangen?«

Constantine zuckte mit den Schultern. »Es ist mir gleichgültig, ob du mir glaubst. Ich diskutiere Angelegenheiten der Sippe nicht außerhalb des Weyr, wenn du also mehr wissen willst, musst du dein Schoßhündchen schon selber fragen.« Er verzog höhnisch das Gesicht. »Ich habe ja immer schon gesagt, dass Baltic ein Schwächling ist; dass er sich hinter den Röcken einer Frau versteckt, beweist zudem noch, dass er der schlimmste aller Feiglinge ist. Wie viel hat er dir gezahlt, um mir zu drohen?«

Sie ballte die Fäuste. »Er hat mich nicht geschickt, wenn du das damit sagen willst. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen, aus Freundschaft zu Baltic, weil ich sehr wohl weiß, dass du dein Bestes getan hast, um ihm seine rechtmäßige Position streitig zu machen.«

Constantine schnaubte. »Ich bin der Erbe des Wyvern der schwarzen Drachen, Magierin, nicht Baltic. Er hat sich bemüht, diese Tatsache bei Alexei zu unterminieren, aber ich habe gesiegt, und er wird nicht einmal mehr als Drache anerkannt.«

Alexei? Bei diesem Namen regte sich etwas in den Tiefen meiner Erinnerung. Er war der Wyvern vor Baltic gewesen, was bedeutete, dass auch diese Vision sich in der Zeit abspielte, bevor Baltic Wyvern gewesen war. Aber das konnte doch gar nicht sein.

Die Frau fluchte unterdrückt. »Ich kann nur glauben, dass dies einer deiner Tricks ist. Du hast gesagt, der Stammvater aller Drachen war beteiligt. Wie ist dir das gelungen?«

Sie stieß die Worte wie Gewehrkugeln hervor. Ich trat einen Schritt zurück, um keinen Blickkontakt mit ihr zu bekommen.

»Ich kenne den Ersten Drachen sehr gut«, brüstete Constantine sich mit einem süffisanten Lächeln. Die beiden Männer hinter ihm, die das Selbstvertrauen in seiner Stimme anscheinend ebenfalls wahrnahmen, wichen zurück. »Aber du irrst dich, wenn du glaubst, ich hätte etwas mit Baltics Niedergang zu tun. Das hat er ganz alleine zu verantworten.«

Die Frau holte tief Luft. Sie ballte immer noch die Fäuste. »Ich werde deine Behauptungen überprüfen, Drache. Wenn sie sich als falsch erweisen, werde ich dich dafür umso mehr leiden lassen.«

Irgendetwas stimmte nicht. Wie konnte ich eine Vision aus dieser Zeit haben? Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Das ging doch gar nicht. Es war schlicht und einfach unmöglich.

»Noch mehr Drohungen. Jetzt machst du mir aber Angst«, höhnte Constantine amüsiert.

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte ich und trat neben ihn. »Ich bin doch erst zur Welt gekommen, als Baltic schon fast hundert Jahre Wyvern war. Constantine, was ist hier los?«

Die Frau lächelte wieder ihr unangenehmes Lächeln. »Ich freue mich schon darauf, dir zu beweisen, dass mit mir nicht zu spaßen ist.«

»Hallo? Kann mich jemand hören?« Ich wedelte mit der Hand vor dem Gesicht der Frau herum, aber offensichtlich bemerkten weder sie noch Constantine etwas von meiner Anwesenheit. Allerdings war ich ja zu dieser Zeit auch noch gar nicht geboren. Aber warum sah ich dann jetzt diesen Moment in der Vergangenheit? Und wer um alles in der Welt war diese Frau, die sich traute, einem mächtigen Drachen gegenüber solche Drohungen auszusprechen?

»Diese Unterhaltung ermüdet mich. Wenn du mit deinen leeren Drohungen fertig bist, dann lasse ich dich allein, damit du dich in deinen prahlerischen Reden weiter üben kannst.«

Blauweißes Licht knisterte um ihren Kopf bei Constantines Worten. Stirnrunzelnd versuchte ich mich zu erinnern, wo ich etwas Ähnliches schon einmal gesehen hatte, aber mein Gehirn weigerte sich zu kooperieren.

»Der Tag wird kommen, an dem du diese Worte bereuen wirst«, warnte sie ihn.

»Ich bereue, dass ich so viel Zeit mit dir verschwendet habe. Du hast mich zu dir gelockt, indem du mir erzählt hast, du könntest mir helfen, dabei hast du die ganze Zeit über Baltic unterstützt. Ich wusste das natürlich, denn trotz deiner schlechten Meinung über mich bin ich kein Dummkopf. Es amüsierte mich jedoch, dir bei deinen Versuchen zuzusehen, ihm den Rücken zu stärken, während du mir Steine in den Weg legtest. Aber jetzt finde ich deine Possen nicht länger unterhaltsam. Wirklich, Lady Antonia, du langweilst mich.«

Die Frau griff durch mich hindurch und verpasste Constantine eine Ohrfeige. Wir zuckten beide zusammen. Ich starrte sie überrascht an. Lady Antonia. Das musste Antonia von Endres sein, die berühmte Erzmagierin und einstige Geliebte Baltics.

Ich kniff die Augen zusammen und überlegte, ob ich vielleicht deshalb die Vision hatte – sollte ich eifersüchtig gemacht werden? Oder wütend?

»In Ordnung, ich bin bereit zuzugeben, dass ich nicht mehr weiterweiß«, sagte ich zu den beiden. »Die einzigen anderen Visionen, die ich hatte, waren Erinnerungen an meine Vergangenheit, die der Drache in mir dazu benutzte, mir klarzumachen, wer ich bin. Aber eine Vision, bei der ich gar nicht anwesend war, habe ich noch nie gehabt. Wenn das also der wirklich jämmerliche Versuch sein soll, mich eifersüchtig zu machen, dann muss ich euch sagen, dass er gescheitert ist. Ich bin nicht eifersüchtig auf Baltics Beziehungen, die er vor meiner Zeit hatte. Nicht im Geringsten. Sie sind mir völlig egal. Für mich spielt es noch nicht einmal eine Rolle, dass du ihm dein berüchtigtes Lichtschwert geschenkt hast, weil er dich im Bett so beglückt hat.« Um Antonias Füße züngelten Flammen. Ich tat so, als ob ich sie nicht sähe.

Ohne ein weiteres Wort drehte Antonia – die weder das Feuer noch mich gesehen hatte – sich auf dem Absatz um und marschierte in die Dunkelheit. Ihre beiden bulligen Leibwächter folgten ihr, wobei sie Constantine noch kurz einen finsteren Blick zuwarfen.

Ich sah ihnen nach, bis sie alle in den Schatten verschwunden waren, dann wandte ich mich zu Constantine. »Das lässt du dir doch nicht einfach gefallen, oder?«

Wie ich mir schon gedacht hatte, ignorierte er mich. Müde rieb er sich übers Gesicht und murmelte einen Fluch. Dann drehte er sich ebenfalls um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.

»Nun, vermutlich lässt du es dir doch gefallen.« Ich blickte mich in der unwirtlichen Gegend um, starrte auf die geschlossenen Fensterläden der hohen, schmalen Häuser und machte eine frustrierte Geste. Ein Hund bellte in der Ferne, eine Ratte saß auf dem Rand des Urinfasses und beäugte mich, und eine Ente watschelte leise quakend vorbei. »Und was soll ich jetzt hier machen?«, fragte ich mich.

Meine Stimme hallte von den Hauswänden wider, wurde lauter und lauter, bis sie meinen Kopf mit hämmerndem Lärm zu erfüllen schien.

»Aufhören!«, schrie ich und hielt mir die Ohren zu.

»Okay, aber ich dachte, es würde dir gefallen.«

Ich riss die Augen auf und blickte in das Gesicht eines neunjährigen Jungen, der einen tragbaren Rekorder in der Hand hielt, von dem aus eine schwarze Schnur zu meinem Kopf verlief. »Brom?«

»Magst du Rampaging Wildebeests nicht?« Er blickte auf den Rekorder und dann auf mich. Seine ernsten braunen Augen wirkten älter, als er war. »Okay, aber nachdem du vor ein paar Tagen wie verrückt zu ›Take Me by the Horns‹ getanzt hast, habe ich gedacht, du magst ihre neue CD.«

Mit zitternden Fingern zog ich die Kopfhörer heraus, die mein Sohn mir in die Ohren gesteckt hatte, als ich im Land der Visionen war. »Sie sind ganz nett. Laut, aber nett. Hast du schon alles eingeräumt? Und … äh … wie lange stehst du schon hier?«

Brom setzte sich neben mich auf die warme Steinbank an der Seite des Hauses. »Ja, ich habe alles ausgepackt. Aber ich hoffe, es ist das letzte Mal, dass wir umziehen. Ich bin seit ein paar Minuten hier. Du hattest so einen komischen Gesichtsausdruck. Hast du an etwas gedacht, was vor langer Zeit passiert ist?«

Ich hatte Brom nicht viel über meine Visionen, die ich seit ein paar Monaten hatte, erzählt. Nach jenem schicksalhaften Tag, als wir vom Rest der Drachen aus dem Weyr verbannt worden waren, hatten sie aufgehört. Ich nahm an, dass der Teil von mir, der in vergangenen Jahrhunderten ein Drache gewesen war, mittlerweile den Versuch aufgegeben hatte, sich bei mir wieder in Erinnerung zu rufen. »So etwas in der Art. Ich habe deinem Stiefvater gesagt, dass drei Häuser in zwei Monaten genug seien, und ich kann nur hoffen, dass er jetzt nicht mehr darauf besteht, dass wir alle paar Wochen umziehen.«

»Jim sagt, Baltic ist nicht mein Stiefvater, solange ihr nicht verheiratet seid, und du bist immer noch mit Gareth verheiratet, auch wenn er vielleicht mit Ruth verheiratet ist. Jim sagt, das ist illegal, und Baltic wird ihn an den Eiern aufhängen, wenn er ihn jemals wiederfindet. Jim sagt, du tätest das vielleicht auch.«

Ich schaute mein Kind an. »Liebling, als ich gesagt habe, du könntest mit Jim reden, obwohl wir im Krieg mit den anderen Drachen stehen, habe ich nicht gemeint, dass du mit ihm über unsere persönlichen Themen sprichst.«

Brom kniff die Augen zusammen. »Stimmt es denn?«

»Dass Baltic deinen Vater an den Eiern aufhängen wird? Nein, natürlich nicht.«

»Stimmt es denn, dass Baltic gar nicht mein Stiefvater ist, solange ihr nicht verheiratet seid?«

Ich sank gegen die raue Steinwand des alten Bauernhauses, das Baltic als unsere jüngste Zuflucht vor möglichen Angriffen der anderen Drachen ausgesucht hatte. Es stand nicht gerade ganz oben auf der Liste der Dinge, die ich gern tat, meinem Sohn die komplizierte Beziehung zu Baltic zu erklären. »Nein, es stimmt nicht. Du weißt doch, dass ich vor vielen Jahrhunderten geboren wurde, oder?«

»Ja. Du bist ein Drache.«

»Ich wurde als Drache geboren. Jetzt bin ich keiner mehr. Jetzt bin ich nur noch die Gefährtin eines Wyvern mit einem Drachen im Innern … na ja, das ist ein bisschen kompliziert. Lass uns lieber bei den einfachen Dingen bleiben. Ich bin also vor mehreren Hundert Jahren geboren worden und habe Baltic kennengelernt, der Wyvern seiner Sippe war.«

»Die schwarzen Drachen. Die Sippe, die Kostya jetzt leitet«, sagte Brom und nickte.

»Genau.« Kurz ging mir durch den Kopf, wie es wohl gewesen wäre, wenn Baltic es geschafft hätte, wieder zurück in die Sippe zu gelangen und den Posten des Wyvern zu übernehmen, aber das würde ich mit Spekulationen nicht beantworten können.

»Und Kostya war sein Kumpel, aber jetzt schlagen sie einander die Köpfe ein. Und Kostya bricht Baltic ständig die Nase.«

»Nur zweimal«, sagte ich irritiert, als ich an die Ereignisse vor einer Woche dachte, als er in London dem schwarzen Wyvern begegnet war. »Und dabei hat Baltic sich korrekt verhalten und Kostya wie eine Ratte. Aber das gehört nicht hierher. Als ich also vor Hunderten von Jahren Baltic begegnet bin, wurde ich seine … äh … Frau. Dann passierten ein paar Dinge, und Kostya brachte Baltic um, und ich verlor das Gedächtnis. Und dann heiratete ich vor etwa fünfzehn Jahren deinen Vater. Oder das dachte ich zumindest – ich wusste ja nicht, dass Baltic wiederauferstanden war, und deshalb war ich eigentlich nicht richtig mit Gareth verheiratet. Und weil ich Baltic zuerst geheiratet habe, brauche ich ihn nicht noch einmal zu heiraten, damit er dein Stiefvater werden kann.«

Brom wirkte skeptisch, aber er widersprach meiner sehr verkürzten Erklärung der komplexen Beziehung zu Baltic nicht. »Dann hatte Jim also unrecht?«

»Ja. Selbst Dämonen wie Jim können sich irren. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen – Baltic ist in jeder Hinsicht dein Vater, nur dass ihr nicht blutsverwandt seid. Du weißt doch, wie sehr er dich liebt, oder?«

»Na ja – er hat mich zu seinem Sohn erklärt. Das ist doch das Gleiche, oder?«

Seufzend zog ich Brom in die Arme und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Für Baltic ist es absolut das Gleiche. Weißt du noch, was ich dir über manche Männer erzählt habe?«

»Sie haben Probleme, ihre Gefühle in Worte zu fassen, und deshalb muss man zwischen den Zeilen lesen«, gab Brom meine Erklärung aus einem früheren Gespräch wieder.

»Genau. Baltic läuft halt nicht herum und sagt allen Leuten, dass er sie liebt. So ähnlich wie bei jemand anderem, den ich kenne«, sagte ich und stupste ihn mit dem Ellbogen an. Brom hatte in der letzten Zeit einen Horror davor entwickelt, Zuneigung zu zeigen, wenn jemand anderer in der Nähe war. Er hatte das Gefühl, das sei unter seiner Würde. »Seine Taten sagen mehr als seine Worte. Und wenn er dich nicht lieben würde, würde er sich nicht so anstrengen, Häuser zu finden, die groß genug sind für dein Mumienlabor, oder?«

Brom verdrehte die Augen. »Vielleicht. Er umarmt mich auch.«

»Siehst du. Und weißt du, manchmal musst du den Leuten auch zeigen, dass du sie liebst. Baltic musste wirklich sehr lange Zeit ohne Liebe auskommen, deshalb braucht er jetzt alle Zuneigung, die wir ihm geben können.«

»Musst du ihn deshalb immer küssen?«

»Ich muss es eigentlich nicht«, erwiderte ich lachend. »Ich tue es gerne. Aber er wird schnell unsicher, weil er so viel Zeit alleine verbracht hat, deshalb sage ich ihm so oft wie möglich, dass ich ihn liebe.«

»Indem du ihn küsst.« Er blickte mich skeptisch an.

»Ja, aber du brauchst ihn natürlich nicht zu küssen, wenn du nicht willst. Eine Umarmung tut es auch.«

Er runzelte die Stirn. »Gareth sagt, Jungs, die das tun, sind schwul.«

»Gareth ist ein Schwachkopf, und du solltest nicht auf ihn hören.« Als ich aufblickte, sah ich die Liebe meiner zwei Leben auf uns zueilen, das schöne Gesicht wie üblich finster verzogen. »Du musst einfach immer daran denken, dass Baltic und ich dich lieben, und das ist das Wichtigste. Hast du alles für deinen Besuch gepackt?«

»Nö«, sagte er mit geschürzten Lippen, den Blick auf Baltic gerichtet, der auf uns zukam. »Vielleicht mache ich das jetzt.«

»Ja, das solltest du, wenn du May und Gabriel besuchen willst. Hallo, mein Schöner.« Letzteres galt dem dunkeläugigen, dunkelhaarigen Mann, der vor mir stehen blieb, die Hände in die Hüften gestemmt, und mich von oben bis unten musterte.

»Gefährtin.« Sein Blick glitt zu Brom. »Hast du immer noch die Absicht, dein schönes Heim zu verschmähen und ins Haus des silbernen Wyvern zurückzukehren?«

Ich verkniff mir ein leises Lachen. Als die Drachen uns den Krieg erklärt und uns aus dem Weyr verstoßen hatten, hatte ich mir Sorgen um Broms Sicherheit gemacht. Alle hatten mir jedoch versichert, dass kriegerische Akte nie auf Kinder ausgeweitet wurden, so ernst die Drachen ihre Kriege auch nahmen. Dass Gabriel May erlaubt hatte, Brom übers Wochenende in ihr Haus in London einzuladen – damit er die Mumien im British Museum besuchen konnte –, war meiner Meinung nach ein sicheres Zeichen dafür, dass die Entschlossenheit der Drachen, mit Baltic und mir im Krieg zu bleiben, allmählich nachließ.

Baltic interpretierte es jedoch anders, da er das Gefühl hatte, Gabriel wolle seine Beziehung zu Brom unterminieren. Drei Wochen lang hatten die beiden erbittert verhandelt, bis Baltic schließlich seine Zustimmung gab, wenn auch nur nach ziemlich ungehörigen Bemerkungen darüber, was Gabriel zu erwarten habe, wenn er nicht angemessen für Brom sorge.

Brom verzog einen Moment nachdenklich das Gesicht. Dann warf er mir rasch einen Blick zu, beugte sich vor und umarmte Baltic. Dieser war so überrascht, dass ich lachen musste, obwohl ich es schnell hinter einem vorgetäuschten Husten verbarg.

»Sonntagabend bin ich wieder da«, sagte Brom zu Baltic. »Und ich verspreche dir, dass ich Gabriel nicht lieber mag als dich.«

Baltic blinzelte, dann legte er Brom die Hand auf die Schulter und sagte: »Du bist mein Sohn. Natürlich magst du niemanden lieber als deine Mutter oder mich. Es wird jedoch gut für Gabriel sein, wenn er das sieht. Pavel fährt uns gleich dorthin. Brauchst du Geld?«

Brom war kein gieriges Kind, aber er hatte einen ausgefallenen – und sehr teuren – Geschmack, und obwohl er reichlich Taschengeld bekam, leuchteten seine Augen jetzt hoffnungsvoll auf.

»Ich habe ihm schon Geld für das Museum und ein paar Souvenirs gegeben.« Ich scheuchte Brom zum Haus. »Er braucht nicht noch mehr.«

»Och, Sullivan.«

»Deine Mutter hat gesprochen«, sagte Baltic zu ihm und zog einen Clip mit Geldscheinen aus der Tasche.

»Baltic!«, protestierte ich, als Brom freudig die Geldscheine entgegennahm. Ich nahm ihm das Geld wieder ab und gab es Baltic zurück. »Er wird es nur für Dinge ausgeben, die er gar nicht braucht.«

Baltic drückte es postwendend wieder Brom in die Hand. »Er ist ein Junge. Jungen müssen Geld ausgeben.«

Brom nickte heftig.

»Und du sammelst Spenden, um Dauva zu restaurieren«, erwiderte ich, ergriff die Geldscheine und stopfte sie Baltic in die Tasche. »Wenn du ihm jedes Mal Geld gibst, wenn er aus dem Haus geht, kommst du nie auf einen grünen Zweig.«

Brom verzog enttäuscht das Gesicht.

»Schmoll nicht, Junge«, sagte ich zu ihm. »Los, geh deine Sachen packen.«

»Mein Sohn schmollt nicht«, sagte Baltic mit einem strengen Blick auf Brom, der gerade protestieren wollte. »Ysolde wünscht nicht, dass ich dir Bargeld gebe. Ich werde ihren Wünschen nicht zuwiderhandeln. Wir werden beide tun, was sie sagt.«

»Danke. Ich weiß, dass du Brom nur eine Freude machen willst, aber ich weiß es zu schätzen, dass du meine Autorität nicht untergräbst.«

»Du bist meine Gefährtin und seine Mutter. Ich könnte gar nicht anders handeln«, antwortete Baltic. Er blickte Brom nach, der mit schleppenden Schritten zum Haus schlurfte. Dann rief er ihm hinterher: »Sag Pavel, er soll dir eine meiner Kreditkarten geben.«

Jubelnd stürmte Brom ins Haus.

Ich stemmte die Hände in die Hüften und blickte Baltic finster an.

»Du wolltest doch nicht, dass ich ihm Bargeld gebe. Eine Kreditkarte ist kein Bargeld«, verteidigte er sich.

»Du bist unverbesserlich. Zum Glück siehst du so unglaublich gut aus, dass ich über diese Tatsache von Zeit zu Zeit hinwegsehen kann.«

»Ich weiß, wie es ist, kein Geld zu haben«, sagte Baltic und zuckte mit den Schultern.

Ich blieb stehen. »Ach ja? Ich dachte, alle Drachen wären unermesslich reich. Wann warst du denn arm?«

»Als ich wiederauferstanden bin. Es gab nur noch eine Handvoll schwarzer Drachen, und die meisten von ihnen waren untergetaucht, deshalb konnte mir keiner helfen. Dann stieß ich auf Pavel, aber er hatte sich auf Raubüberfälle verlegt, um überleben zu können.« Baltic verzog das Gesicht. »Er war allerdings nicht besonders gut darin. Als ich ihn fand, saß er in einem Gefängnis der Sterblichen.«

Ich schlang meine Arme um seine Taille und küsste ihn auf den Mundwinkel. »Ich hatte ja keine Ahnung. Und dann habt ihr zwei euch zusammengetan und angefangen, Geld aufzutreiben?«

»Ja. Unsere erste Sorge galt unserer Sicherheit und dann Dauva. Jetzt hat sich das geändert.«

»Inwiefern? Du willst doch Dauva immer noch zurückhaben.«

»Ja, aber an erster Stelle steht jetzt ihr beide für mich, du und Brom. Dauva kann warten, bis ich weiß, dass es dir gut geht und du zufrieden bist.«

Ich blickte ihn an, diesen Mann, der jahrhundertelang von den anderen Drachen als gefährlicher Irrer beschimpft worden war, und mein Herz floss schier über vor Bewunderung und Liebe. »Das ist zweifellos das Schönste, was mir jemals jemand gesagt hat. Küss mich.«

»Gerne, aber ich muss dich darauf hinweisen, dass du letzte Woche schon einmal dasselbe gesagt hast, als ich dir erklärte, dass bei deinem Anblick meine Eier hart werden.«

»Dass du deine eigenen Wünsche beiseiteschiebst, damit Brom und ich glücklich werden, ist eindeutig höher zu bewerten als deine Testikel«, antwortete ich und leckte ihm über die Unterlippe. »Feuer?«

»Du hast dein eigenes«, murmelte er, und Interesse leuchtete in den dunklen Tiefen seiner schwarzen Augen auf, als ich mich an ihm rieb und meinen Körper an ihn presste. »Du solltest mir deins geben, Gefährtin.«

»In Ordnung, aber nächstes Mal bist du dran.« Ich biss ihn sanft in die Lippe, und meine Finger lösten das Lederband, das seine schulterlangen braunen Haare zusammenhielt. Gleichzeitig konzentrierte ich mich darauf, den Drachen zu erwecken, der tief in meiner Psyche lebte. Das Feuer zu beherrschen, eine Fähigkeit, die allen Drachen angeboren war, musste ich erst noch lernen, aber Baltic bestand darauf, dass ich jeden Tag übte, damit ich vielleicht irgendwann wieder der Drache wurde, der ich einst gewesen war.

Ich konzentrierte mich auf den Augenblick und nahm seinen Duft auf. Seinen Körper zu spüren schürte das Feuer, aber erst, als er mich leidenschaftlich zu küssen begann, konnte ich mein Drachenfeuer einsetzen.

Baltic biss mich sanft in den Nacken, da er wusste, wie sehr ich das liebte, und schon stieg das Drachenfeuer in mir auf. Ein Flammenkelch zerplatzte an Baltics Brust und löste sich auf.

Kritisch musterte ich seine Brust. Er hörte auf, an meinem Nacken zu knabbern, und seufzte. »Du hast nicht richtig geübt.«

»Ich hatte keine Zeit, da wir ja ständig umziehen mussten. Apropos, ich hoffe, du hast an der Sicherheit dieses Hauses nichts auszusetzen, weil ich nämlich nicht vorhabe, in der nächsten Zeit hier wieder auszuziehen.«

»Du wechselst das Thema«, sagte er und zog die schwarzen Augenbrauen zusammen. »Du hast mir geschworen, an der Zähmung deines Feuers zu arbeiten. Aber du hast nichts dergleichen getan.«

»Ich hatte zu tun, das habe ich doch gerade gesagt.« Ich kniff ihn in den Arm, um ihn wissen zu lassen, dass mir weder sein finsterer Gesichtsausdruck noch sein arroganter, herablassender Ton gefielen. »Außerdem haben wir doch dein Feuer. Das reicht mir.«

»Das ändert nichts an der Tatsache, dass du mir etwas versprochen hast, was du nicht gehalten hast.«

Der ungewohnte Unterton in seiner Stimme machte mich neugierig. Ich blickte ihn an. »Warum regst du dich so darüber auf?«

Sein Gesicht war hart und verschlossen, aber in seinen Augen leuchtete ein teuflisches Vergnügen, das er nur schwerlich verbergen konnte. »Du musst bestraft werden, Gefährtin.«

»Bestraft! Bist du noch zu … warte mal, warte mal. Wie bestraft? Willst du mich etwa bestrafen, indem du mir wie Drake dauernd vorschreibst, was ich zu tun und zu lassen habe, oder meinst du bestrafen im Sinne von eine Ungezogenheit bestrafen? Haben wir das nicht vor dreihundert Jahren gemacht? Ich hatte es ganz vergessen.«

Seine Mundwinkel zuckten, und er blickte mich verschmitzt an. »Vielleicht ein bisschen von beidem.«

Ich wand mich unter seinem Griff. Die unausgesprochene Absicht in seinen Augen ließ mich vor Erregung erschaudern. »Nun … Brom ist jetzt erst einmal drei Tage weg. Ich könnte vermutlich ein wenig Dominanz gebrauchen, um unsere vergangene Beziehung zu erforschen. Wer weiß? Vielleicht hilft mir das ja dabei, den Drachen in mir zu finden. Hmm?«

»Du wirst den Drachen in dir finden – das kann ich dir versprechen«, antwortete er. Flammen züngelten an meinem Körper empor, als er mich erneut küsste.

Eine Stimme unterbrach uns. »Telefon für dich, Ysolde.«

Seufzend drehte ich mich um, um das Telefon entgegenzunehmen, das Pavel, Baltics Wache und ältester Freund, mir hinhielt. Seine Miene war undurchdringlich, aber in seinen dunklen Augen stand Erheiterung. »Ich wollte euch nicht stören, aber es ist die Silber-Schamanin. Sie sagt, es sei wichtig.«

»Kaawa?«, fragte ich. »Was mag sie wollen? Hallo, Kaawa? Wie geht es dir. Ist alles in Ordnung?«

»Gefährtin!«, sagte Baltic mit gebieterischer Stimme.

»Einen Augenblick bitte. Baltic muss erst einmal sein Mütchen kühlen, und wenn ich ihm nicht seinen Willen lasse, wird er noch bockiger als gewöhnlich«, sagte ich zu ihr, bevor sie auf meine Fragen antworten konnte.

»Ich bin nicht bockig. Ich bin nie bockig, wie man an der Tatsache erkennen kann, dass ich meinem Sohn erlaube, meinen Schutz zu verlassen. Muss ich dich daran erinnern, dass du eingewilligt hast, keinen weiteren Kontakt mit der silbernen Sippe zu haben, als du mich um Erlaubnis für Broms Besuch gebeten hast?«, fragte Baltic und blickte mich böse an.

»Ja, aber das ist doch bloß Kaawa. Sie ist kein Drache.«

»Sie ist die Mutter des silbernen Wyvern. Ich verstehe einfach nicht, warum du dich so darüber freust, dass Brom Gabriel besucht, wo er mich doch, zusammen mit den anderen Drachen, beschuldigt hat, blaue Drachen getötet zu haben. Und er hat dich zu ouroboros erklärt.«

Ein kleiner Schmerz durchzuckte mein Herz. Ich erinnerte mich zwar nicht an meine Vergangenheit als Drache, aber der Moment, als Gabriel und Kostya offiziell meine Verbindung zu ihren Sippen durchtrennten, hatte sich schmerzlich in meine Erinnerung eingegraben.

»Ich werde mit ihr sprechen, Baltic. Sie ist eine nette Frau. Sie kennt sich in den Drachen-Überlieferungen aus, und sie will mir helfen, das Problem mit dem Drachen in mir zu lösen. Und bevor du es aussprichst, ich weiß, dass du auch in Drachenkunde bewandert bist, aber du konntest mir bei der Selbstfindung nicht halb so viel helfen wie Kaawa. Oh, und da wir gerade davon sprechen, ich wollte dich auch noch etwas zu der Vergangenheit fragen, aber das kann warten, bis ich dieses Telefonat beendet habe.«

Einen Moment lang sah er so aus, als wolle er mir widersprechen, aber dann murmelte er nur unterdrückt etwas vor sich hin und stampfte hinaus. Pavel folgte ihm.

»Es tut mir leid, Kaawa. Du weißt ja, wie Baltic ist.«

Sie lachte leise. Ihre warme Stimme drang über die Kontinente hinweg an mein Ohr. »Nein, eigentlich nicht, aber nach dem, was Gabriel mir erzählt hat, hast du wohl alle Hände voll mit ihm zu tun. Wie geht es dir, Kind?«

»Uns geht es gut. Brom ist übers Wochenende zu Besuch bei Gabriel und May. Es ist sehr nett von ihnen, ihn einzuladen, immerhin befinden wir uns ja im Krieg.«

»Phh. Das ist doch mehr eine Formalität, findest du nicht auch?«

»Na ja, das sagen Aisling und May auch, aber Baltic nimmt es sehr ernst. Er schmiedet Pläne, um seine Freundin Thala aus dem Gefängnis zu befreien, in das Drake sie gesteckt hat. Ich sollte dir das wahrscheinlich gar nicht erzählen, aber ich gehe davon aus, dass du es Drake nicht weitersagst, und abgesehen davon werden die Wyvern ohnehin schon wissen, dass Baltic Thala zurückhaben will.«

Sie schwieg einen Moment. »Ich würde nichts weitererzählen, nein, aber ich werde Gabriel über alles in Kenntnis setzen, was meiner Meinung nach ihn oder seine wintiki in Gefahr bringt.«

»Das hätte ich auch nicht anders erwartet. Ich kann dir versichern, dass ich nie einen Plan zulassen würde, der Drachen in Gefahr bringt, ganz zu schweigen von den Personen, die mir am Herzen liegen.«

Die Wärme kehrte wieder in ihre Stimme zurück. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie es dir geht.«

Ich dachte an die seltsame Vision. »Mir geht es auch gut.«

»Ich habe von dir geträumt. Du hast große Verwirrung in dir, Kind, und wenn sie bis in meine Träume reicht, nimmt sie offenbar noch zu.«

»Sie nimmt zu?« Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Ich kann nur sagen, dass mich das alles ziemlich beunruhigt. Was meinst du überhaupt mit Verwirrung? Den Drachen?«

»Das ist ein Teil davon, ja.« Ihre Stimme, die normalerweise warm und beruhigend klang, wurde rau. »Ich weiß nicht … ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass sich etwas geändert hat. Was könnte das nur sein?«

Wenn jemand anderer so neugierig gewesen wäre, hätte ich ihn bestimmt zurechtgewiesen, aber Kaawa hatte in den letzten Monaten versucht, mit mir gemeinsam herauszufinden, warum der Drache, der ich früher einmal gewesen war, so tief in mir vergraben war, dass er nur bei Visionen aus der Vergangenheit zutage trat.

»Vor Kurzem ist tatsächlich etwas passiert. Ich hatte wieder eine Vision.«

»Das ist zwar von Bedeutung, aber nicht so, dass es sich auf meine Träume auswirken würde«, sagte sie nachdenklich.

»Es war keine Vision von Ereignissen aus der Vergangenheit, Kaawa. Oder vielmehr, es spielte zwar in der Vergangenheit, betraf mich aber nicht. Es passierte, bevor ich überhaupt geboren wurde.«

»Erzähl mir davon«, drängte sie. Ich setzte mich wieder auf die Steinbank und lehnte mich gegen die Hausmauer. Die Bienen summten um eine Hortensie in meiner Nähe, als ich beschrieb, was ich gesehen hatte.

»Ich weiß nicht, warum der Drache in mir wollte, dass ich das sehe – was kümmert mich Constantine, bevor er überhaupt etwas mit mir zu tun hatte? –, aber ich nehme an, die Bedeutung lag darin, dass der Erste Drache Baltic aus der Sippe verstoßen hat. Oder glaubst du, es war Antonia? Sie war einmal seine Freundin. Oder vielleicht war es auch Constantine selbst. Es ist so verwirrend! Ich könnte den Verstand darüber verlieren.«

»Du verlierst nicht den Verstand«, sagte sie gedehnt. Offenbar dachte sie nach. »Aber ich glaube nicht, dass der Drache in dir diese Vision heraufbeschworen hat, Kind. Diese Ereignisse lagen außerhalb seiner Reichweite.«

»Nein? Wer denn dann?«

»Der Erste Drache hat dir ein Zeichen gegeben. Er ist der Einzige, der die Fähigkeit haben könnte, dich Dinge sehen zu lassen, die über dein Wissen hinausgehen, und ich kann mir gut vorstellen, dass ein solcher Akt bis in meine Träume vordringen könnte.«

Ich rieb die Stelle auf meiner Stirn, wo der Erste Drache, der Vater aller Drachen, die jemals gelebt hatten oder jemals leben würden, mich berührt hatte. Er hatte ein Zeichen hinterlassen, das genauso aussah wie das Sippen-Emblem, das Baltic und ich trugen, eine gezackte Sonne. In den letzten Monaten war die Stelle auf meiner Stirn verblasst, bis sie schließlich ganz verschwunden war. »Entschuldige, dass ich so wenig davon verstehe, aber ich dachte, deine Traumwelt sei ein Abbild deines Glaubens, eng verbunden mit der Natur. Wie sollte der Erste Drache darauf einwirken können?«

»Ich habe zwei Traumwelten – das wintiki oder Nachtvogel, und das Licht. Letzteres wurde gestört. Ich habe schon lange vermutet, dass der Traumpfad des Ersten Drachen in Australien liegt, obwohl ich es erst noch beweisen muss.«

»Ein Traumpfad ist …?«

Sie lachte. »Ich rufe nicht an, um dir eine Lektion in Aborigene-Geschichte zu erteilen, Ysolde. Es würde zu lange dauern, dir alles zu erklären, deshalb sage ich im Moment nur, dass ein Traumpfad von Geistwesen wie dem Ersten Drachen erschaffen wird.«

»In Ordnung. Also wird deine Traumwelt beeinträchtigt, weil er eine Art uralten Pfad hinterlassen hat?«

»Ja. Er kann es ausgelöst haben, als er dich auf der Stirn berührt hat. Erzähl mir noch einmal, was für eine Vision er dir gegeben hat.«

Ich beschrieb erneut die Szene zwischen Constantine und dem weiblichen Magier.

»Ich habe nichts von dem Ereignis gehört, das Constantine geschildert hat«, sagte sie nachdenklich. »Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Baltic von seiner Sippe ausgeschlossen wurde. Und es ist noch nie vorgekommen, dass der Erste Drache sich in Angelegenheiten des Weyr eingemischt hätte. Ich frage mich, ob Constantine …« Ihre Stimme verstummte.

»Könnte es sein, dass er lügt?«, fragte ich nachdenklich. »Aber das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Ich werde einfach Baltic fragen.«

Sie lachte. »Es ist kein leichtes Unterfangen, Informationen von einem Drachen zu bekommen, vor allem, wenn es um etwas geht, über das sie nicht sprechen wollen.«

»Wohl wahr. Aber diese Angelegenheit ist zu bedeutend, um sie auf Dauer zu verhehlen – das glaube ich jedenfalls. Es ist doch ein einschneidendes Ereignis, wenn man zu ouroboros erklärt wird. Und wenn es stimmt, was hat er sich zuschulden kommen lassen, um den Ersten Drachen so zu verärgern?«

»Das weiß ich nicht, und vermutlich dürfte es schwierig werden, Baltic die Antwort zu entlocken. Aber ich muss zugeben, ich würde viel darum geben, es zu erfahren.«

»Lass uns einmal die Fakten resümieren: Der Erste Drache erweckt mich wieder zum Leben, als Constantine mich tötet.«

»Ja«, sagte Kaawa.

»Dann erzählt er mir, fünfhundert Jahre später wohlgemerkt, dass ich etwas für ihn tun soll.«

»Und du hast ihn zuvor irgendwie enttäuscht – hat er das nicht auch gesagt?« Sie sagte dies mit einem Lachen, um den Worten die Schärfe zu nehmen.

»Ja.« Ich seufzte. »Es gibt nichts Erhebenderes, als zu wissen, dass man bereits einmal bei einer Aufgabe für den Urvater aller Drachen gescheitert ist, und dann erklärt er einem erneut, man solle etwas für ihn tun, ohne genauer zu erläutern, worum es sich handelt, nur um dem noch hinzuzufügen, man solle es bloß nicht noch einmal vermasseln. Weißt du, manchmal denke ich, es ist ein Wunder, dass ich noch bei Verstand bin, wo ständig dieses Damoklesschwert über mir schwebt.«

»Ich würde es nicht so negativ sehen, Ysolde«, sagte Kaawa, ihre Stimme klang auf einmal sehr nachdenklich. »Er schenkt dir sein Vertrauen für eine Aufgabe, die er dir überträgt. Das ist eine Ehre, ganz gleich, wie du es siehst.«

»Wenn der Erste Drache mir die Vision über Constantine geschickt hat, dann muss sie auch etwas mit dem zu tun haben, was ich tun soll.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Seltsam ist es auf jeden Fall.«

»Da stimme ich dir zu, aber was kann ich schon anderes tun, als Baltic die Information aus der Nase zu ziehen?«

»Das weiß ich leider auch nicht, aber du wirst die Antwort darauf schon noch finden.«

»Ich wünschte, ich wüsste, wie ich das anstellen soll«, sagte ich. Ich war es leid, ständig im Dunkeln zu tappen, welche Aufgabe der Erste Drache mir erteilt hatte.

»Wenn ich das beantworten könnte, könnte ich dir auch sagen, was der Erste Drache von dir will«, sagte sie lachend. »Rede mit deinem Gefährten. Ermuntere ihn, dir von seiner Vergangenheit zu erzählen. Vielleicht liegt hier ja der Schlüssel.«

»Ja, vielleicht«, räumte ich ein. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. »Aber weißt du, Kaawa, wenn es um etwas gehen würde, was Baltic getan hat, dann hätte der Erste Drache mir eher eine Vision davon geschickt und nicht von einer Unterhaltung zwischen Personen, die nichts damit zu tun haben und es nur beiläufig erwähnen. Nein, ich glaube, dies ist eindeutig ein Hinweis auf etwas, das der Erste Drache von mir in Bezug auf Constantine erwartet, was auch immer das sein mag. Denn auf ihn war die Vision gerichtet. Aber was soll ich tun? Er ist schließlich tot. Er ist doch tot, oder?«

»Ich glaube, ja. Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.«

»Nein, aber du wusstest ja auch fast vierzig Jahre lang nicht, dass Baltic am Leben war.«

»Gabriel wusste, dass im Weyr etwas nicht stimmte. Er konnte die Unruhe spüren«, erwiderte sie.

»Das stimmt.« Ich erinnerte mich vage, dass May mir etwas in der Art erzählt hatte, obwohl Gabriel nur schwer davon zu überzeugen war, dass Baltic tatsächlich ins Land der Lebenden zurückgekehrt war.

»Es könnte etwas mit der Frau zu tun haben«, sagte Kaawa. Dann fuhr sie fort: »Ich muss jetzt auflegen, Kind, aber ich bin erleichtert, dass der Erste Drache in meine Traumwelt eingedrungen ist und nicht eine böse Macht. Lebe wohl.«

Ich dankte ihr, dass sie sich so viele Gedanken machte, dachte aber immer noch über die Vision nach, die mir vielleicht einen Hinweis darauf geben konnte, was der Erste Drache von mir wollte. »Es mag ja ein obskurer Hinweis sein, aber es ist auf jeden Fall besser als gar keiner«, sagte ich zu mir selbst. Ich blickte auf die Uhr und lief dann schnell in Broms Zimmer. Baltic hasste es, Termine nicht einzuhalten. »Noch ein oder zwei Visionen, und dann ist mir bestimmt alles klar.«

Meine Worte hallten in der leeren Diele, als ich die Treppe hinaufrannte. Eine böse Vorahnung stieg in mir auf.