15

»Weißt du, Ysolde, Dr. Kostich und ich … nun ja, wir sind nicht gerade die besten Freunde.«

Jim verdrehte die Augen, als Aisling sich aus ihrem Sessel in der Lobby des Hotels erhob, in dem mein früherer Arbeitgeber immer abstieg, wenn er in London war. »Vielleicht liegt das ja daran, dass du ihm mehr oder weniger deutlich gesagt hast, er solle dir bloß nicht mehr unter die Augen kommen, wenn er nicht mit einem Bann belegt werden wolle?«

»Das habe ich nie gesagt!« Aisling gab Jim einen Klaps auf den Arm. »Ich habe lediglich gesagt, ich wäre eine ebenbürtige Konkurrenz für ihn. Und er ist ja nur so außer sich geraten, weil ich das eine Mal mit Caribbean Battiste herumgezappt habe. Das war albern, weil Caribbean ja noch nicht einmal sauer auf mich war. Na ja, jedenfalls nicht mehr, nachdem ich mich entschuldigt und geschworen habe, ihn nie wieder in ein Scheinbild zu verwandeln. Und ich habe ihm einen neuen Anzug bezahlt, da seiner ruiniert war. Und dann musste Drake Geld ans Heim für alte Hüterinnen spenden, aber das war ja auch eine gute Sache, deshalb hat es ihm gar nichts ausgemacht. Auf jeden Fall haben Kostich und ich eine schwierige Geschichte, und ich weiß nicht, ob es so klug ist, wenn ich mit dir dorthin gehe.«

»Guten Morgen«, sagte ich. Über ihren Protest lächelte ich nur. »Mir ist durchaus bewusst, dass Kostich dich nicht gerade liebt, aber da er mich noch weniger liebt, dachte ich, es könnte auf keinen Fall schaden, eine Hüterin und gleichzeitig Gefährtin eines mächtigen Wyvern dabeizuhaben, um ihn daran zu erinnern, dass er uns nicht einfach so herumschubsen kann.«

»Ja, aber er ist mächtiger, als die meisten Leute glauben«, wandte Aisling ein, als wir in den Aufzug traten. »Äh … weißt du, welche Zimmernummer er hat? Sollten wir ihm nicht Bescheid sagen, dass wir zu ihm kommen? Wenn er nun nicht da ist?«

»Er wohnt immer in Suite 1818, daher weiß ich, wo sein Zimmer ist, und ehrlich gesagt finde ich es besser, ihn unangemeldet zu besuchen. Wenn ich meinen Besuch vorher ankündige, lässt er mich gar nicht erst hinein.«

»Na, das klingt ja toll«, sagte Jim düster. »Wenigstens habe ich mein Handy dabei und kann Aufnahmen machen, wenn er ausrastet.«

»Sei jetzt still«, befahl Aisling, weil uns die anderen Leute im Aufzug merkwürdig ansahen. Als wir vor der Tür zur Suite standen, sagte sie: »Bist du sicher, dass ich mitkommen soll, Ysolde?«

»Ja, ich bin sicher. Ich weiß echt nicht mehr, was ich mit Jim noch anstellen soll, und wie du schon sagtest, Dr. Kostich ist der mächtigste Magier weit und breit.«

»Du hast Bael nicht kennengelernt, wenn er sich als Magier verkleidet hat.« Aisling verzog das Gesicht. »Er war auch nicht gerade ein Leichtgewicht.«

Ich beschloss, sie später danach zu fragen. Ich wappnete mich innerlich und drückte auf den Klingelknopf neben der Tür.

Ein vertrauter rothaariger Mann öffnete die Tür.

»Jack!«, sagte ich freudig überrascht.

»Tully! Nein, warte, du hast ja jetzt einen anderen Namen … Isabel?«

»Ysolde, aber wenn du willst, kannst du immer noch Tully zu mir sagen. Ich höre auf beide Namen. Ich hatte keine Ahnung, dass du in London bist. Ich dachte, du wärst nach Kairo gefahren.«

Der sommersprossige junge Mann mit dem fröhlichen Gesicht grinste. »Ich habe meine Ausbildung in Rekordzeit beendet, deshalb hat der Meister mich zurückgeholt. Aber was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst jetzt die Gefährtin des Drachenmagiers, der uns angegriffen hat.«

»Das bin ich auch, aber ich habe ein kleines Problem und brauche Dr. Kostichs Hilfe. Das sind Aisling Grey und ihr Dämon Jim.«

»Hallo«, sagte Jim »Ich kann mich an dich erinnern, von dem Tag, als der Nachwuchs geboren wurde.«

»Äh … hallo.« Jacks Lächeln erlosch, und er warf rasch einen Blick über seine Schulter. »Du hast keinen Termin, oder?«

»Nein.« Ich senkte die Stimme. »Ich muss ihn unbedingt sehen, Jack.«

Er blickte mich mitfühlend an. »Du weißt doch, dass er ohne Termin niemanden empfängt.«

»Ich weiß, aber es gibt wirklich keine andere Möglichkeit. Ich habe zwar im Moment einen Auftrag von ihm, aber wenn ich einen Termin gemacht hätte, hätte er sicher gefragt, ob es um den Auftrag ginge, und du weißt doch, dass man ihn unmöglich anlügen kann. Der Mann hat einen eingebauten Lügendetektor.«

Jacks Mundwinkel gingen nach oben. »Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er der mächtigste aller Magier ist.«

»Genau. Also wenn du einfach nur wegsiehst und uns hereinlässt, wäre ich dir ewig dankbar.«

Eine Fülle von Emotionen huschte über Jacks Gesicht, aber schließlich zwinkerte er mir spitzbübisch zu. »Möglicherweise kostet es mich meinen Job, aber ich tue es.« Er trat zurück und hielt uns die Tür auf.

»Wenn es dir hilft, kann ich ja behaupten, dass Jim dich überwältigt hat«, bot Aisling an, als wir die Suite betraten.

»Grr«, sagte Jim und ließ seine Muskeln spielen.

»Äh … nein, ich glaube, ich versuche es einfach mal damit, dass Ysolde jetzt eine wichtige Persönlichkeit ist«, sagte Jack und geleitete uns zu dem Zimmer, in dem sich Kostichs Büro befand. »Es macht euch hoffentlich nichts aus, wenn ich euch nicht ankündige, oder?«

»Überhaupt nicht. Danke, Jack. Ich schulde dir was.«

Er nickte und verschwand in einem Nebenzimmer, da er sich offensichtlich nicht dem Zorn seines Meisters aussetzen wollte, in welchen dieser in einigen Augenblicken bestimmt ausbrechen würde.

»Ich hasse es, recht zu haben«, sagte ich drei Minuten später zu Aisling, als Dr. Kostich wütend durch das Zimmer rannte. Seine Tiraden über Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihren Vorgesetzten die Zeit zu stehlen, galten niemand im Besonderen.

»Es ist ein Fluch, nicht wahr?«, sagte sie mitfühlend und tätschelte meinen Arm. Ich holte tief Luft und trat auf Kostich zu, um seinem Wutausbruch ein Ende zu bereiten.

»Ich habe mich bereits zweimal dafür entschuldigt, dass ich Sie bei der Arbeit gestört habe, und ich tue es gerne noch einmal, wenn es Ihnen dann besser geht, aber dies ist eine ernste Angelegenheit. Sie hat zwar nichts mit der Aufgabe zu tun, die Sie mir erteilt haben, aber sie hat trotzdem Auswirkungen auf mich, und deshalb bin ich gezwungen, Hilfe bei der einzigen Person zu suchen, die mächtig genug ist, um mir zu helfen.«

»Jetzt hast du aber die rostige Türangel nett geölt«, sagte Aisling.

Dr. Kostich war nicht immun gegen Schmeicheleien, aber er war auch nicht sonderlich leicht zu beeindrucken. Er hörte auf, im Zimmer herumzustampfen, und trat vor mich hin. Sein Gesichtsausdruck war mindestens so finster wie Baltics. »Du verlangst viel von mir, Drache. Zuerst soll ich das Verbot von dir nehmen, und jetzt willst du auch noch meine Hilfe bei einem misslungenen Zauber? Sag mir einen Grund, warum ich dich und diese Unruhestifterin nicht einfach hinauswerfen soll?«, fragte er und zeigte auf Aisling.

»Hey«, sagte sie und erhob sich von der Couch, auf der sie gesessen hatte. »Ich bin eine professionelle Hüterin, anerkannt und offiziell autorisiert von der Hüter-Gilde. Ich bin kein Unruhestifter.«

Kostich warf ihr einen so strengen Blick zu, dass sie sich sofort wieder hinsetzte.

»Sie sind der Einzige, der herausfinden kann, was mit meiner Magie los ist«, sagte ich, wobei ich im Stillen hoffte, dass ihn die Herausforderung genügend reizte, um mir zu helfen.

Er blickte mich finster an, dann setzte er sich mit einem verärgerten Laut an seinen Schreibtisch und wies auf Jim. »Der Dämon soll sich verwandeln.«

»Effrijim, ich befehle dir, deine bevorzugte Gestalt anzunehmen«, sagte Aisling zu Jim.

Die menschliche Gestalt flimmerte und verwandelte sich in den zotteligen schwarzen Hund. Dr. Kostich musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Sein intensiver Blick verriet, dass er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Problem richtete.

»Ich bleibe höchstens eine Minute lang in dieser Gestalt«, sagte Jim, und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da flimmerte die Gestalt wieder, und er verwandelte sich in die menschliche Version zurück.

Kostich kniff die Augen noch mehr zusammen und rieb sich das Kinn. »Noch einmal«, befahl er.

Aisling und Jim kamen seiner Aufforderung nach.

»Möchten Sie wissen, was ich für einen Zauberspruch benutzt habe«, fragte ich, als Jim sich wieder zurückverwandelte.

»Der Zauberspruch ist unerheblich«, antwortete er und wies auf einen Stifthalter auf seinem Schreibtisch. »Verwandle den Füller in eine Blumenvase.«

»In Ordnung.« Ich bündelte meine Energie, rezitierte den elementarsten Spruch für alle Verwandlungszauber und beobachtete resigniert, wie aus dem Füller eine Schüssel mit Spaghetti wurde.

»Mittagessen«, sagte Jim. Seine Miene hellte sich auf.

»Es ist so, als liefe meine gesamte Magie rückwärts. Seit Sie mich mit dem Verbot belegt haben, ist es so gewesen, nur jetzt scheint es …«

Überrascht starrten wir auf den Schreibtisch, als sich die Schüssel mit den Spaghetti auf einmal in eine Taube verwandelte.

»… schlimmer zu werden«, vollendete ich den Satz. Die Taube hob den Schwanz und kackte auf Dr. Kostichs Papiere.

Er schloss einen Moment lang die Augen. Seinem hageren Gesicht sah man an, dass sich seine Geduld dem Ende zuneigte. »Du bist entzwei.«

»Wie bitte?«

»Entzwei. Es ist ein altmodischer Ausdruck, aber er bezeichnet ziemlich treffend die Beziehung zwischen Magiern und ihren Kräften, wenn sie sie missbraucht haben.«

»Ich? Ich habe sie nicht missbraucht.« Die Taube gurrte und verwandelte sich in eine kleine Marmorstatue von Hermes. »Na ja, nicht sehr jedenfalls. Womit soll ich meinen magischen Kräften denn geschadet haben?«

»Du bist ein Drache.« Er hob die Hand, als ich protestieren wollte. »Du siehst aus wie ein Mensch, aber du bist keiner. Du hast selbst zugegeben, dass deine jetzige Gestalt dein früheres Wesen in sich birgt, und das führt zwangsläufig dazu, dass dein Wesen und deine magischen Kräfte sich einander entfremden. Und das wiederum äußert sich in diesen Fehlversuchen.«

»Na toll. Bin ich ein Fehlversuch?« Jim blickte mich kläglich an. »Kannst du mich bitte wieder heil machen?«

»Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte Aisling verwirrt. »Wir haben alle die Vision gesehen, als der Erste Drache Ysolde wiedererweckt hat. Seitdem ist sie immer ein Mensch gewesen, und wenn sie vorher schon entzwei gewesen wäre, hätte man das doch merken müssen, oder?«

»Sie war entzwei, aber die Trennung von ihrer Magie war noch nicht so ausgeprägt wie jetzt, da ihr Drache zu erwachen beginnt. Vor der Attacke durch ihren wuchtigen Gefährten im Haus des grünen Wyvern war ihre Magie einfach nur ineffektiv. Jetzt hat sich die Entzweiung verstärkt und ruft die Wirkung hervor, die wir sehen.«

Wir alle blickten auf die kleine Statue, die sich gerade in Luft auflöste.

Dr. Kostich seufzte. »Und nun habe ich auch noch meinen Lieblingsfüller verloren.«

»Okay. Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Jim und wich zurück. »Ich will nicht, dass du noch einmal versuchst, mir meine prachtvolle Gestalt zurückzugeben.«

»Kann ich denn gar nichts tun?«, fragte ich Kostich. Mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, dass ich einen so wesentlichen Teil meiner selbst verlieren sollte, ganz zu schweigen davon, dass Jim in einer Gestalt verharren musste, die er verabscheute. »Können Sie mir nicht helfen?«

»Mit der Entzweiung? Nein.« Mit säuerlicher Miene blickte er zu Jim. »Ich kann jedoch als Fokus für deine Magie agieren, um dem Dämon seine Hundegestalt wiederzugeben, auch wenn ich nicht verstehe, warum er das so unbedingt will. Aber das kostet natürlich etwas.«

»Ich habe meine Kreditkarte dabei«, sagte Aisling und griff nach ihrer Tasche.

»Nein, das bezahle ich natürlich«, sagte ich und griff nach meiner Tasche.

»Nicht diese Art von Kosten«, unterbrach Kostich uns mit einem verächtlichen Blick. »Es kostet dich deine Einstellung zur weißen Magie, wenn jemand anderer als dein Fokus agiert. Deshalb ist es in der Magistergilde auch verboten. Du erlaubst letztendlich einem anderen Magier, deine Macht zu benutzen, und weiße Magie mag es nicht, so benutzt zu werden. Solange du dir jedoch der Risiken, die mit einem solchen Akt verbunden sind, bewusst bist, können wir es so machen.«

»Was für Risiken denn?«, fragte ich bang.

»Oh Mann, ich werde noch mehr Zehen verlieren, ich weiß es«, stöhnte Jim. Aisling schlug ihm erneut auf den Arm.

Dr. Kostich zuckte mit den Schultern. »Das weißt du erst, wenn du es ausprobiert hast.«

»Bei Ihnen klingt es so, als sei weiße Magie ein … na ja … ein Wesen, das zu Empfindungen fähig ist«, sagte Aisling.

»Du warst geächtet. Du hast das Gegenteil von weißer Magie gefühlt. Würdest du sagen, die dunkle Macht ist empfindungsfähig?«

»Oh ja«, antwortete Aisling schaudernd. »Obwohl mir das zuerst nicht so klar war. Ich dachte, jemand benutze sie, um Macht über mich zu erlangen.«

»Das war auch so«, sagte Kostich verächtlich und erhob sich. »Bist du bereit es zu versuchen, Tully Sullivan?«

Ich zuckte zusammen. »Ja, das bin ich Jim schuldig. Sie sollten aber sicher sein, dass Jim auf jeden Fall zurückverwandelt wird, wenn Sie sich auf meine Magie konzentrieren.«

»Meine Macht hat noch nicht begonnen, sich zurückzuziehen«, sagte er. Er winkte mich zu sich und legte seine kalten Finger auf meinen Nacken. »Fahre fort.«

Ich schloss die Augen und wandte mich nach Osten, um die vier Himmelsrichtungen aufzurufen. »Luft umgibt dich.«

Dr. Kostich drehte sich mit mir, als ich mich nach Süden wandte. »Feuer erfüllt dich.«

»Na toll, danach war ich beim letzten Mal nackt«, beschwerte sich Jim. »Ash, du solltest besser eine Decke bereithalten.«

»Schweig, Dämon«, fuhr sie ihn an.

Kostich und ich wandten uns nach Norden und dann nach Westen. »Erde nährt dich. Wasser schenkt dir Leben.«

Ich stand wieder mit dem Gesicht zu Jim, öffnete die Augen und zog, so fest ich konnte, an Baltics Feuer. »Dämon von Geburt, Dämon vom Wesen, mit der Gnade, die mir innewohnt, erlöse ich dich von deiner Gestalt.«

Eine Sekunde lang passierte gar nichts. Jim stand völlig verängstigt da, dann durchströmte mich ein Gefühl von Macht und löschte alles aus, was ich jemals gewesen war und jemals sein würde, bevor es in einem Abgrund der Leere verebbte.

Der Mann blickte mich mit einer Mischung aus Verärgerung und Nachsicht an. »Du machst dir dies zur Gewohnheit, Tochter des Lichts.«

Ich setzte mich auf und schaute ihn an. Er sah irgendwie vertraut aus, mit seinen unendlich weisen Augen, und doch war da noch etwas anderes an ihm.

»Wollt Ihr meinen Vater besuchen?«, fragte ich verwirrt. Ich blickte mich im Zimmer um und stellte überrascht fest, dass noch andere Personen anwesend waren, ein Mann und eine Frau in seltsamer Kleidung und ein großer schwarzer Hund, die mich alle drei ungläubig anstarrten. »Ich hole ihn für Euch. Er ist es doch sicher, den Ihr sehen wollt, mein Herr, oder? Entschuldigung, ich scheine heute früh nicht ganz bei Sinnen zu sein. Ich glaube nicht, dass man mir gesagt hat, dass ein Magier meinen Vater besuchen will. Wie ist Euer Name, Herr?«

»Ich bin kein Magier, der zu Besuch kommt«, sagte der alte Mann und streckte seine Hand aus. Ich ergriff sie und stand auf. Kurz drehte sich mir alles vor Augen. »Du bist mir wichtig, Tochter, aber ich kann dich nicht ständig retten. Du musst deinen eigenen Weg finden und darfst dich nicht darauf verlassen, dass ich dir immer wieder helfe.«

Ich hob die Hand. Mein Kopf drehte sich, sowohl von seinen Worten als auch von der seltsamen Umgebung, in der ich mich befand.

»Feuer von Abaddon«, sagte jemand. »Hat sie sich etwa wieder in ihr altes Ich verwandelt?«

»Sei still, Jim. Äh … Herr Erster Drache?« Die Frau, die eine merkwürdige abgeschnittene Tunika und Leggings trug, winkte dem Mann zu, der immer noch meine Hand hielt. »Ich weiß, dass Ysolde jede Menge Fragen hat zu dem, was sie für Sie tun soll, und da sie im Moment nicht so ganz bei sich ist, dachte ich, ich kann Ihnen die Fragen vielleicht stellen.«

Der Mann warf ihr einen Blick zu und wiederholte: »Sie muss ihren eigenen Weg gehen.«

»Ja, aber …«

»Einst wurde ein Leben für deines gegeben, Tochter. Vergelte es nicht wieder mit Versagen.«

Mir blieb der Mund offen stehen, als der Mann auf einmal in einem hellen, silbernen Licht flimmerte, als bestünde er aus Tausenden von Regentropfen, die in der Sonne schimmerten. Hell glitzerten die Tropfen, bevor sie sich in Nichts auflösten.

»Beim Kreuz!«, keuchte ich und fuhr mit der Hand durch die Luft, wo eben noch der Mann gestanden hatte. »Das muss ich Papa erzählen. Selbst er kann sich nicht in Lichttropfen verwandeln.«

»Wenn ich nicht solches Interesse an Elementarwesen wie dem Vorfahr aller Drachen hätte, hätte ich das jetzt langweilig gefunden«, sagte der große, dünne Mann mit den wässerigen blauen Augen. Er beäugte mich, als sei ich ein Eimer voller Schmutzwasser. »Aber jetzt, wo er weg ist, fesselt mich die Situation nicht mehr. Aisling Grey, bitte entferne meinen früheren Lehrling.«

»Sie können sie doch nicht einfach so hinauswerfen!«, protestierte die Frau. Sie gefiel mir. »Sie wurde vor ein paar Minuten gerade getötet! Getötet wegen Ihrer Magie!«

»Jemand wurde getötet?«, fragte ich und blickte mich um. Mir war immer noch schwindlig, aber wenn hier irgendwo eine Leiche lag, wollte ich sie gerne sehen. Leichen haben mich immer schon fasziniert, sehr zum Entsetzen meiner Mutter. »Wer?«

»Du«, sagte eine Männerstimme, und mir fiel der Unterkiefer herunter, als ich feststellte, dass sie von dem großen schwarzen Hund kam.

»Ich?« Ich kniff mir in den Arm. Es fühlte sich real an.

»Ja. Du bist umgefallen wie ein nasser Sack. Dann hatte der Erste Drache seinen großartigen Auftritt, wedelte mit den Händen, und schwupps, warst du wieder lebendig.«

»Der Erste Drache …« Etwas an diesem Namen kam mir bekannt vor.

Die Frau und der Mann hatten sich gestritten, während der Hund mit mir redete. Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich jetzt völlig irre geworden sei, dachte dann aber, dass es eigentlich egal war, wenn ich mit Hunden reden konnte. »Wer bist du?«, fragte ich ihn.

»Mann, du stehst wirklich neben dir, was? Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern? Baltic wird verrückt, wenn du schon wieder das Gedächtnis verloren hast.«

Ich runzelte die Stirn und durchforstete mein Gedächtnis. Es gab zahlreiche flüchtige Ansätze von Erinnerung, die aber so schnell vorüberzogen, dass ich sie nicht festhalten konnte. »Nein, ich … da ist etwas … ein Mann, glaube ich. Er ist …«

»Gut!«, schrie die Frau, ergriff mich am Arm und zog mich zur Tür. »Aber wenn Baltic wissen will, warum Ysolde schon wieder auferstanden ist, dann erzähle ich ihm ganz bestimmt, dass alles Ihre Schuld ist.«

Der Mann knurrte einen Fluch, aber sie schob mich bereits durch die Tür, einen kurzen Flur entlang zu einer anderen Tür und hinaus auf einen langen Korridor mit vielen Türen.

Etwas an der Umgebung kam mir plötzlich ebenfalls bekannt vor. »Ich glaube, das habe ich schon einmal gesehen«, sagte ich und zeigte auf die Wand, als die Frau und der Hund mit mir in einen Metallkasten traten. Ich berührte die Wand und zuckte zusammen, als sich der Boden unter mir bewegte. »Das ist ein … ein …«

»Oh Mann, ich kann nur hoffen, dass du bald dein Gedächtnis wiederbekommst! Baltic kriegt einen Anfall«, sagte die Frau.

Ich blickte sie an, als sie mich aus dem kleinen Metallzimmer in eine große, hell erleuchtete Halle schob.

»Keine Halle«, korrigierte ich mich. »Eine Lobby. Eine Hotellobby.« Erneut drehte sich die Welt vor meinen Augen, als ob sie langsam wieder scharf gestellt würde.

»Gott sei Dank«, sagte Aisling. Sie und Jim drückten mich in einen großen, weißen Sessel.

»Aisling!«, sagte ich erfreut. »Ich weiß, wer du bist. Und Jim!«

Sie lächelte mich schief an, dann winkte sie einem Kellner und bestellte Kaffee. »Puh. Du hast uns ganz schön Angst eingejagt. Ich habe schon überlegt, wie ich es Baltic beibringen soll, dass wir dich getötet haben, als wir Jim zurückverwandelt haben, und dann war plötzlich der Erste Drache da, und … na, ich bin jedenfalls froh, dass dein Gehirn wieder funktioniert.«

Als sie mit ihrer Erklärung fertig war, war auch mein Verstand so weit wiederhergestellt, dass ich fragen konnte: »Der Zauberspruch hat mich getötet?«

»Nein, das glaube ich nicht. Kostich meinte, es sei der Rückstoß von der weißen Magie gewesen, die plötzlich frei geworden ist, als Jim wieder zum Neufundländer wurde. Eine Minute lang hast du aufgeleuchtet wie ein Christbaum, dann bist du zusammengebrochen. Wir haben gedacht, du bist tot. Dann kam der Erste Drache, rief deinen Namen und brachte dich zurück.« Aisling blickte mich verwundert an. »Ich glaube nicht, dass ich jemals von jemandem gehört habe, der zweimal wiedererweckt worden ist, vor allem nicht vom Ersten Drachen. Drake sagt, er ist seit Jahrhunderten nicht mehr erschienen, und das erste Mal erst wieder, als May das Drachenherz neu geformt hat. Offensichtlich hast du eine tiefe Verbindung zu ihm.«

Ich holte tief Luft. »Nun, ich werde mich sicher nicht beklagen, dass ich wieder am Leben bin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Baltic …« Meine Haut begann vor Entsetzen zu prickeln. »Ach, du lieber Gott! Baltic! Er hat bestimmt gespürt, wie ich gestorben bin!« Hektisch kramte ich in meiner Tasche nach meinem Handy, fand es aber nicht.

»Oh Gott! Daran habe ich auch nicht gedacht. Dein Handy ist mit der Lichtexplosion in Rauch aufgegangen. Hier, nimm meins«, sagte Aisling und reichte mir ihr Handy.

Meine Finger zitterten, als ich die Telefonnummer eingab. Nur zu gut erinnerte ich mich an Baltics Stimme, als er geschworen hatte, er könne ohne mich nicht weiterleben.

»Warst du etwa lange genug tot, um ihn zu töten?«, fragte Aisling angstvoll.

»Bitte, geh ans Telefon, bitte!«, flehte ich, während das Handy klingelte. Tränen traten mir in die Augen. »Bitte, Baltic, bitte …«

Ein Knurren ertönte.

»Baltic!«, schrie ich.

»Ysolde?« Er atmete schwer. »Gott im Himmel! Was tust du mir an? Wo bist du? Warum hatte ich das Gefühl, mir reißt jemand das Herz aus dem Leib? Was hast du getan?«

»Oh, Gott sei Dank!« Ich legte meine Hand über die Sprechmuschel. »Er ist in Ordnung, Aisling.«

»Gott sei Dank«, stieß auch sie hervor. Dann packte sie Jim und setzte sich in eine andere Sitzgruppe, um mir ein bisschen Privatsphäre zu lassen.

»Wo bist du?«, fragte Baltic noch einmal. Ein grässliches Geräusch ertönte, eine Mischung aus metallischem Knirschen und Klirren von Glas, gefolgt von einem dumpfen Knall. »Oh, zum Teufel!«

»Was ist los? Was war das?«, fragte ich angstvoll, obwohl ich seine Stimme hören konnte.

»Pavel?« Erneut splitterte Glas. Baltic grunzte. »Die Tür ist ab. Bist du verletzt?«

Von ferne hörte ich Pavel antworten: »Nur am Arm. Die Airbags haben uns gerettet.«

»Oh mein Gott, du warst im Auto? Du hast einen Unfall gehabt? Geht es dir gut?« Ich stand auf und rannte hin und her. Am liebsten wäre ich sofort zu ihm gelaufen, aber ich wusste ja nicht, wo er war.

»Ja. Dieses Auto ist nicht in Ordnung. Wir werden uns ein anderes anschaffen. Und jetzt wirst du mir sagen, warum ich mich auf einmal so fühlte wie damals, als Constantine dich getötet hat.«

Ich holte tief Luft und rief mir ins Gedächtnis, dass es ihm gut gehen musste, wenn er wieder mit mir reden konnte. »Es ist etwas passiert, als Dr. Kostich mir geholfen hat, Jim wieder in seine Hundegestalt zurückzuverwandeln.« In der Ferne hörte ich einen dumpfen Knall.

Baltic seufzte. »Gefährtin, ich weiß, dass du dich für einen Menschen hältst, aber du bist sechshundert Jahre alt. Du musst schon ein bisschen aufpassen.«

»Eigentlich bin ich eher sechs Minuten alt, aber das gehört nicht hierher. Was war das für ein Geräusch, das ich eben gehört habe?«

»Das Auto ist in Flammen aufgegangen. Was war denn mit Kostich? Warum hat es sich so angefühlt, als ob du gestorben wärst?«

»Ich bin gestorben.«

Eine halbe Minute lang hörte ich ihn nur atmen. Schließlich fragte er mit erstickter Stimme: »Und warum bist du gestorben?«

»Das habe ich dir doch gerade gesagt. Kostich und ich haben den Zauber von Jim genommen, und es ist schiefgegangen. Der Rückstoß der weißen Magie hat mich umgebracht. Und dann hat mich der Erste Drache wiedererweckt. Wieder einmal.«

Baltic fluchte laut. »Das halte ich nicht aus«, murmelte er. Wieder mit normaler Lautstärke befahl er mir: »Bleib, wo du bist. Ich kaufe ein neues Fahrzeug und komme dich abholen.«

»Oh nein, das tust du nicht. Du bleibst, wo du bist, und ich steige ins Auto und hole dich und Pavel ab. Ist sein Arm schlimm verletzt? Bist du verletzt?«

»Gefährtin, gib mir keine Anweisungen! Du hast mich gerade beinahe umgebracht. Bleib, wo du bist. Wir finden dich.«

Nach fünfminütigem Hin und Her einigten wir uns schließlich darauf, uns bei Aisling und Drake zu treffen.

»Bist du sicher, dass es Drake nichts ausmacht, wenn ich bei euch auftauche?«, fragte ich Aisling, als unser Taxi vor einem schönen Haus in einer exklusiven Gegend hielt.

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete sie. Mit einer kleinen Grimasse fügte sie hinzu: »Und wenn doch, dann kann er was erleben. Ich möchte, dass du die Babys siehst. Sie sind wirklich hinreißend, obwohl ich natürlich voreingenommen bin. Ich hoffe allerdings, es macht dir nichts aus, dass du dich einer Leibesvisitation unterziehen musst. Seit der Geburt der Zwillinge sind Drakes Sicherheitsmaßnahmen kaum noch zu ertragen, aber er meint es nur gut.«

Es dauerte gute drei Minuten, bis ich durch die Sicherheitskontrolle hindurch war, aber schließlich stand ich in der Eingangshalle des Hauses, und Aisling ging mit mir nach oben ins Kinderzimmer.

Die Zwillinge schliefen in geschnitzten Holzwiegen mit Himmel, umgeben von Plüschdrachen. Ich bewunderte sie gebührend, plauderte mit ihrer Nanny, einem jungen grünen Drachen namens Grace, und versicherte Aisling, dass ich gerne noch einmal an einem anderen Tag vorbeikommen würde, um sie wach zu erleben.

»Drake wollte den beiden ungarische Namen geben, aber ich habe auf keltischen Namen bestanden – in meiner Familie hat es immer nur keltische Namen gegeben. Iarlaith habe ich ausgesucht, obwohl ich zugeben muss, dass jeder über die Aussprache stolpert. Drake hat Ilonas Namen ausgesucht. Er bedeutet ›die Schöne‹. Und wo wir gerade von Kindern sprechen – wie geht es denn Brom? May hat gesagt, er habe den Besuch bei ihnen sehr genossen. Ich hoffe nur, dass er unter diesem blöden Krieg nicht zu leiden hat.«

»Nicht …«

Die Tür zum Wohnzimmer, wo wir Tee tranken, flog auf, und Baltic stand auf der Schwelle. Er bebte vor Empörung.

»… im Mindesten.«

»Ach du liebe Güte«, sagte Aisling und musterte ihn. »Ich hoffe, Pál hat es mit seinen Sicherheitsmaßnahmen nicht übertrieben.«

»Das volle Höhlendurchleuchtungsprogramm?«, fragte Jim Baltic. »Metalldetektoren im Hintern? Röntgenstrahlen und Weichteil-Scans?«

Aus Baltics Nüstern drang Rauch. Seine Haare waren zerzaust, und er sah so aus, als hätte er gerade noch mit den Zähnen geknirscht. Und er sah so aus, als sei er in der Lage, das gesamte Haus mit bloßen Händen auseinanderzunehmen.

»Danke für den Tee«, sagte ich zu Aisling, weil ich die unvermeidliche Explosion voraussah. »Ich habe wahrscheinlich Baltics Geduld schon genug strapaziert, deshalb machen wir uns jetzt auf den Weg nach Hause.«

»Oh, so schnell schon?« Sie blickte mich enttäuscht an. »Vielleicht möchte Baltic ja auch zuerst einmal die Babys sehen?«

Er warf ihr so einen finsteren Blick zu, dass sie zusammenzuckte. »Nein, ich verstehe. Ein anderes Mal dann.«

Ich ergriff Baltics Hand und küsste ihn sanft. Er bewegte sich nicht, aber sein wütender Blick versengte mich förmlich. »Komm, mein Liebling, ich werde deinen Zorn auf dem Heimweg besänftigen.«

Er sagte nichts, nur ein Funken von Interesse flammte kurz in seinen dunklen Augen auf. »Du wirst schon mehr tun müssen, als mich nur zu besänftigen, Gefährtin. Du hast mich kürzlich nach meinen Fantasien gefragt. Jetzt habe ich eine, und dazu gehört die Bestrafung, die du für das, was ich in der letzten Stunde durchgemacht habe, verdient hast.«

»Ooh, Bestrafungsfantasien«, sagte Jim und zog eine Augenbraue hoch. »Davon hat Drake auch eine ganze Menge auf Lager.«

»Jim!«, sagte Aisling und hob drohend den Finger. »Raus! Und sieh mich nicht so an. Ich bin hier der Dämonenfürst, und du solltest besser daran denken, dass …«

Wir gingen einfach. Ich sah die düstere Prophezeiung in Baltics Augen und ließ mich von ihm zum Taxi führen, wobei ich mich fragte, was für eine Bestrafung er sich wohl ausgedacht hatte und ob ich ihm neue Karamellsoße machen sollte.