IV.

 

Als Motto standen auf der Titelseite aus Händel-Miltons Oratorium »Samson Agonistes« die Verse: »Laß mich mit Thränen mein Loos beklagen, Ketten zu tragen das ist mein Geschick.« Ja, wahrlich, hier tobte ein geschorener geblendeter Simson in seinen Ketten – er, der so oft mit einem Eselskinnbacken die Philister erschlug.

Bei Lebzeiten des Dichters wäre eine Veröffentlichung dieses Tagebuchs ein unmögliches Vabanque-Spiel gewesen oder zum Staatsstreich geworden. Die unheimliche Menschenkenntniß, die hier intuitiv in allen Seelen las, ihr Schicksal mit einem Blick vor-und rückwärts erkundend, paarte sich einem unerbittlichen Zuhausesein im eignen zerwühlten Herzen. Dies schien ihm der Spiegel geworden, durch den er die Herzen der Andern sah.

Man blickte gleichsam über den Schreibtisch des Dichters, wie er verzweifelt nach Vollendung rang. Man sah ihn als halbflüggen Jüngling seinen unreifen Weltschmerz und seine unglückliche Liebe in wilden Liedern ausgrollen, aber nicht in rethorischer Formvirtuosität, nichtselnd, sondern an großen Stoffen sich die Zähne ausbeißend. Langsam und stetig gewann er Herrschaft über die Form, allerdings eine neue Form, von welcher der akademische Jargon der Poesie-Eunuchen und Hermaphroditen noch nichts ahnte. Mit durstigen Sinnen schaute er sein handlungbewegtes Leben an und angeschautes Leben trat in all seinen Schriften hervor. Ja, er eroberte sogar neue Stoffgebiete, welche der Poesie noch nie erschlossen waren. Unaufhaltsam rollte der Wagen dieses geistigen Imperators die Via Triumphalis hinan.

Dabei blieb er kameradschaftlich jovial, trotzdem das volle Bewußtsein seines Werthes ihn aufrecht erhielt im Sumpf der litterarischen Bohème. Aber grade in Folge seiner Bonhomie kam eine Vertraulichkeit seiner Schützlinge zum Vorschein, die dem verwöhnten und stolzen Manne nicht behagen konnte. Wunderknaben, die er gegen alle Welt geschirmt, vermaßen sich ihn zu fragen, wie einst der Dichterling Polidori seinen Gönner Byron: was er denn eigentlich mehr leiste als sie. Wer in seinem Schatten vegetirte, nahm später einen lehrhaften Ton gegen den allzu Gutmüthigen an. Wenn dann dem Ewigkeitsmenschen endlich die Geduld riß, rannten sie wie toll umher und klatschten Schauderdinge von seinem Hochmuth, während es gerade als sein Fehler erschien, daß er sich würdelos wegwarf. Im tiefsten Innern bescheiden allem Großen gegenüber, hingebend und übertrieben wohlwollend gegen alles leidlich Bedeutende, zweifelte er stets an seiner Unfehlbarkeit, unbeirrt durch das Hosianna seiner Bewunderer wie das Gekläff seiner Neider. War er nur der Christoph Marlowe eines neuen Shakespeare? War er der Riese Christoph, der das Jesuskind über die wilden Wasser trägt? Oder war er selbst dieser Messias der Poesie? Er wußte es nicht. Auch grübelte er nie darüber und fühlte sich stets bereit, das Knie zu beugen vor dem Dichter der Zeit, der da kommen sollte, wie die Zeichen künden. Fern dem neidischen Größenwahn wie der falschen Demuth, wie es der wahren Größe geziemt, brandmarkte er nur den Wahn der Windmacher. Denn in diesen prahlenden neidgrünen Schwächlingen erkannte er grade die echten Kinder unsrer reklamesüchtigen Aera, ob sie auch selbst über ihr Jahrhundert errötheten, wie ihr Jahrhundert über sie. All diesen Statisten, die statt »die Pferde sind gesattelt« sich selbst als Heldenspieler meldeten fürs erste Rollenfach, ertheilte er oft den wohlverdienten Fußtritt seines vernichtenden Sarkasmus.

Selten war die Lächerlichkeit, welche unbewußt aller Lüge und Gemeinheit anhaftet, mit so sicherer kühner Hand in derben Strichen conterfeit. Wie der Ritter mit der eisernen Hand, knackte dieser ins Moralische übersetzte Pietro Aretino abschreckende Kopfnüsse hinter den feuchten Ohren seiner Verfolger und verpuffte sterbend all seinen Grimm, wie Götz in beherztem Aufatmen aus voller Brust: »Freiheit, Freiheit, himmlische Luft!«

 

Man sah Schritt für Schritt den Morast der litterarischen Misère über dem Haupt des Unglücklichen zusammenbrechen. Man sah seine Dramen vergeblich an die Pforte aller Theater klopfen, wie seinerzeit die Opern Wagners. Infamie und kein Ende. Da schimpfte die »vornehme« Kritik über Theaterleiter und Publikum, welche allein der Fluch Apolls ob dem Untergang des Dramas treffe. Und die Presse etwa nicht? Man forscht umsonst begierig, was denn sie beitrage zur Förderung verkannter Dichter. Wer zu stolz ist und zu hoch steht, um jenen »vornehmen« Geistern schmeichelnd um den Bart zu gehn, wird von ihnen nach wie vor todtgeschwiegen. Man sah, wie der edle Dichter umsonst nach Jemandem suchte, der selbstlos für Andere eintrat. Nur Einer schien davon ausgenommen, der aber durfte mit Heine singen: »Schade, daß ich ihn nicht küssen kann, denn ich selbst bin dieser brave Mann.«

Jenes Gewirr von platter Bosheit, bübischer Dummheit und neidzerfressenem Größenwahn, das sich »litterarisches Leben« nennt, wurde hier einmal erschöpfend blosgelegt. Jeden Augenblick hörte man den Dichter heimlich die ironische Liebesbotschaft nach allen Richtungen der Windrose versenden: »Ich weiß alles.« Das genügt. – Da schwatzte dies Völkchen von »Größenwahn«, wenn tiefbeleidigtes Gerechtigkeitsgefühl sich gegen schnöde Verkennung und den eiteln Wahn der Modefexen empörte. Hier mochten die Worte der Schrift gelten: Sie haben Ohren, um zu hören, und hören nicht; sie haben Augen, um zu sehen, und sehen nicht.

Wer als Einer unter Myriaden stets die Sache und nie die Person im Auge behält, muß der Selbstübervortheilte bleiben, auf dessen Kosten sich alle Ohrwürmer mästen. Darum bildet den rechten Grundstein einer geregelten litterarischen »Carriére« die einfache Nützlichkeitslehre der Bismarckschen Diplomatie: »Do ut des«. Um die wahre Bedeutung und derlei Allotria mag sich die Nachwelt kümmern. Nachruhm! Leichen kann man nicht mehr füttern.

Die gefährlichste und verletzbarste Eitelkeit stellt nicht das eigene Selbstgefühl dar, sondern die Eitelkeit für einen Anderen z.B. der Mutter für ihren Sohn. Der wahre Dichter aber fühlt für seine Dichtung wie für ein Kind, das er gebar. Während der Dichterling immer nur sich selbst persönlich getroffen fühlt, wenn man seine Dichterei heruntersetzt, kränkt den Dichter ein ganz unpersönlicher unselbstischer Schmerz, wenn er sein Dichtungskind, dies von ihm losgelöste selbständige Wesen, von der kalten böswilligen Welt verstoßen und besudelt sieht.

An diesem Schmerz, der insofern komisch wirkt, als er sich Niemandem als unselbstisch begreiflich machen kann, ging der unglückliche Dichter langsam zu Grunde. Er faßte sich fortwährend gleichsam literarhistorisch auf und grübelte über seine Eigenart nach, als gelte es einen posthumen Essai für die Nachwelt zu schreiben. Andrerseits steigerte sich bei ihm die Unmöglichkeit, die tausend Theilsächelchen des Lebens zu berücksichtigen.

Wie oft werfen nicht beschränkte mittelmäßige Köpfe einem Kraftgeiste, der, von rastlosem Thatendrang dämonisch fortgerissen, immer nur das Ganze, nie die Theile bedenkt, haltlose Unruhe, unzeitigen Starrsinn, Widersprüche vor, während nur ihre eigene Mittelmäßigkeit sie auf der gewohnten Bahn des ebenmäßigen Vorwärtstappens erhält!

Schritt für Schritt sah man die tückische Nervenkrankheit hier vorrücken, welche den Unglücklichen in seiner Verbitterungs-Manie dem Wahnsinn und dem Selbstmord entgegentrieb. Er suchte gleichsam alle Abgründe auf und secirte sich und seine Nebenmenschen bei lebendigem Leibe. Der letzte Theil des Tagebuchs, in dem Monat vor seinem Tode geschrieben, enthüllte dies so recht.

 
Größenwahn
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